Hmine | Milchstraße | E-Book | www.sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 240 Seiten, Format (B × H): 125 mm x 204 mm

Reihe: Edition Blau

Hmine Milchstraße

Roman
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-85869-906-0
Verlag: Rotpunktverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection

Roman

E-Book, Deutsch, 240 Seiten, Format (B × H): 125 mm x 204 mm

Reihe: Edition Blau

ISBN: 978-3-85869-906-0
Verlag: Rotpunktverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection



Ein Junge mit marokkanischen Wurzeln kommt im Tessin zur Welt und wird in die Obhut einer alten Witwe gegeben, Elvezia. Die spricht Dialekt, klappert mit ihren Zoccoli durchs Haus, wärmt dem Jungen die Milch für die Ovomaltine, sie lehrt ihn das Vaterunser und näht jedes Jahr ein neues Karnevalskostüm. Bei Elvezia ist sein Zuhause. Und draußen, da wartet ein ganzes Dorf mit Schnee bis in den Frühling hinein, mit tausend Spielen auf der Piazza, einer Bude im Wald, dem Einkaufsladen, dem Fußballplatz. Als seine Mutter ihn dann das erste Mal mit nach Marokko nimmt, erwartet ihn dort eine andere Familie, die eine fremde Sprache spricht und ihn einem seltsamen Ritual unterzieht. In dem Kind regen sich erste Zweifel. Auf dem Dorffest schmeckt die Wurst nicht mehr; Schweine fressen ihre eigene Kacke, hat die Mutter gesagt. Auch irritierend, dass er plötzlich aus dem Religionsunterricht geholt wird. Und wozu nur soll er Arabisch lernen? Alexandre Hmine lässt mit starken Bildern und Momentaufnahmen eine Kindheit und Jugend vorbeiziehen, in der sich immer mehr ein Zwiespalt auftut. Zwischen zwei Welten hin- und hergerissen, droht der Heranwachsende die Balance zu verlieren, Identität und Zugehörigkeit stehen auf dem Prüfstand. Ein Entwicklungsroman unserer Gegenwart, originell erzählt und preisgekrönt.

Alexandre Hmine, geboren 1976 in Lugano, hat in Pavia Literatur studiert und unterrichtet heute Italienisch an einem Gymnasium in Lugano. Sein nun auf Deutsch vorliegender Debütroman wurde mit dem Studer/Ganz-Preis und 2019 mit dem Schweizer Literaturpreis ausgezeichnet.
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Ich sehe Elvezia. Das Haar grau, nach hinten gekämmt und mit Haarspray fixiert, eng zusammenliegende, funkelnde Augen, hervortretende Halsadern. Sie trägt einen dunklen, knielangen Rock, Wollstrümpfe und Zoccoli. Sitzt krumm am Tischende. Ich sehe auch die Tante und ihren Mann dort in der Stube vor der Anrichte stehen. Sie ist schwarz angezogen. Auf ihrer Mischlingshaut glänzt Gold. Er trägt ein helles Hemd und hat eine Glatze.

Alle blicken nach unten. Sie lächeln liebevoll. Blicken zu mir auf dem Teppich. Ob ich sitze oder liege, weiß ich nicht.

Vielleicht ist es auch nur ein Foto, vielleicht hat meine Mutter es aufgenommen.

Ich sehe die Gitterstäbe des Betts, die abgeblätterte Wand, das Zimmer im trüben Licht. Es ist stickig. Der Boden knarrt unter Elvezias Zoccoli. Sie trägt ein weißes, geblümtes Nachthemd. Tritt ans Bett, nimmt das weggestrampelte Duvet und deckt mich bis zu den Schultern zu. Ich sage nichts. Rolle mich auf die Seite, schiebe die Arme zwischen die Knie und warte.

Sie krault meinen Nacken. Das mag sie, sie mag es, meine Locken unter der Handfläche zu spüren. Ich hingegen mag es, mit den Fingern über ihren Handrücken zu fahren, dem Lauf ihrer Adern zu folgen, ab und zu vorsichtig draufzudrücken.

Die Umrisse und Farben entschwinden. Ich höre Elvezia:

»Dein Wille geschehe. Wie im Himmel so auf Erden …«

Gedämpft dringen ihre Worte zu mir, vielleicht weil ich den Kopf unter die Bettdecke gezogen habe oder weil ich allmählich einschlafe. Ich kann sowohl das Vaterunser als auch das Ave Maria. In Gedanken spreche ich mit:

»Wie auch wir vergeben unseren Schuldigern …«

Ich höre sie jeden Tag. Manchmal bittet mich Elvezia, sie mit ihr zusammen aufzusagen, oft sonntags vor dem Essen, oder sie spricht sie alleine, flüsternd und mit gesenktem Kopf.

»Und führe uns nicht in Versuchung …«

Ich höre, wie der Fußboden knarrt. Wie die Bettfedern quietschen. Elvezia zieht an der Kordel. Alles wird schwarz.

Amen.

Ich spiele im Hof. Sehe den Flickenasphalt. In einer Ecke mein Dreirad. Das leuchtende Blau der Fensterläden, halb geschlossen, damit die Sonne in der Stube nicht blendet. Den Blechbriefkasten an der Wand. Die Haustür – die Maserung des hellen Holzes –, das Mattglas. Das gekippte Badezimmerfenster. Die imposante, graue Fassade des Hauses, das unseren Hof auf der anderen Seite begrenzt. Die Gartenmauer und die spitzen Gitterstäbe. Den Schuppen, wo das Holz gestapelt ist. Die Treppe hinunter zum Gemüsegarten.

Vielleicht jage ich der Katze nach.

Hinter dem Maschendraht ein weiteres Nachbarhaus – die Stockwerke kann ich nicht zählen –, ein Baum, der mitten im Garten steht, und hohes, wucherndes Gras. Diesseits des Zauns ein Zipfel Erde, auf dem Elvezia Salat anpflanzt, und die erste Stufe einer zweiten Steintreppe.

Vielleicht bin ich gestolpert.

Ich purzle hinunter.

Unten an der Treppe rufe ich. Die Hände sind aufgeschürft, Blut tropft, die Schläfen pochen vor Schmerz. Heulend rufe ich Elvezia.

Ich sitze auf ihrem Schoß. Keinesfalls den Rotz hochziehen, wehe dir. , draufpusten, sagt sie und schmiert meine Beule mit Euceta ein.

Ich nehme die Rolle weg, öffne die Balkontür und setze meine Stiefel in den frischen Schnee. Atme die klare, reine Luft ein und bewundere die Aussicht: Die Berge verschmelzen mit dem milchigen Himmel und den Flächen der Felder. Ich trete ans Geländer. Streiche über die weiche Schneeschicht. Mit dem Unterarm fege ich einen Teil hinunter. Auch die Straße zur Piazza liegt unter einer weißen Schneedecke – ein langer, noch unberührter Pfad. Der Sohn der Bauernfamilie ist damit beschäftigt, einen Weg durch den Hof zu schaufeln.

Wie schön der Schnee, der auf den Stromleitungen liegen bleibt.

Ich gehe ans Balkonende. Die Sicht auf die Hauptstraße ist versperrt, weil der Pflug einen Schneehaufen aufgetürmt hat. Den Maschendraht erkenne ich gerade eben noch. Weiter oben lassen sich ein paar Felsen, der Lattenzaun vom Spielplatz und ein Baum erahnen.

Ich renne auf die andere Seite. Betrachte den ganz weißen Nachbargarten: Die Schneeschicht gleicht die Unebenheiten des Bodens aus, verdeckt die Pflanzen und das Gelände. Vom Kirchturm lese ich die Uhrzeit ab. Bis die Bar aufmacht, dauert’s noch.

Ich ziele auf Elvezia. Werfe einen frischen Schneeball. Ich treffe nicht, erschrecke sie aber. Keuchend dreht sie sich um, massiert sich den Rücken. Ich soll mich gefälligst gut einpacken, schimpft sie, beißend kalt sei es. Dann schaufelt sie weiter.

Ich sehe die akkurat zusammengefalteten Stoffservietten, die orange Ovomaltinedose und die Zuckerschale aus Steingut, die beiden Teller, auf denen Elvezia Zwieback vorbereitet hat. Sie sind mit Butter und Marmelade bestrichen – Erdbeer, Kirsch, Brombeer oder Zwetschge. Ich muss auf Elvezia warten und darf nicht mit dem Stuhl schaukeln, Rücken gerade, Hände auf dem Tisch. Stecke die Serviette in den Pyjamakragen.

Ich höre ihre Zoccoli über die Fliesen schleifen. Sie trägt die dampfenden Tassen an den Tisch. Meine stellt sie neben den Teller, dann streut sie das Ovomaltinepulver ein und mahnt mich zu pusten, es sei heiß. Aber warum sollte ich es eilig haben?

Ich gehorche und puste.

Während wir warten, erzählt sie mir von ihrem verstorbenen Mann – er hat das Haus gebaut, in dem wir wohnen –, Geschichten aus ihrer Kindheit, von den beschwerlichen Fußmärschen zur Schule, von ihren Lehrern und den riesengroßen Klassen.

»Ein Hirn wie ein Sieb!«, tadelt sie sich, wenn ihr Gedächtnis sie im Stich lässt.

Ich höre ihr gern zu.

Gedankenverloren pfeife ich vor mich hin. Elvezia runzelt die Stirn, ihr Blick verdüstert sich und sie mahnt:

»Ruhe! Am Tisch wird weder gepfiffen noch gesungen!«

Ich kann mir das Lachen nicht verkneifen. Jetzt reicht es ihr aber: »Noch einen Mucks«, droht sie und fixiert mich, »und ich zieh dir die Ohren lang!«

Vom Kindergarten ist nicht viel zu sehen, aber ich schaue jedes Mal hin, wenn wir daran vorbeifahren. Schon von Weitem habe ich die Hecke und die Postauto-Haltestelle im Blick. Dann erspähe ich das Gittertor, den Eingang und ein Stück der Rutsche – oder ist es die Schaukel? Das Gebäude markiert eine Grenze, von hier an fällt die Straße steil ab – das Auto wird schneller –, die Häuser weichen den Bäumen, werden seltener.

Ich drehe mich um und sehe die freiliegende Fassade die kleinen Fenster den Spielplatz die grünen Hänge.

Ich gehe durch den kurzen Korridor bis zu meinem Fach. Hänge den Beutel an den Haken und setze mich auf die Bank.

Auf meinem Kittel taste ich den Umriss des aufgenähten Häuschens ab.

Rechts liegt das hell beleuchtete Zimmer, wo die Staffeleien stehen. Hier male ich blaue Himmelstreifen, halbkugelige Sonnen, Strahlen, die bis ins Weiße hinunterreichen, noch mehr Häuser, rauchende Schornsteine.

Links ein quadratischer Mehrzweckraum.

Von der Liege nebenan breitet sich Uringeruch aus.

Heute kommt der Nikolaus mit den dicken Stiefeln. Er fährt mit dem Traktor vor.

Wir singen:

»Lasst uns froh und munter sein …«

Wir sitzen auf den Bänken und warten, bis wir an der Reihe sind. Er ruft uns mit Namen auf. Verteilt prall gefüllte Säckchen voller Erdnüsse, Mandarinen, Marzipan und Schokolade.

Lustig, lustig, traleralera. Auf den Teller hat er nichts gelegt.

Ich will unbedingt herausfinden, wer sich unter dem weißen Bart versteckt, meine ganze Fantasie biete ich auf. Jemand behauptet, es zu wissen.

»Wer ist es?«

»Geheimnis«, sagt er und fährt sich über die Lippen, als würde er einen Reißverschluss zuziehen.

Ich knie auf dem Teppich in der Stube und lege bunte Magnetbuchstaben aneinander, in der Hoffnung, dass sich ein Wort ergibt. Irgendjemand hat sie mir geschenkt. Elvezia sitzt im Sessel neben dem Ofen und liest die . Vor dem Umblättern befeuchtet sie sich die Fingerkuppe. Hin und wieder lässt sie die Zeitung sinken und beugt ihren Kopf nach vorn, um mich über den Brillenrand hinweg anzusehen. Durch die beiden Fenster scheint die Nachmittagssonne herein.

Ich wühle im Haufen, hebe einen Buchstaben auf, überlege, ob ich ihn nehmen soll und wohin er kommt, will, dass Elvezia zu mir schaut, und frage sie, was ich geschrieben habe. Sie hat mir geraten, kurze Wörter zu schreiben – vier, höchstens fünf Buchstaben – und Vokale zu gebrauchen, aber meistens lege ich lange Reihen voller Konsonanten. Ich höre nicht auf sie, weil sie so lustig reagiert, wenn das Resultat unaussprechbar ist.

ASDFGHJKL

Sie lacht laut heraus, schüttelt den Kopf:

»Nein, mein Kind, doch nicht so.«

Also mische ich die Buchstaben wieder und fange von vorne an: Konsonant, Vokal, Konsonant, Vokal.

MAMA

Elvezia schaut zu. Liest und korrigiert.

Im Ofen knistert das Holz. Ich sehe das Gusseisen und das orange Rechteck. Das Metallrohr, das nach einem Bogen in der Wand verschwindet. Ich liege auf einer Decke, die Beine über die Sessellehne gestreckt. Auf dem anderen...



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