E-Book, Deutsch, 352 Seiten
Reihe: Dragonfly
Herbst Wenn heute unser Morgen wäre
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-7488-0300-3
Verlag: Dragonfly
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Eine gefühlvolle own-voice Geschichte | Slow Burn Romance über Verlust, Identität und den Mut, das Leben beim Schopf zu packen
E-Book, Deutsch, 352 Seiten
Reihe: Dragonfly
ISBN: 978-3-7488-0300-3
Verlag: Dragonfly
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Eine gefühlvolle Slow Burn Romance über Verlust, Identität und den Mut, das Leben beim Schopf zu packen
Für Grace war Musik schon immer ein Mittel, um auch die dunkelsten Zeiten in ihrem Leben zu überstehen. Deshalb ist das Musikprojekt an ihrer Schule für sie auch das Highlight des Jahres - bis sie ausgerechnet mit Callum zusammenarbeiten soll. Callum, der arrogante Überflieger, für den nur seine Noten zählen und der jedes Opfer bringt, um in die Fußstapfen seines erfolgreichen Vaters zu treten. Doch Graces Lebensfreude und ihr unbedingter Wille, jedem Tag so viel Glück wie möglich abzuringen, bringen Callums abweisende Fassade nach und nach zum Bröckeln. Und während die Gefühle der beiden füreinander wachsen, versucht Grace verzweifelt ein Geheimnis zu verbergen, das Callum den Boden unter den Füßen könnte ...
Sophie Herbst wurde 1994 in Magdeburg geboren. Nach ihrem Abitur arbeitete sie kreativ mit Kindern und Jugendlichen in der Theaterpädagogik des Theater Magdeburgs, schrieb erfolgreich Songtexte und studierte Literatur- und Medienwissenschaft. 2015 erkrankte Sophie mit gerade einmal 21 Jahren an einem seltenen Krebstumor, der ihr fast das Lachen und ihr Leben genommen hätte. Seit 2017 engagiert sie sich deshalb öffentlich für andere junge Betroffene und rief 2018 den Krebsgeflüster-Podcast ins Leben. Seit dem Jahr 2022 unterstützt sie andere Autorinnen und Autoren als Lektorin bei ihren Buchprojekten.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Kapitel 1
Bitter Sweet Symphony
Callum
Manchmal ist es schwer zu sagen, ob man gerade am Anfang oder am Ende von etwas steht.
Ich presse die Zähne aufeinander, bis sie knirschen. Nervosität frisst sich durch meine Eingeweide. Mit einem flauen Gefühl im Magen spähe ich zu meinem Schreibtisch hinüber, wo sich der Lernstapel der letzten Tage auftürmt. Wenn ich heute Nachmittag beginne, ihn abzuarbeiten, wird mein Kopf wieder klarer werden.
Tief einatmend streiche ich mir die Haare zurück. Sie sind genauso dunkelblond wie die meiner Mutter, als ich sie das letzte Mal gesehen habe. An dem Tag, an dem sie beschloss, Dad und mich zu verlassen. Lange habe ich versucht, ihr mit dem Verständnis zu begegnen, das Dad nie für sie hatte. Bis ich begriffen habe, dass sie auch mich zurückgelassen hat und nie wiederkehren wird.
Es war ein grauer, regnerischer Morgen. Bis heute erinnere ich mich an den Duft von nassem Laub, der durchs Fenster hereindrang, an den der heißen Schokolade, die sie in einer großen Tasse vor mir auf den Tisch gestellt hat … und an die Regentropfen auf den Fenstern. Meine Mutter fand, im Gegensatz zu meinem Vater, immer die richtigen Worte. An diesem Tag jedoch ging sie, gehüllt in Schweigen. Ohne einen Abschied.
Ich erschaudere. .
Entschlossen straffe ich die Schultern, schüttele den Callum ab, den ich lange hinter mir gelassen habe, wickele die Krawatte enger um meinen Hals und prüfe meine Schuluniform im Spiegel. Dabei ziehe ich wie zur Übung die Mundwinkel nach oben, bis sie wie eingemeißelt in meinem Gesicht wirken.
Ich seufze tief. Ich mag keine Veränderungen und noch weniger Überraschungen. Wenn es nach mir ginge, könnte dieses Trimester wie alle anderen davor verlaufen. Doch leider fragt mich niemand nach meiner Meinung. Alle Zehntklässler an der St. Doyle sind verpflichtet, am -Projekt teilzunehmen. Als ließen sich allein dadurch überwinden, dass sie uns, die sich das Schulgeld an der Privatschule leisten können, und die Stipendiaten neun Wochen lang in Zweierteams zusammenbringen. Ich habe keine Ahnung, welches Projekt und welchen Partner ich bekomme, und das macht mich nervös. Außerdem habe ich Besseres mit meiner Zeit zu tun.
Noch ein letzter Blick in den Spiegel. Die Krawatte passt makellos zu der Schuluniform, bestehend aus Anzughose, weißem Hemd und einem Jackett in milk-tea-brown. In dem Outfit könnte ich auch in Dads Kanzlei aufschlagen und sofort mit der Arbeit beginnen. Unglücklicherweise stecke ich noch anderthalb Jahre an der St. Doyle fest.
Ich greife nach der Aktentasche, die unter meinem Schreibtisch in der Ecke steht, hänge sie mir über die Schulter und verlasse mein Zimmer. Schon auf der obersten Treppenstufe höre ich Dad aus dem Wohnzimmer. Wahrscheinlich telefoniert er mit seinem neuen Klienten. In den letzten Wochen hat er – in den paar Minuten, die wir uns gesehen haben – von kaum etwas anderem gesprochen als von diesem Fall, der die Kanzlei wieder mal ins Rampenlicht katapultieren wird.
»Morgen«, sage ich, lasse die Aktentasche zu Boden sinken und begrüße meinen Vater mit einem knappen Nicken. Er sitzt mir gegenüber, am anderen Ende des weißen Hochglanztisches, auf dem, abgesehen von unseren Tellern und Tassen, nichts steht.
»Gut geschlafen?«, fragt Dad, nachdem er sein Telefonat beendet hat. Seine Hände streichen erst über seinen Armani-Anzug, dann über den perfekt gestutzten Dreitagebart. Ohne zu mir aufzusehen, zieht er das iPad neben seinem Teller zu sich heran und tippt darauf herum. Keine Sekunde später ist er, wie ich annehme, wieder in die Fallakte vertieft. So ist er, ein Macher. Nachdem meine Mutter uns verlassen hat, war er da. Er hat sich um seine Karriere gekümmert und gleichzeitig in meine Zukunft investiert. Er hat mir gezeigt, dass sich Verluste leichter verkraften lassen, wenn man ein Ziel verfolgt. Sicherheit gewinnt.
»Die Nacht war okay«, lüge ich und schlinge ein paar Happen Toast und Bohnen runter, bevor ich den Stuhl zurückrücke.
»Wo willst du hin?« Endlich blickt Dad auf. »Du hast deinen Tee nicht angerührt.«
Normalerweise ist das unser Ritual, wenn Dad ausnahmsweise zum Frühstück zu Hause ist. Wir trinken Tee und reden über seine aktuellen Fälle. Nur heute nicht.
»Keine Zeit«, sage ich und deute zur Uhr. »Das Schulprojekt. Du weißt schon.« Genervt schnalze ich mit der Zunge. Auf Dads Stirn erscheint die kritische Falte, die bedeutet, dass er längst vergessen hat, worum es geht.
»Das Projekt, Dad«, betone ich und imitiere eine Kotzgeste.
»Oh.« Weitere Falten graben sich in Dads Haut, rund um den Mund und die Augen. »Sie halten tatsächlich daran fest, ja?«
»Jap«, sage ich knapp und greife mir meine Tasche. »Zehnjähriges Jubiläum. .«
»Man sollte meinen, dass eine der renommiertesten Privatschulen bei der Ausbildung ihrer Schüler andere Prioritäten setzt …« Dad schüttelt den Kopf. »Das nächste Jahr ist euer letztes. Aber ich gehe davon aus, dass du trotzdem dein Bestes geben wirst. Und vielleicht wirst du ja dem Rechtsprojekt zugeteilt.« Dads Mundwinkel offenbaren den Ansatz eines zufriedenen Lächelns. »Das würde sich gut in deinem Lebenslauf machen.«
»Absolut«, erwidere ich wie eine Schallplatte, die seit Monaten das gleiche Lied abspult.
Dad widmet sich wieder dem Tablet. »Sieh einfach zu, dass du am Ende des Trimesters einen einwandfreien Schnitt vorweisen kannst. Dann stehen dir alle Türen offen.« Sein Handy klingelt wieder, weshalb ich beschließe, dass es Zeit ist, aufzubrechen.
Im Flur – der genauso makellos weiß und mit Hochglanz-Möbeln bestückt ist wie der Rest unseres Hauses – schlüpfe ich in meine Jacke und Schuhe. »Bis dann, Dad«, rufe ich ins Wohnzimmer. »Drück mir die Daumen, dass ich diesen verfluchten Tag überlebe.«
Mein Vater reagiert nicht.
Ich trete nach draußen auf die Veranda. Kalter Oktoberwind peitscht mir ins Gesicht. Die kühle Brise sorgt dafür, dass mein Kopf klarer wird und die dunklen Gedanken sich in Luft auflösen.
Selbst für Brighton-Verhältnisse ist der Herbst in diesem Jahr klirrend kalt und nass. Während ich die Marmortreppe runter- und durch den Vorgarten laufe, begleiten mich die weißen Atemwolken vorm Gesicht und ich beruhige meine Gedanken. Dieses Schulprojekt ist bloß ein kleines Kapitel in meinem Leben, einem großen Buch mit einer hoffentlich langen Geschichte.
Später wird es nicht mal mehr eine Erwähnung wert sein.
* * *
Vor dem Schultor der St. Doyle versammeln sich bereits ein paar Mitschüler, die Platz machen, sobald ich an ihnen vorbeischlendere. Manchmal ist es anstrengend, einen Staranwalt als Vater zu haben, der ständig omnipräsent in den Medien ist. Hier vertritt er einen berühmten britischen Schauspieler bei einem Scheidungsskandal, da einen Fußballer, der sich einen Fehltritt erlaubt hat. Und auf magische Weise schafft Dad es immer, das bestmögliche Ergebnis rauszuholen. Für seine Klienten – und für sich. Während Dad den Ruhm genießt, engen mich die Blicke meiner Schulkameraden eher ein. Ich fühle mich wie auf dem Präsentierteller.
Ohne auf die anderen zu achten, winke ich ein paar Jungs aus dem Fußballteam zu, die ich später beim Training sehen werde. Mich verbindet sonst nicht viel mit ihnen, bis auf die Tatsache, dass unsere Eltern das Schulgeld aus eigener Tasche zahlen, im Gegensatz zu den Stipendiaten.
Einige von ihnen lachen ausgelassen. Ich frage mich, wie es ist, zur Schule gehen zu können, ohne diesen Druck hinter der Stirn und im Hals zu spüren. Wie es sein muss, ohne das Ziehen im Magen das Schulgelände zu betreten.
»Erde an Callum?« Will hat sich in mein Sichtfeld geschoben und schnippt mit seinen Fingern vor meinem Gesicht herum, sodass ich zusammenzucke. Ich war so in Gedanken vertieft, dass ich seine Ankunft nicht bemerkt habe. »Träumst du etwa schon von den nächsten neun Wochen?«
»Too soon. Too soon«, brumme ich angesichts seines Jokes, und mein bester Freund klopft mir grinsend auf den Rücken. Voller Herzlichkeit, während ich die Geste steif zur Begrüßung erwidere.
»Hey, stell dir vor, wir werden zusammengesteckt. Dann hättest du mich die ganzen nächsten neun Wochen auch nach der Schule an der Backe. Das wäre doch was, oder? Vor allem, weil ich mittlerweile fast betteln muss, damit wir eine Runde zocken.« Will malt einen unsichtbaren Heiligenschein über seinen Kopf, zieht einen Schmollmund und klimpert übertrieben mit den Wimpern. Ich boxe ihm gegen die Schulter und er taumelt zurück, den Mund zu einem noch breiteren Lachen verzogen. Das ist Wills Superkraft. Er kann selbst eine unerträgliche Situation erträglicher machen.
»Was ist eigentlich mit nächster Woche?« Mein bester Freund setzt sich in Bewegung, und ich folge ihm durch den weiten Vorgarten.
»Keine Zeit«, antworte ich und wage es nicht, Will direkt anzusehen. Stattdessen fixiere ich das Schulgebäude, als wäre es das Interessanteste auf der Welt. Mein Lebensmittelpunkt.
»Ernsthaft? Mann …« Wills Schultern sinken ein Stück herab. »Ich dachte, du könntest endlich mal meine Meisterwerke bestaunen. Außerdem...




