Hauser | Die Gewitterschwimmerin | E-Book | www.sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 431 Seiten

Hauser Die Gewitterschwimmerin

Eine bewegende Familiengeschichte zwischen NS-Vergangenheit und DDR
1. Auflage 2018
ISBN: 978-3-7325-5766-0
Verlag: Eichborn
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Eine bewegende Familiengeschichte zwischen NS-Vergangenheit und DDR

E-Book, Deutsch, 431 Seiten

ISBN: 978-3-7325-5766-0
Verlag: Eichborn
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Nominiert für den Deutschen Buchpreis 2018.

Tamara Hirsch lebt in einem Haus voller Erinnerungen und Schatten. Als ihre Mutter plötzlich stirbt, beginnt Tamara, die Fassade einer scheinbar perfekten Familie zu durchbrechen. Zwischen den Zeilen der Familiengeschichte offenbaren sich Spuren von Verfolgung, Verrat und Schmerz - von der NS-Zeit über das Exil bis in die DDR-Elite. Zwischen den Erinnerungen an einen autoritären Großvater, einen kompromisslosen Vater und eine schweigende Mutter, versucht Tamara, ihre eigene Stimme zu finden. Dabei taucht sie in dunkle Geheimnisse und schmerzhafte Wahrheiten ein, die ihr Leben und das ihrer Familie für immer verändern.

Eindrücklich, poetisch und kraftvoll erzählt Franziska Hauser die Lebensgeschichte der bezaubernd eigensinnigen Tamara Hirsch - erzählt damit die Geschichte ihrer eigenen Familie, eine Geschichte aus politischen und persönlichen Fallstricken.

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Autoren/Hrsg.


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2011


In den Himmel über der Terrasse blase ich Zigarettenrauch. Ein Sekundenbruchteil hat sich angefühlt wie die Ewigkeit, und es ist, als stünde ich hier seit Langem. Wie ein Wachwerden, ohne geschlafen zu haben. Warum bin ich geworden, wie ich nicht sein will?

Der Polizist fragt am Telefon, ob ich die Tochter sei von Adele Hirsch und ob meine Mutter gern Schnaps getrunken habe. Gestern Nacht habe sie nämlich beim Abbiegen einen Seitenspiegel mitgenommen, sagt er zögernd, als hätte er die Straftat selbst begangen. Zu Hause habe sie der Polizei mit einem Glas Weinbrand in der Hand die Tür geöffnet. Der Beamte holt tief Luft. »Die Kollegen mussten sie mitnehmen, aufs Revier«, und macht eine Pause, »zum Blutabnehmen«, sagt er so langsam und nachdrücklich, dass ich misstrauisch werde. Meine Mutter sei aufgeregt gewesen. Im Auto habe sie nach Luft geschnappt. Auf der Wache sei sie seinem Kollegen in die Arme gefallen und gestorben.

»Meine Mama ist tot?«, frage ich das Handy und lasse es mit der Stimme des Polizisten in meine Manteltasche fallen. Meine Mama ist tot, rufe ich aufs Meer hinaus in den tobenden Wind. Dass sie so plötzlich gestorben ist, überrascht mich seltsamerweise wenig. Nur mit dem handfesten Schmerz habe ich nicht gerechnet.

Eine fast Achtzigjährige nachts auf die Wache zu schleifen, das sei ja unmenschlich, sagt eine fremde Frau am Ostseestrand. Sie hat mir die blödsinnige Frage gestellt, ob alles in Ordnung sei. Ich würde nicht in der Öffentlichkeit heulen, wenn alles in Ordnung wäre.

Die Frau muss denken, ich hätte meine Mutter geliebt. Habe ich das?

Der Schmerz wird größer, als ich es für angebracht halte, als hätte ich ihn mein Leben lang in mir aufbewahrt. Und ich fürchte, er könnte sich nicht nur auf den Tod meiner Mutter beschränken. Ein Augenblick ist das, um die Trauer nachzuholen, von der ich nicht wusste, dass sie nachzuholen ist. Das Meer treibt mich an. Es donnert mir seine gewaltige Aufforderung rhythmisch entgegen: Nur zu! Nur zu! Nur zu!, sagt es unaufhörlich, und ich weine über alles, worüber ich mir das Weinen einmal verboten habe.

Ich setze mich in den Sand und muss gleichzeitig lachen, weil mir Adeles heimliche Schwäche für Männer in Uniformen einfällt. Im Arm eines Polizisten zu sterben muss ihr gefallen haben.

Während der Autofahrt über die leeren Landstraßen komme ich mir verwaist vor. Jetzt bin ich nicht nur ein Mensch ohne Schwester, sondern auch ohne Eltern. Die Straße verschwimmt vor meinen Augen. Ich fahre an den Rand. Hupende Autos fahren vorbei, darin fluchende Menschen. Die Trauer ist jetzt greifbar. Sie handelt von Dascha. Ich muss nicht für mich, sondern auch für meine tote Schwester um unsere Mutter trauern. Ihre Trauer kann ich deutlicher nachvollziehen als meine eigene. Als hätte sie sich meinen lebendigen Körper dafür geliehen, und Daschas Trauer ist unerträglich, mit einer solchen Trauer kann man nicht leben. Ich erkläre mir selbst wie einem Kind, das ich zu trösten habe: Es ist nicht meine Trauer, sondern Daschas. Wegen dieser Trauer ist sie tot. Ich bin nicht tot, und meine Trauer ist viel kleiner als Daschas.

In einem vorbeifahrenden Auto wummert ein Bass, als hätte das Auto ein vor Anstrengung pumpendes Herz. Über der Herbstlandschaft stehen die Wolken wie eingefroren. Die schweren unten, die leichten darüber. Manche sind strahlend hell, andere bleigrau und ernst. Weit hinten zieht sich eine Pappelreihe um einen See. Vielleicht lasse ich mein Auto auf der Landstraße stehen und laufe über das stopplige Feld in den Wald. Wenn Dascha verzweifelt war, machte sie es so. Dann musste ich sie suchen, musste sie rufen und hätte sie nicht immer so anschreien sollen, wenn ich sie gefunden hatte.

»Meinen Achtzigsten könnt ihr ohne mich feiern«, hat Adele an ihrem neunundsiebzigsten Geburtstag gesagt.

Jetzt liegt sie aufgebahrt mit Kerzen in einem hässlichen lila gestrichenen Zimmer. Von meinem Finger ziehe ich den Jadering ab. Der ist aus Tibet. Ich habe ihn aus Adeles Schmuckkästchen genommen vor ein paar Wochen und schiebe ihn jetzt auf ihren toten Mittelfinger.

Der Streit um den Ring war in den letzten Jahren die engste Verbindung zwischen uns. Ich wollte ihn unbedingt haben. Sie wollte ihn mir nicht geben, obwohl er ihr schon zu groß war, als ihre Finger noch lebten. Der Ring war ihr Zepter. Hätte ich ihn nicht haben wollen, hätte sie ihn nicht behalten müssen. Während ich vor ihrem leeren Körper stehe, kommt es mir nicht abwegiger vor, mit ihr zu reden als vorher. Ich habe geglaubt, wenn sie mir den Ring gäbe, wäre das ein Beweis ihrer Liebe. »Da war doch welche, oder?« Ich lege meine Hand auf ihren Brustkorb. »War da welche?«

Vielleicht hat mein Vater ihr den Ring geschenkt, als sie zusammen in Tibet waren? Vielleicht war der Streit um den Ring unser Streit um meinen Vater? Vielleicht ist es unsinnig, darüber nachzudenken. Genauso unsinnig, wie einem Toten etwas zu essen hinzustellen.

»So, jetzt kannst du mir den verdammten Ring selber geben«, sage ich zu der Leiche und ziehe ihn wieder ab. »Siehst du, geht doch!«

Zu Hause finde ich in Adeles Schreibtisch einen gelben Post-it-Zettel. Darauf steht: Ich hatte euch doch alle lieb. Aber es war wohl nicht genug. Nein, war es nicht!, antworte ich innerlich. So rede ich jetzt mit ihr. Meine Mutter spricht aus Zetteln, ich in Gedanken.

Henriette sieht auf das Papier und schüttelt betrübt den Kopf. Über Adeles Tod zu weinen, sagt sie, wäre ein Weinen über alles Mögliche, aber kein Weinen um ihre Oma. Deshalb würde sie es lieber lassen. Neulich habe sie heulen müssen, als im Barbie-Kinderfilm ihrer Tochter am Ende doch die richtige Prinzessin gekürt wurde. Dass Adele tot ist, mache ihr allerdings nichts aus. Maja fragt, ob wir Oma im rosa Plastesarg mit Filmmusik durch weißen Blütenregen tragen sollen, damit Henriette traurig sein könne.

Ich stelle mir vor, wie meine Mutter uns zusieht. Sie sieht, wie Henriette nicht trauert, obwohl sie es von sich erwartet hätte, und wie traurig ich bin, obwohl ich es nicht erwartet hätte.

Majas Trauer ist in Ordnung. Sie macht ein betrübtes Gesicht, manchmal weint sie ein bisschen. Sie kümmert sich, sammelt Adeles Unterlagen, sortiert, beschriftet, telefoniert.

Alte Menschen sitzen auf Adeles Gartenstühlen, ohne Adele. Sie schütteln ihre faltigen Gesichter, tätscheln mir die Schultern, sagen nette Sachen mit zitternden Stimmen. »Jetzt sind sie beieinander. Sie waren ein großartiges Paar.«

Henriette sitzt mit verschränkten Armen, missmutigem Blick und wippendem Knie auf der vorderen Kante des Klappstuhls. Ich hoffe, diese ungnädige Haltung nimmt sie nur in meiner Gegenwart ein. Sie kann unmöglich immer so sein. Gereizt fuchtelt sie mit den Armen. »Kann ja sein, dass die irgendwann irgendwo mal großartig waren. Aber vielleicht hätten sie ein bisschen mehr für ihre Töchter da sein sollen!«

Ich bin mir nicht sicher, ob sie mich verteidigt oder ob sie meine Kindheit schlechtmacht. Henriette muss Erfahrungen geerbt haben, von denen ich ihr nie erzählt habe. Jedenfalls wollte ich ihr davon nicht erzählen. Hab ich es doch? Was nicht erzählt wird, ist nicht aus der Welt. Das weiß ich selbst.

Frau Grünstein lacht und wirft den Kopf in den Nacken. »Na, so ein Blödsinn! Das waren wunderbare Eltern! Dass sie so viel reisen mussten, war ja nun nicht zu ändern.« Meine Mutter hat sich die Grünstein wie eine Pflegetochter gehalten. Sie war ihr heilig und schien der einzige Mensch auf der Welt zu sein, der meiner Mutter vertraute. Frau Grünstein hebt die beringten Hände. »Das war ein Künstlerhaushalt. Der Alfred hat seine Töchter sehr geliebt.« Henriette murmelt abfällig in ihren Kuchenteller, als hätte sie auf diesen Satz nur gewartet. »Bisschen zu sehr!«

Ich fühle mich gebrandmarkt. Abgelehnt von der ganzen Beerdigungsgesellschaft. Bloßgestellt von meiner Tochter.

»Könnt ihr über was anderes reden?«, rufe ich zu laut und zu scharf. Frau Grünstein schrickt zusammen. Henriette fängt an, altes Kerzenwachs vom Tisch zu kratzen.

Die wackligen Köpfe empören sich leise. »Üble Nachrede … Nestbeschmutzung …«

»So war’s aber!«, sagt unvermittelt die Grünsteintochter, die nie etwas sagt. Still und furchtsam sitzt sie sonst neben ihrer Mutter wie ein treues Tier.

Frau Grünstein sieht ihre Tochter entsetzt an. »Wie kannst du das sagen?«

»Mama, ich weiß es einfach.«

Ich gehe ins Haus. An der Nische vorm Bad kommt es mir vor, als ginge ich an dem dürren blonden Mädchen vorbei, das ich vor über vierzig Jahren gewesen bin und das in die dunkle Ecke gedrückt wurde.

In meinem Körper funktioniert etwas nicht richtig. Es fühlt sich an, als wäre mein Blut kälter als meine Haut. Ich sehe den betretenen Blick des vergangenen Kindes und weiß, es hat noch mehr dieser Erinnerungen aufbewahrt. Die soll es behalten. Kein Essen für Tote, kein Nachdenken über das, was nicht zu ändern ist.

Die Nischenwand werde ich herausreißen, wenn ich das Haus umbaue. Beim Verabschieden nennt mich eine der alten Frauen »Tara Hemde raus«. So soll ich mich selbst genannt haben, als Kind, behauptet sie. Ich erinnere mich an das Lied, das ich sang, wenn ich morgens im Unterhemd am Fenster stand und auf Irmgard, unsere Haushälterin und Kindermädchen, wartete, bis sie mit den Milchflaschen aus der Elfenallee kam. »In der Chamissostraße, da steht ein blaues Haus, da guckt die kleine Tara im weißen Hemde raus.« Mein Vater hatte das Lied für mich erfunden. Jetzt kommt es mir vor, als wäre das Warten am Fenster vor...



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