Hesselholdt | Vivian | E-Book | www.sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 208 Seiten

Hesselholdt Vivian


1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-446-26686-5
Verlag: Hanser Berlin in Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, 208 Seiten

ISBN: 978-3-446-26686-5
Verlag: Hanser Berlin in Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Ein vielschichtiges, zutiefst inspiriertes literarisches Porträt über die rätselhafte Straßenfotografin Vivian Maier. Christina Hesselholdt schreibt den ersten Roman über diese radikal unabhängige Frau.
Als sie im Jahr 2009 stirbt, ist Vivian Maier eine einsame, verarmte Frau, die praktische Männerschuhe bevorzugte und skurrilerweise ständig eine Kamera bei sich trug. Kurz darauf avanciert sie posthum zur genialen Straßenfotografin: In ihrer Wohnung findet man einen riesigen Bilderschatz - an die 200.000 Fotos hat Vivian Maier über die Jahre aufgenommen, die meisten davon jedoch nie entwickelt. Wer war diese Frau, und was hat sie dazu bewogen, ein fotografisches Werk zu schaffen, ohne es je sichtbar zu machen? In Vivian geht Christina Hesselholdt der Faszination dieses Mysteriums nach. Ihr Roman ist ein vielschichtiges, zutiefst inspiriertes literarisches Porträt einer radikal unabhängigen Frau.

Christina Hesselholdt, geboren 1962, gilt als eine der außergewöhnlichsten Stimmen der zeitgenössischen dänischen Literatur. Ihr Werk wurde vielfach ausgezeichnet, zuletzt (2018) mit dem Grand Prize of the Danish Academy. 2018 erschien ihr Roman 'Gefährten', 2021 das Roman-Porträt 'Vivian' bei Hanser.
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ERZÄHLER

Und jetzt ein gewaltiger Sprung ins Jahr 1968.

MR. RICE

Als ich zum Bahnhof fuhr, um sie abzuholen, dachte ich an meine früheren Kindermädchen, und in meinem Körper breitete sich ein wohliges Gefühl aus, von warmen Busen und Armen, die mich umfingen, der ganzen Leibesfülle, die über mich gebeugt wurde, um mich hochzuheben und an sich zu drücken, und die mir immer nur Gutes wollte. Ich war Vivian Maier noch nicht begegnet, Sarah hatte das Vorstellungsgespräch mit ihr allein geführt. Wir wollten dieses Mal ganz sichergehen, die richtige Wahl zu treffen, und auf Sarah hatte sie einen sehr guten Eindruck gemacht (Maier selbst interessierte sich vor allem dafür, ob es eine schnelle Verbindung von uns in die Stadt gab), und sie war kaum bei uns eingezogen (und ich noch auf Geschäftsreise), da starb ihr Vater, und sie musste wieder aufbrechen, um zu seiner Beerdigung zu fahren.

ERZÄHLER

Der Bahnsteig leerte sich, die Möglichkeiten schrumpften, nur sie stand noch dort, hochgewachsen und schmal wie ein Stock, soeben mit dem Vier-Uhr-Zug aus New York eingetroffen, fast ohne Gepäck, und Mr. Rice’ süße Träume (von einem molligen Kindermädchen in einem kurzen Kleid mit Volants und vielleicht auch einer Schürze, immer zum Greifen nah, wie eine Glühbirne, nein, ein Lagerfeuer im Zimmer neben Ellens Zimmer, während Ellen schlief oder im Garten spielte, und er hatte lange Hände, ganz gleich, wo im Haus sich das Kindermädchen gerade befand, würden seine Hände herbeiwachsen, ihre Schenkel hinauf- und um ihre Hinterbacken ranken, und da ragt doch glatt ein Arm aus dem Ausschnitt hervor, wo kommt der bloß her) waren im Nu verflogen.

MR. RICE

Ich will nicht behaupten, dass ich den Kopf in den Nacken legen musste, um sie anzusehen, aber es war kurz davor, und nachdem ich eben noch in Kindheitserinnerungen versunken gewesen war, verwirrte es mich, dass sie größer war als ich (als wäre ich noch immer ein Kind).

Mein herzliches Beileid, sagte ich und ging ihr mit ausgestreckter Hand entgegen. Aufgrund ihrer Größe erwartete ich instinktiv ein nachdrückliches Zupacken, aber ihr Händedruck war feucht und flau, »Vivian Maier«, sagte sie, »nennen Sie mich einfach Viv.« Das klang sprunghaft, wie eine, die weg war, ehe man es sich versah, Viv und weg. Wie gesagt hatte sie kaum Gepäck dabei — zu diesem Zeitpunkt, wohlgemerkt, ich verspreche, dass es nicht dabei blieb —, einen Handkoffer, eine Schultertasche und eine Boxkamera, die auf Bauchhöhe an einem Riemen von ihrem Hals baumelte, eine Rolleiflex, wie ich sie mir auch immer gewünscht hatte. Wir stiegen ins Auto und sprachen über das, woran wir unterwegs vorbeifuhren. Sie arbeitete seit 1956 in Chicago, wir hatten uns auf ihre Annonce in der Chicago Tribune gemeldet.

ERZÄHLER

Sie war schon Ende der vierziger Jahre in Chicago gewesen, um ihren Bruder Carl in einer Nervenklinik zu besuchen. Als seine Großmütter starben, brach er völlig zusammen. Er brauchte eine Stunde, um den Apfel zu essen, den sie ihm mitgebracht hatte. Er war vor lauter Medizin wie gelähmt. Als er vom Stuhl aufstand und Vivian zu der verschlossenen Tür begleitete, bewegte er sich ruckartig, das Einzige, was er sagte, war »ich bin so schmutzig«.

MR. RICE

Ein Stück entfernt lag ein Pferd im Rinnstein, um den Kopf eine Blutlache, sie kurbelte die Scheibe herunter und machte ein Bild davon. Ich vermute, es hatte sich auf dem Weg zum Schlachter befunden, und die Heckklappe war aufgegangen, sodass das Pferd bei hoher Geschwindigkeit herausgeschleudert worden und auf dem Boden aufgeschlagen war und so dem Schlachter entronnen. Und dann hatte man es einfach liegen lassen, innerhalb eines Augenblicks ungenießbar, unbrauchbar geworden. Das große tote Auge auf das eigene Blut gerichtet. Eine Pferdekutsche fuhr vorüber, und das Zugpferd würdigte den leblosen Artgenossen keines Blickes, ach so, es trug Scheuklappen, aber es musste das tote Pferd doch wohl riechen können; es war und blieb trotzdem gleichgültig, ein richtiger Großstadtgaul. Ich erinnerte mich, einmal gelesen zu haben, dass man ein Pferd nicht dazu bewegen könne, aus einem Eimer zu trinken, in dem einmal Blut gewesen ist, eine seltsam ungenaue Information, denn irgendwann musste der Eimer doch aufhören, nach Blut zu riechen.

»Mein erstes Foto in Chicago heute.«

Es war Sonntag, auf den Straßen herrschte nicht viel Verkehr. Jedes Mal wenn sie ansetzte, ein Foto zu machen, drosselte ich das Tempo oder hielt ganz an. Das wusste sie zu schätzen. Sie war pfeilschnell und sehr sicher. Es versteht sich von selbst, dass man seine Umgebung gewissermaßen mit anderen Augen wahrnimmt, wenn man mit einem Neuankömmling unterwegs ist, noch dazu einem so eifrig knipsenden. Hätte ich die alte Dame bemerkt, die mitten auf ihrer schmalen, kurzen, zwischen Wohnblöcken eingezwängten Parzelle stand, einst Garten, jetzt Aufbewahrungsort für alte Fenster und anderes Gerümpel, die Erde kahl bis auf ein paar vertrocknete Büsche, und hätte darüber nachgedacht, wie der Garten wohl ausgesehen hatte, bevor die Dame so alt geworden war? Wie alles, was man so fleißig aufrechterhalten hat, zu einer Müllkippe verkommen kann, ohne dass einem etwas anderes übrigbleibt, als seinen Stock zu greifen und in den Verfall hinauszuhumpeln und dazustehen und alles noch mehr zugrunde gehen zu sehen. An dieser Stelle musste ich an Sarah und ihre Besessenheit von unserem Garten denken. Ich finde, sie ist zu jung, um so viel Zeit dafür zu verschwenden. Ich verbinde Gartenarbeit mit einer späteren Lebensphase. Meine Mutter war älter, als sie anfing, ihre Rosen vorzuzeigen; selbst längst verblüht. Oder hätte ich vor einem anderen Wohnblock den Sichtschutz entdeckt, der aus lauter Türen gebaut war, ein Zaun aus Türen, einige von ihnen noch mit Klinken, sodass man sie unweigerlich als Eingänge auffasste und sie wie die Kulisse einer Komödie wirkten, in der die Schauspieler ständig durch eine dieser Türen ein und aus gingen und derjenige, den sie suchten, immer gerade durch eine andere entwischt war.

»The Kodak Girl«, sagte ich zu ihr.

ERZÄHLER

Damit spielte er auf jene Mädchen und Frauen an, die seit dem Ende des 19. Jahrhunderts für Kodak geworben hatten. Sie sollten zeigen, dass eine Kodak sogar für Frauen leicht zu bedienen war, sollten sich bei den weiblichen Kodak-Kundinnen anbiedern, sollten als freie Vögel in der Natur dargestellt werden, mit der Kamera um den Hals, dabei mal ihre eigene Version der Wirklichkeit einfangen, mal bereits existierende Kodak-Momente, und gleichzeitig zur Befreiung des Heimchens am Herd beitragen und zur Möglichkeit, auf eigene Faust draußen unterwegs zu sein, ohne den Schutz eines männlichen Begleiters. Tatsächlich ist das jährlich wechselnde Kodak Girl in den allermeisten Werbungen allein zu sehen.

Vielleicht hatte diese Werbung für sich genommen aber nicht ausgereicht, denn in einem Artikel aus Popular Photography mit dem Titel »Sind Frauen allergisch gegen Fotografie?« kann man folgenden Aufruf lesen: »Frauen, befreit euch selbst aus dem Exil und freundet euch mit euren Kameras an! Die Welt wartet auf den Blick der Kamerafrau.«

MR. RICE

»Nein, der Rolleiflex-Mensch«, antwortete Viv.

»Es würde mich freuen, einmal die Fotos zu sehen, die Sie gerade gemacht haben.«

Sie antwortete, sie lasse sie gar nicht immer entwickeln, weil das zu teuer sei.

»Und außerdem habe ich sie ja gesehen«, sagte sie und klopfte auf die Boxkamera, »hier unten.«

»Warum entwickeln Sie sie nicht einfach selbst?«

Das habe sie auch schon probiert, aber es mache ihr keinen Spaß. Kurz darauf fügte sie hinzu: »Ich kann nur Sachen gut, die mich auch interessieren.«

Ich sagte, dann hoffte ich, dass sie sich für Kinder, Kochen und Hausarbeit interessiere. »Na ja, Kinder schon«, erwiderte sie.

MRS. RICE

Wenn ich schon eine Weile mit einem Mann ins Bett gehe (denn einen anderen hatte ich immerhin, bevor ich geheiratet habe), sagen wir zwei oder drei Jahre, kommt es mir inzestuös vor; als würde ich ihn viel zu gut kennen, um diese in jeder Hinsicht uralten Schritte mit ihm zu vollziehen; irgendwann wirkt alles verkehrt und unbeholfen, so ist es längst auch mit Peter. Wenn ich einen Mann schon eine Weile kenne, sagen wir zwei oder drei Jahre, fällt es mir schwer, mit ihm am Tisch zu sitzen, ich ertrage es ganz einfach nicht, ihm beim Essen zuzusehen, ich finde, dass er schmatzt, und ich kann nicht aufhören, mir vorzustellen, wie das Essen...


Allenstein, Ursel
Ursel Allenstein, geboren 1978, ist Übersetzerin aus dem Dänischen, Schwedischen und Norwegischen von u. a. Tove Ditlevsen, Jonas Eika, Christina Hesselholdt und Karin Smirnoff. Für ihre Übersetzungen wurde sie vielfach ausgezeichnet, zuletzt mit dem Jane-Scatcherd-Preis der Ledig-Rowohlt-Stiftung.

Hesselholdt, Christina
Christina Hesselholdt, geboren 1962, gilt als eine der außergewöhnlichsten Stimmen der zeitgenössischen dänischen Literatur. Ihr Werk wurde vielfach ausgezeichnet, zuletzt (2018) mit dem Grand Prize of the Danish Academy. 2018 erschien ihr Roman "Gefährten", 2021 das Roman-Porträt "Vivian" bei Hanser.



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