Hauser | Die Glasschwestern | E-Book | www.sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 430 Seiten

Hauser Die Glasschwestern

Roman
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-7325-9021-6
Verlag: Eichborn
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 430 Seiten

ISBN: 978-3-7325-9021-6
Verlag: Eichborn
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Dunja lebt mit ihren zwei Kindern und deren Vater in der Großstadt, ihre Zwillingsschwester Saphie in einem kleinen Dorf an der ehemals deutsch-deutschen Grenze. Als der Zufall auf irrwitzige Weise zuschlägt und innerhalb kurzer Zeit die Männer der beiden sterben, nähern die Schwestern sich einander wieder an. Dunja zieht in Saphies Hotel und damit zurück in die Welt ihrer Kindheit. Die Geschichte zweier sehr verschiedener Frauen und über die menschliche Fähigkeit, sich immer wieder neu erfinden zu können.

Ein Generationenroman aus dem ehemaligen Grenzgebiet, der alte Geschichten, Geheimnisse und Lügen zutage fördert und gleichsam ein Vergeben der Vergangenheit und Annehmen der Gegenwart ermöglicht.



Franziska Hauser, geboren 1975 in Pankow/Ostberlin, hat zwei Kinder. Sie studierte Fotografie an der Ostkreuzschule bei Arno Fischer und ist Autorin. Ihr Debütroman Sommerdreieck erhielt den Debütantenpreis der lit.COLOGNE und stand auf der Shortlist des aspekte-Literaturpreises. Ihr zweiter Roman Die Gewitterschwimmerin war für den Deutschen Buchpreis 2018 nominiert.
Hauser Die Glasschwestern jetzt bestellen!

Autoren/Hrsg.


Weitere Infos & Material


Einer Frau und einem Glas
drohet jede Stund’ etwas.


Keiner der anderen Restauratoren war je irgendwo runtergefallen.

Nur er.

Dunja hatte es einmal geträumt, und dann war es dreimal passiert. Beim ersten Mal hatte Winne sich den Kiefer, beim zweiten Mal den Arm gebrochen, und seine Kollegen nannten ihn seitdem »Der Auferstandene«.

Es steht auf einem blöden Foto, das am Spiegel im Flur hängt: Winne mit verdrehten Augen und heraushängender Zunge am Kreuz in einer Kirche. Wegen der losen Zähne musste er albernerweise jahrelang eine Zahnspange tragen. Wie sein Sohn.

Diesmal war es kein Loch im morschen Boden oder eine kaputte Empore gewesen, sondern der abgesperrte Balkon unterm Dach eines alten Fachwerkhauses, der ihn abwarf. Das Geländer hatte er selbst abgerissen. Von einer kleinen vereisten Pfütze unter dem pulverigen Schnee waren ihm die Füße weggezogen worden, und der Sims hatte sich nicht mehr greifen lassen, sondern Winne drei Stockwerke tiefer mit dem Genick auf eine kleine Steinmauer geschleudert.

Wie erschossen lag der Mann im Schnee, der wenige Sekunden zuvor entschieden hatte, einen Teil des geschnitzten Holzgiebels abzunehmen, ihn über den Winter in der Werkstatt zu restaurieren, neu zu bemalen und im Frühling wieder anzubauen. Der historische Balkon hatte entschieden, in diesem Jahr nicht mehr restauriert zu werden, und Winne einen Tritt gegeben.

Mutig war Winne nie gewesen. Auf Dächern fürchtete er sich. Nicht aus Höhenangst. Winne war schwindelfrei. Es lag daran, dass er sich nicht vorstellen konnte, was hinter ihm war. Winne hatte kein Gespür für seinen Körper. Er trat in Löcher, rutschte von abschüssigen Untergründen, stieß sich an Pfeilern und Balken, war gedanklich woanders, und manchmal dachte Dunja, Winne fühlte seinen Körper vollkommen anders, als er wirklich war. Er konnte komplizierte Balkenkonstruktionen entwerfen, und seine Berechnungen stimmten, aber sein kluger Geist war in eine stumpfe Hülle gesperrt. Seine körperlichen Sinne waren eingeschränkt. Als Kind hatte er kaum hören können, und man hatte ihn mehrfach operieren müssen. Farbenblind war er schon immer gewesen, und Dunja bezweifelte, dass er überhaupt einen Geschmackssinn hatte. An einem Partybuffet hatte Dunja ihn gefragt, ob es süß oder salzig sei, was er da aß. Er wusste es nicht. Er aß, was die anderen aßen.

»Lieber eine Tochter im Puff als ein Sohn beim Militär«, hatte Winnes Vater nur gesagt und war froh gewesen, dass die Wehruntauglichkeit seines Sohnes außer Frage stand.

Winne brauchte viel Körperkontakt, und Dunja hatte es für ein Zeichen überschwänglicher Zuneigung gehalten, dass er auf der Straße meist Hand in Hand gehen wollte. Aber Winne fühlte sich unsicher, wenn kein anderer Körper neben ihm war. Die Kinder hatte er lieber getragen, als sie im Wagen zu schieben. Dann war er gebückt hinter ihnen gegangen, als sie laufen lernten, die Kinderhände an seine Zeigefinger gehängt.

Mit dem toten Ex-Mann im Kopf will Dunja nicht einfallen, wo sie ihr Handy hingelegt hat. Sie ruft es mit dem Festnetztelefon an, und es klingelt im Bad. Auf der Waschmaschine vibriert das Handy, die Maschine schleudert, oder andersherum, aber nicht ihr eigener Name steht auf dem Display, sondern Saphies. Dunjas Schwester ruft an, und Dunja ist irritiert. Nichts stimmt mehr. »Saphie?« Ihre Schwester fängt sofort an zu reden und erzählt mit ungewohnt hoher Stimme, Gilbhart sei am Morgen vom Hometrainer gekippt und gestorben. Er habe mit dem Gesicht auf dem Teppich gelegen, wie umgehauen. Schlaganfall. Das ganze Hotel stehe unter Schock. Dunja hört ein fluchendes Jaulen, als würde die schleudernde Waschmaschine neben ihr die schwere Arbeit beklagen. »Das ist die Zimmerfrau«, sagt Saphie. »Saphiiiie!«, brüllt Dunja ins Telefon und schlägt die Tür des Badezimmers hinter sich zu. Saphie quietscht seltsam, und Dunja kann sich nicht vorstellen, welches Gesicht Saphie zu diesem Laut macht.

»Winne ist auch tot.« Sie macht eine Pause. »Vom Dach gefallen.« Es klingt wie ein Scherz. »Heute früh.«

»Was?«

Die Verbindung, die sie eben noch zueinander gesucht haben, wird zu einem schwarzen Loch und lässt die Schwestern wie zwei Sterne im All um Lichtjahre auseinanderrasen. Eine unheimliche Stille entsteht, und die Telefonleitung will nicht das leiseste Geräusch mehr übertragen.

»Aber, das ist doch total …« Saphie stockt. »Was?« Dunja sieht sich in ihrem Flur um. Irgendetwas muss diese beiden Tode veranlasst haben, denkt sie. Sie würde gerne fragen, was es sich verdammt noch mal dabei gedacht hat, ihren Ex-Mann und den Mann ihrer Schwester am selben Tag sterben zu lassen.

Das Schicksal hat ihnen gleichzeitig denselben Schlag erteilt und gesagt: Seht zu, wie ihr klarkommt, wenn ihr einander nicht helfen könnt.

Dunja kann nicht schlafen. Sie sieht auf die Uhr und denkt, sie müsste irgendetwas tun. Schließlich steht sie auf, setzt sich ans Küchenfenster und macht das Licht nicht an. Sie fühlt sich wie von einer Krankheit befallen, die sie bisher nie hatte. Obwohl sie nicht unglücklich ist, hat sie nichts gegessen, nur für die Kinder gekocht und gewusst, sie wird sich demnächst zum Essen zwingen müssen. Sie schaltet die Herdplatte an. Wie ein sich mit Lava füllendes Gesteinsloch beginnt der Cerankreis die Küche zu beleuchten. Sie starrt in dieses Rot, spürt die Hitze an ihrer Stirn und ist ganz erfüllt. Es gibt nichts Lebendigeres als den Tod, denkt sie. Das muss eine Anomalie sein, den Tod schön zu finden. Bestimmt ist es verboten. Kann man etwas tun gegen diese beglückende Empfindung?

Gilbharts Tod kommt ihr bemitleidenswerter vor als Winnes, obwohl Gilbhart keine Kinder hinterlässt. Winnes Tod passt zu seinem Leben, wie eine logische Folge. Mit großer Verbissenheit hatte Winne alles so schnell wie möglich erreichen wollen. Vielleicht hat er gewusst, dass er sich beeilen musste, weil sein Leben nicht sehr lang sein würde.

Sie schiebt den Topf mit dem kalten Gulasch über das Rot, bis es dunkel ist in der Küche. Das Schneeräumfahrzeug rasselt durch die leere Straße. So wird sich das Geräusch ins Unterbewusstsein fremder Kinder prägen, genau wie es sich ihren Kindern eingeprägt hat, als sie noch klein waren. Als sie noch einen Vater hatten, denkt Dunja jetzt und massiert sich das Gesicht mit beiden Händen.

Die Stadt ist leise im Schnee. Dunja kippt das Fenster an, und Schneegeruch weht herein.

Sie hört ein Knistern vom Herd, hat das Gulasch vergessen und hört die Katze nicht um die Tischbeine streichen. Dunja fischt ein Stück Fleisch aus dem Topf, lässt es fallen, die Katze riecht daran, schreckt zurück und schlägt es mit der Tatze. »Dummes Ding. Das beißt nicht. Das ist heiß!«

Plötzlich kann sie sich wieder genau daran erinnern, wie glücklich sie als Kind war über eine Katze. Ihr Leben hat seit Langem endlich wieder eine große Bedeutung. Es ist wie ein Rausch. Wie Berühmtsein. Nach diesem Gefühl sucht sie seit Jahren.

Winne wird die Familie nie mehr mit seiner ständigen Angst um das Überleben der Firma belästigen, er wird niemanden mehr auf sich warten lassen oder nicht anrufen oder enttäuschen, und er kann nie mehr irgendwo runterfallen.

Dunja sucht nach der Haltung, die zu diesem Tod passen könnte. Aber da passt keine. Da ist nur die Sorge um ihre Kinder und die Wut auf Winne, den Kindern einen solchen Schmerz angetan zu haben.

Zwei lange Tränen laufen über ihre rechte Wange, bevor eine halbe aus dem linken Lid quillt und in den Wimpern hängen bleibt.

Sie beschließt, Winne endgültig loszuwerden. Einen Toten kann sie in ihrem Leben nicht brauchen. Letztes Jahr wollte sie schon den lebenden Mann loswerden, und dann war er ausgezogen, und alles war langsam einfacher geworden. Sie ruft sich den Abend in Erinnerung, als Winne sie vor den Kindern dumme Sau nannte, weil er ein Werkzeug suchte und Dunja gestand, es einem Nachbarn geborgt zu haben. In Wutzuständen konnte er grenzenlos böse werden, und dann wuchs Dunjas Unschuld im selben Maße wie seine Schuld. Das Ungleichgewicht war irgendwann unerträglich geworden. Trotzdem wird sie mehr Tränen brauchen, um Winne von sich abzuspülen. Hoffentlich werden ihre Lider demnächst noch welche hergeben.

Jetzt kommt ihr schon zum zweiten Mal der Gedanke, Gilbhart könnte über Winnes Tod wieder anfangen zu trinken, bis ihr einfällt, Gilbhart ist auch tot. Der wird sich nie mehr betrinken.

Dunja kann sich Gilbhart schlechter tot vorstellen als Winne.

Sie hört, wie jemand ins Bad geht. Die Duschtür quietscht und wird zugedonnert. Es ist Augusta. Jules geht vorsichtiger um mit den Türen. Halb acht zeigt die Uhr am Herd. Augusta will offenbar zur Schule gehen, ihr normales Leben weiterführen, fürs Abi lernen, wie bisher, nur ohne Vater. Der Duschkopf fällt in die Wanne. Jedes Mal überlegt Dunja, ob es Ungeschicklichkeit ist, Gleichgültigkeit oder Absicht, dass Augusta alles fallen lässt. Am liebsten poltert ihre Tochter in Holzschuhen durch die Wohnung.

Ständig sagt jemand, wie froh Dunja sein könne, mit neununddreißig schon erwachsene Kinder zu haben. Aber Dunja hätte lieber wieder kleine Kinder. Kleinen Kindern könnte sie erzählen, ihr Vater sei im Himmel oder im Weltall oder im Paradies. Sie könnte ihnen den Tod erklären, und sie würden ihr alles glauben. Erzieherinnen und Lehrerinnen wären aus Mitleid besonders fürsorglich. Aber Dunja kennt weder Jules’ Professoren noch Augustas Lehrer und von ihren Freunden auch nur noch wenige.

Augusta lässt den Toilettendeckel zufallen. Dann hört Dunja den Föhn rauschen. Etwas fällt auf die Fliesen....



Ihre Fragen, Wünsche oder Anmerkungen
Vorname*
Nachname*
Ihre E-Mail-Adresse*
Kundennr.
Ihre Nachricht*
Lediglich mit * gekennzeichnete Felder sind Pflichtfelder.
Wenn Sie die im Kontaktformular eingegebenen Daten durch Klick auf den nachfolgenden Button übersenden, erklären Sie sich damit einverstanden, dass wir Ihr Angaben für die Beantwortung Ihrer Anfrage verwenden. Selbstverständlich werden Ihre Daten vertraulich behandelt und nicht an Dritte weitergegeben. Sie können der Verwendung Ihrer Daten jederzeit widersprechen. Das Datenhandling bei Sack Fachmedien erklären wir Ihnen in unserer Datenschutzerklärung.