E-Book, Deutsch, 336 Seiten
Henn Eine Prise Sterne
17001. Auflage 2017
ISBN: 978-3-492-97815-6
Verlag: Piper ebooks in Piper Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 336 Seiten
ISBN: 978-3-492-97815-6
Verlag: Piper ebooks in Piper Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Carsten Sebastian Henn, geboren 1973 in Köln, ist neben seiner Tätigkeit als Autor auch als Weinjournalist und Restaurantkritiker tätig. Viele erfolgreiche kulinarische Kriminalromane stammen aus seiner Feder, aber auch Liebeskomödien, Theaterstücke und ein Bilderbuch. Sein Roman »Der Buchspazierer« stand über zwei Jahre auf der SPIEGEL-Bestsellerliste, wurde allein in Deutschland über eine halbe Millionen Mal verkauft, in mehr als 30 Sprachen übersetzt und mit Christoph Maria Herbst in der Titelrolle verfilmt. Auch seine nächsten Romane »Der Geschichtenbäcker« und »Die Butterbrotbriefe« waren große Bestseller-Erfolge. Für seine literarischen Werke erhielt er mehrere Auszeichnungen.
Autoren/Hrsg.
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Kapitel 1
In dieser Nacht würden so viele Sternschnuppen über Köln fallen wie noch nie. Als sollten die Wünsche aller Stadtbewohner gleichzeitig erfüllt werden. Der Himmel über dem Rhein würde voller Lichter sein und Köln überraschende Bekanntschaft mit der Milchstraße machen. Doch bis all dies geschehen würde, sollte es noch siebenunddreißig Minuten dauern.
Marc ahnte nichts davon. Er saß schlecht gelaunt in der elften Etage des Hotels im Wasserturm und drehte kleine Kügelchen aus dem Papier seines Vortrags, um mit ihnen historische Sternbilder zu bilden. Sie zählten nicht zu den achtundachtzig von der International Astronomical Union akzeptierten, sondern waren längst verworfen worden. Marc mochte sie trotzdem, vor allem wegen ihrer Namen. Direkt vor ihm erstrahlte der »Heißluftballon«, daneben die »Buchdruckerwerkstatt« und fast am Rand des Tisches die »Katze«. Um sie herum legte er Kometenschauer.
Dies war der Abend, von dem seine Zukunft abhing, doch er wäre überall lieber gewesen als hier.
Marc blickte zu Henny, seiner Kollegin vom Radioteleskop Effelsberg, die ihn netterweise begleitet hatte. »Warum muss das hier unbedingt in der Nacht der Perseiden stattfinden? Das ist doch unglaublich!« Man nannte den Meteorstrom auch die Tränen des Laurentius. Er gehörte zu den eindrucksvollsten Schnuppenschwärmen. Doch er würde keine einzige Sternschnuppe zu sehen bekommen. »Mein nächster Bewerbungsvortrag findet dann am besten während einer totalen Sonnenfinsternis statt. Oder noch besser am Tag des Weltuntergangs!«
»Ich weiß jetzt langsam, dass es dich nervt. Du erwähnst es nämlich ungefähr alle fünf Sekunden.« Henny blickte in den Saal und lächelte ihr schönstes Lächeln. Das passte gut zu ihrem schönsten Kleid und ihren schönsten, viel zu engen, hochhackigen Schuhen. Eigentlich hieß sie Dr. Henriette Range und hätte auch viel lieber die Perseiden beobachtet. »Lächele endlich glücklich. Sonst denken die Chilenen noch, du willst lieber in der Eifel bleiben. Verbock das nicht! Ist schließlich die Chance deines Lebens.«
Marc lächelte. Es sah aus, als wäre ihm jemand auf den Fuß getreten. Dabei würde er, Dr. Marc Heller, der schlaksige Buddy-Holly-Brillenträger aus Köln-Lindenthal, der Mann, der es für seine größte Errungenschaft hielt, den Todesstern aus Lego in viereinhalb Stunden ohne Anleitung zusammengebaut zu haben, vielleicht schon mit zweiunddreißig Jahren den Zenit in der Welt der Astronomie erreichen. Indem er Leiter des ALMA wurde, des Atacama Large Millimeter/submillimeter Array, und damit des größten und teuersten Radioteleskops der Welt, in den chilenischen Anden auf dem Chajnantor-Plateau errichtet. Es empfing Millimeterwellen und sogar Submillimeterwellen. Auf fünftausend Metern Höhe war Luftverschmutzung ein Fremdwort, und man war dem Himmel ganz nah. Die Sterne glitzerten, als könnte man sie sich mit der bloßen Hand vom schwarzen Samt der Nacht greifen.
Gerade lobte der Vorstandsvorsitzende des ALMA, Dr. Juan Antonio Pizzi, seine herausragende Bewerbung. Ende sechzig und von kleinem Wuchs, machte Pizzi mit grellen Farben wett, was ihm an Größe fehlte. Er liebte knallbunte Krawatten und farblich darauf abgestimmte Schuhe. Heute war Rot angesagt. Pizzi galt als Enfant terrible der astronomischen Gemeinschaft, aber ebenfalls als brillanter Geist.
»Als wir einen Mann seines Alters in die Endrunde der Bewerber beriefen, waren fast alle Fachleute …«, er legte eine dramatische Pause ein, in der er die rechte seiner buschigen Augenbrauen langsam nach oben zog, »… kein bisschen überrascht!«
Pizzi erntete wie erhofft Lacher.
Nur von Marc nicht, der aus den Fenstern hinaus in die Nacht über Köln blickte. Er hasste es, im Mittelpunkt des Interesses zu stehen. Man wurde nicht Astronom, weil man die Einsamkeit verachtete und stattdessen lieber vor vielen Menschen sprach. Marc würde es vor Henny nie zugeben, aber er hatte unfassbare Angst, die sich gerade in seinem Inneren verteilte wie dunkle Tinte in einem Wasserglas.
»Wenige Menschen sind so sehr den Sternen verbunden wie er. Marc Heller verbindet ein Herz für die Sterne mit dem Intellekt für ihre Erforschung. Als stellarer Archäologe steht er an vorderster Front der Erforschung unserer ältesten Gestirne. Kaum jemand blickt weiter in der Zeit zurück als er, fast bis zum Urknall. Es war sein untrüglicher Instinkt, der zu einer spektakulären Entdeckung führte, die eigentlich gar nicht in sein Forschungsgebiet fällt: eines neunten Planeten im Sonnensystem, der etwa zehnmal so massereich wie die Erde ist. Dieser äußerste, echte Planet braucht für den Umlauf um die Sonne zehn- bis zwanzigtausend Jahre – sein Vortrag wird sicher kürzer dauern, aber viel unterhaltsamer sein. Meine Damen und Herren, begrüßen Sie bitte mit mir den Mann, der möglicherweise in einem Jahr das ALMA übernehmen wird: Marc Heller!«
Henny stupste den neben ihr in seinen Papierkugel-Konstellationen versunkenen Marc mit dem Ellbogen an. »Dein großer Auftritt. Und für jedes Mal wenn du rausguckst, esse ich dir einen von den Snickers aus deinem Geheimvorrat in Effelsberg weg.«
»Woher weißt du von dem …?«
»Später! Jetzt rock den Saal!«
Marc schaute nochmals durch die dunkle Fensterfront. Ein Wunder, nur ein winzig kleines, mehr verlangte er gar nicht vom Leben. Zum Beispiel, dass ein Meteor in Köln einschlug, das Stromnetz zerstörte und so den Blick auf den Nachthimmel freigab. War das etwa zu viel verlangt? Marc wartete kurz, stand dann enttäuscht auf, als nichts durch das Dach krachte.
»Ein Snickers ist schon gegessen«, sagte Henny.
Marc trat ans Mikrofon des Rednerpults. Stellte es quietschend auf seine Höhe ein. Dann wieder herunter. Abermals hoch. Er zupfte an seinem Hemdkragen. Das Sakko schien falsch zu hängen. Er zog es gerade. An allen Seiten.
»Fang an!«, zischte Henny.
Marc nickte. »Eine der wichtigsten Folgen der britischen Science-Fiction-Serie Doctor Who heißt Der zehnte Planet. Bei Nummer neun sind wir jetzt schon.«
Wenn das kein super Einstieg war.
Henny schlug sich vor die Stirn, und Marc wusste, warum. Sie hatte ihm gestern eine Liste zugemailt mit Dingen, die er auf keinen Fall erwähnen sollte: Doctor Who, Star Wars, Star Trek, Firefly, Plan 9 aus dem Weltall sowie, und das dreimal dick unterstrichen, die Perseiden.
»Ob in Star Wars oder Star Trek, das Auftauchen eines neuen Planeten wäre in jedem Universum eine Sensation. Mancher hält es vielleicht für so unglaubwürdig wie den berühmten Plan 9 aus dem Weltall …«, Marc hörte das wiederholte Klatschen von Hennys Hand gegen ihre Stirn, »… aber oft ist das Unglaubwürdige nur das, was wir noch nicht kennen. Was werden die Menschen wohl gedacht haben, als sie erstmals die Perseiden sahen, die auch in dieser Nacht wieder die Erde passieren?«
Hennys Kopf knallte auf den Tisch.
Ohne auch nur einmal in den Saal zu sehen, las Marc weiter sein Manuskript vor und blätterte dann zur nächsten Seite.
Doch die existierte nicht.
Oder nur noch in Form von Papiersternen an seinem Platz.
Auf Seite zwei hatte er alle Zahlen zu seiner Forschung zusammengetragen. Marc starrte einige Sekunden vor sich auf das Pult, dann blickte er auf und versuchte, ein Lächeln zustande zu bringen. Teile seines Gesichtes weigerten sich jedoch mitzumachen. Er verbockte tatsächlich gerade die Chance seines Lebens.
Ein Murmeln war aus dem Saal zu hören, das mit jeder Sekunde anschwoll, wie ein sich näherndes Gewitter. Pizzi blickte demonstrativ auf seine rote Armbanduhr. Marc spürte die Blicke auf sich haften, als wären es Blutegel, die weitere Kraft aus ihm saugten.
Er prüfte noch einmal das Manuskript, aber die Seite blieb verschwunden. Dann suchte er auf dem Boden, obwohl ihm natürlich klar war, dass die Seite in kleinen Kügelchen auf dem Tisch lag. Zusammenkleben ausgeschlossen.
Tief Luft holend blickte er auf. Als Astronom wusste er: Wenn ein Stern erlosch, konnte man absolut nichts machen. Es dauerte nur immer etwas, bis alle es mitbekamen.
Der Zeitpunkt im Saal war genau jetzt.
Er würde also in der Eifel bleiben. Das Radioteleskop Effelsberg gehörte zu einem Ortsteil Bad Münstereifels mit hundertneunundsechzig Einwohnern. Nachts war das beruhigende Summen des sich ausrichtenden Hundert-Meter-Parabolspiegels das einzige Geräusch. Hase und Igel sagten sich hier nicht gute Nacht, denn selbst ihnen war es schlicht zu einsam. Er würde für immer dort bleiben. Diese Schmach würde sich in der astronomischen Szene herumsprechen, und keine Universität blamierte sich gerne mit einem ihrer hochrangigen Wissenschaftler.
Das Murmeln war nun durchsetzt mit mürrischen Worten.
Marc wollte etwas Entschuldigendes sagen, doch er bekam den Mund nicht auf. Sie starrten ihn nun alle fassungslos an.
Er würde einfach gehen.
Aus dem Saal. Aus dem Hotel. Aus Köln. Einfach gehen. Nicht zurückschauen.
Seine Hände ließen die einzige noch existierende Seite des Manuskripts los.
Er wollte gerade gehen, als die Lichter ausgingen.
In der elften Etage.
Im ganzen Hotel im Wasserturm.
In der Kölner Altstadt.
Dann zog die Dunkelheit immer weitere Kreise. Die Stadtteile Bayenthal, Raderberg und Sülz verloren ihr Licht. Nicht nur die Häuser, auch sämtliche Werbeanzeigen, die Straßenlaternen, alle Ampeln, nur das...




