Hoem | Die Hebamme | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 336 Seiten, GB

Hoem Die Hebamme


Novität
ISBN: 978-3-8251-6242-9
Verlag: Urachhaus
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, 336 Seiten, GB

ISBN: 978-3-8251-6242-9
Verlag: Urachhaus
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Marta Kristine Andersdatter Nesje, die Ururgroßmutter des Autors, ging 1821 zu Fuß 600 km von der Westküste Norwegens nach Christiania, um Hebamme zu werden. Danach übte sie ihren Beruf fünfzig Jahre lang am Romsdalfjord aus und verfolgte beharrlich ihr Ziel, Frauen zu helfen - wobei sie lange gegen Misstrauen und Armut ankämpfen musste.

Edvard Hoem lässt Marta Kristine mit enormer dichterischer Kraft hervortreten. Er erzählt feinfühlig von ihrer tiefen Liebe zu Hans, ihrem Lebensalltag mit elf Kindern und von den unzähligen Hebammenfahrten über den Fjord. Das Bild einer ganzen Epoche, einer Landschaft - und insbesondere des Hebammenberufs vor 200 Jahren - tritt atmosphärisch und detailgetreu hervor. Das Einfache dieses Lebens und die Zuversicht der Charaktere vermögen uns gerade heute besonders zu berühren.

Hoem Die Hebamme jetzt bestellen!

Weitere Infos & Material


Vorwort Erster Teil Die Hebamme Erstes Kapitel Eine stürmische Bootsfahrt Zweites Kapitel Jugend und Entfremdung Drittes Kapitel Hungersnot, Seelennot Viertes Kapitel Hans, Hans! Fünftes Kapitel Warum, warum? Zweiter Teil Das Haus unter dem Blauhammer Sechstes Kapitel Erneutes Ringen Siebtes Kapitel Hebammen-Stinas lange Wanderung Achtes Kapitel Das Wiedersehen Zehntes Kapitel Neue Zeiten? Elftes Kapitel Auf blosser Erde Neuntes Kapitel Sorge und Freude Dritter Teil Hebammen-Stina Zwölftes Kapitel Nesjekönig und Brudersohn Nachwort


ZWEITES KAPITEL
JUGEND UND ENTFREMDUNG
   1   
FÜNF JAHRE lang besuchten sie zusammen die Schule, Marta Kristine und Hans. Fand keine Schule statt, kam sie trotzdem zu ihm. Wenn es dämmerte, begleitete er sie zurück nach Flovikstrand. Sie liefen durch das Wäldchen bis zum Hof. Er blieb ein paar Schritte vom Haus entfernt stehen, und sie ging rückwärts und sah ihn dort warten, bis sie den Türriegel berührte. Sie hatte keinen anderen Freund als Hans. Und sie wollte auch keinen anderen Freund haben. Wenn sie einmal groß war, wollte sie seine Frau werden und zehn Kinder bekommen. Das sagte sie ihm, und obwohl er ein großer Junge war, antwortete er Ja – mit großem Ernst. Hans’ Eltern waren wohlhabend. Von seiner Mutter erbte er 33 Reichstaler, die als Anteil im Hof steckten. Außerdem erbte er 36 Reichstaler in bar, vier Reichstaler als Anteil an der Kirche zu Veøy, eine Tonne Hafer 1 mit einem Wert von zwei Reichstalern, eine Färse, eine Felldecke, einen Vierriemer und die Teilhabe an einem Netz zum Dorschfang. Und dann sollte Hans konfirmiert werden. Das geschah 1807, so steht es im Kirchenbuch der Kirchengemeinde Veøy. Hans stand in diesem Jahr an vierter Stelle vor dem Altar. Im selben Jahr, kurz nach Weihnachten, wurde Marta Kristine vierzehn; Hans war da bereits siebzehn. Am Tag der Konfirmation war Marta Kristine mit ihren Eltern in der Kirche in Veøy. Der Pastor Jens Stub stand auf der Kanzel und sprach mit seiner sanften Stimme zu ihnen. Er sprach dabei mehr über die Jahresernte als über die Sünde. Er sprach darüber, wie sich die Bauern Stecklinge von Beerensträuchern, Kohlrabisamen und Pflanzen beschaffen könnten. Ja, Stubben verlor sich ganz und gar in aller Art von Gewächsen, sodass es nicht nur eine, sondern zwei Stunden dauerte, bis er wieder dahin zurückkehrte, wo er begonnen hatte: Gott, der uns leitet und uns wohlwill. Marta Kristine saß zusammen mit ihrer Mutter in der Kirchenbank. Ihr Vater saß auf der anderen Seite des Mittelgangs. Hans stand mit den anderen Jungen auf der einen Seite des Altars, die Mädchen auf der anderen. Niemand war so hübsch wie Hans. Er hatte immer noch helles Haar, und es sah nicht so aus, als würde es dunkler werden. Als Stubben begann ihn abzufragen, antwortete er so, als beherrsche er alles im Schlaf. Sie war aufgeregt und überlegte, was sie zu ihm sagen sollte, wenn sie nach draußen kämen. Aber am Tag von Hans’ Konfirmation wollten die Leute vom Ola-Hof unter sich bleiben. Sie kamen in einer großen Gruppe aus der Kirche heraus und Hans lächelte ihr zu, aber er sprach nicht mit ihr. Er ging ganz vorne in der Gruppe – zusammen mit seinem ältesten Bruder Ola oder Jung-Ola, wie sie ihn nannten. Jung-Ola war vierzehn Jahre älter als Hans und war von seinem Dienst als Grenzsoldat in der Umgebung von Røros zurückgekehrt. Es war ein langer Einsatz gewesen. Alle Geschwister vom Ola-Hof, die während der Erbauseinandersetzung so sehr miteinander gestritten hatten, zeigten jetzt, dass Blut dicker war als Wasser. Auch für den mutterlosen Hans sollte nun das Erwachsenenleben beginnen. An seinem Konfirmationstag fuhr er im Achtriemer des Ola-Hofs von Veøy zurück nach Hause. Was würde aus ihm werden? Nun, er sollte für seinen ältesten Bruder arbeiten, bis er alt genug war – und dann sollte er zum Militär. Nichts mehr war so wie früher. Der Sommer war nicht wie früher, denn Hauptmann Dreyer ging Konkurs und verließ mit seiner Familie den Ort. Der Hof wurde versteigert, die eine Hälfte ging an Peder Knudsen, die andere an Trond Aslaksen. Aus dem stolzen, großen Flovikhof waren zwei kleinere Höfe geworden, und der Schuhmacher und seine Familie mussten auf zwei Höfen Pflichtarbeit verrichten. Das Lichte und Strahlende der Tage dort war verschwunden. Nur Marta Kristine blieb zurück – zurück in der Kindheit, die sie und Hans miteinander verbracht hatten. Mit ihrem Körper war etwas geschehen, und sie hatte das Gefühl, erwachsen zu sein. Doch für Hans war sie das kleine Mädchen von einst geblieben. Das waren ihre Gedanken, als er zusammen mit seinem Vater und seinen älteren Geschwistern nach Hause ruderte und sie ihre eigenen Eltern im Vierriemer nach Hause begleitete. Was sie dachte, behielt sie für sich – nicht nur an diesem Tag, sondern auch an den Tagen, die folgten. Ihre Eltern fanden, schweigsam und abwesend zu sein sei schön und gut, aber man solle es damit nicht übertreiben. »Sie ist in den blauen Bergen«, sagten sie. »Die Unterirdischen haben sie mitgenommen, das tussefolk. Wir dringen nicht mehr zu ihr durch – ganz gleich, wie laut wir rufen!« Marta Kristine lief in den Wald. Ihre kleine Schwester, Klein-Karen, rief ihr hinterher, aber sie kümmerte sich nicht darum. Gehörte sie denn nicht zu den Menschen? Würde sie eine Hausfrau werden – oder eine Magd? Den ganzen Spätsommer hindurch hielt sie sich im Wald auf – jedenfalls sobald sich ihr ein Grund dafür bot, und einen Grund hatte sie, solange es Beeren zu finden gab. Doch dann kam der kalte Herbst. Langsam, sehr langsam kehrte sie zu ihrer Mutter nach Hause zurück, die ihr gerne etwas beibringen wollte, damit sie vielleicht einmal Bäuerin werden konnte, auf einem anständigen Hof. Sie war nicht unwillig, weder am Spinnrad noch am Webstuhl, die Arbeit erfüllte sie nur nicht. Sie tat, was ihr aufgetragen wurde, aber mit ihren Gedanken war sie anderswo.    2   
DIESER HERBST war der letzte, in dem Marta Kristine ihren Vater in den Ort begleiten durfte. Sie konnte nun an den Rändern eines Sohlenpaares entlangnähen und Löcher für die Schnürsenkel stanzen. Sie konnte die Kanten säubern und die Ferse herausklopfen. Sie konnte ein Schustermesser so schleifen, dass die Schneide scharf war wie des Teufels Rasierklinge, wie die Leute sagten. »Das Einzige, was uns daran hindert, wohlhabend zu sein«, sagte Anders Schuhmacher zu seiner Frau, »sind die kargen Zeiten. Die Leute haben keinen Schilling, und deshalb gelangt auch kein Schilling zu uns. Aber wenn die Zeiten besser werden, machen Stina und ich hier in Flovikstrand eine eigene Schuhmacherwerkstatt auf, und dann sollen die Kunden zu uns kommen und nicht wir zu ihnen, so wie jetzt.« Doch die Zeiten waren karg, und die Zeiten wurden nicht besser, denn nun zog Napoleon in einen neuen Krieg gegen die Engländer, und der dänisch-norwegische König stellte sich auf Napoleons Seite. Deshalb setzten die Engländer eine Blockade in Gang, sodass keine Schiffe mehr zwischen Norwegen und Dänemark und Norwegen und England fahren konnten. Bald herrschte ein Mangel an Getreide, und der Mangel an Saatgetreide führte im Jahr darauf zu einem noch größeren Mangel an Getreide. Die Mutter sagte zu Marta Kristine: »Kannst du nicht lieber Kleider und andere Anziehsachen für die Leute nähen, als dich mit deinem Vater herumzutreiben? Musst du immer etwas Besonderes sein, Stina? Musst du dich immer hervortun?« »Ich kann wohl nichts dafür, dass ich so bin, wie ich bin«, erwiderte Marta Kristine. Sie war nun so groß geworden, dass sie dem Vater bei fast allem helfen konnte. Etwa wenn die Häute von Ochsen und Kälbern über die Zäune gehängt werden mussten – Häute, die seit der Weihnachtszeit eingeweicht gelegen hatten, als Anders Knudsen Flovik unterwegs gewesen war, um zu schlachten. Die Häute lagen im Zuber und faulten, damit die Haare entfernt werden konnten. In diesen Zuber leerte Marta Kristine den Inhalt kleiner Fläschchen, und die Leute gafften und schnupperten und rochen, was das wohl für seltsame Flüssigkeiten waren, die man da brauchte – ob es vielleicht Galle vom Schwein war oder Doktorenalkohol, was da so roch, oder giftige Essenzen aus Arabien, eingeführt zu einer Zeit, als noch Frieden herrschte in der Welt? Alle Arten von Sud verwendeten sie – von Birkensaft bis Bibergeil, um aus den Häuten weiches und festes Leder zu machen, für Schuhwerk, das am besten ein halbes Leben überdauern sollte. An einem Tag vor Weihnachten nahmen Anders Knudsen und seine Tochter Kurs auf Veøy, wo der Pfarrhof lag. Sie war aufgeregt, denn zum Sommer hin sollte sie konfirmiert werden. Marta Kristine bekam Stubben anfangs nicht zu Gesicht. Als sie anklopften, wurden sie nicht ins Haus hereingebeten, sondern stattdessen zum Backhaus geschickt, wo es warm war, weil an diesem Tag lefser gebacken worden waren, dünne Teigfladen. Die Bediensteten brachten Schuhe, die sie geflickt und ausgebessert haben wollten. Alltags gingen sie in ihren Holzpantinen, aber weil Weihnachten vor der Tür stand, sollten ihre feinen Schuhe heil und ordentlich sein. Und dann tauchten die Pastorenkinder auf, eines nach dem anderen. Sie redeten durcheinander, doch auch die Pastorenkinder bekamen nicht immer die Schuhe, die sie haben wollten, denn die Jüngeren mussten erst die der Älteren auftragen. In der Dämmerung, als sie nicht mehr genug Licht zum Arbeiten hatten, kam Stubben selbst. Er roch an dem Leder, aus dem neue Festtagsschuhe für seine Frau werden sollten – sie fand es so einsam auf dieser Insel und träumte davon, nach Molde zu einer Weihnachtsgesellschaft eingeladen zu werden. Stubben bot dem Schuhmacher und seiner Tochter an, bis zum nächsten Tag auf der Insel zu bleiben. Sie könnten auf dem Dachboden des Vorratshauses...


Hoem, Edvard
Edvard Hoem, geboren 1949 in der Nähe von Molde, ist einer der führenden norwegischen Schriftsteller. Seit fünf Jahrzehnten veröffentlicht er Romane, Dramen, Gedichte und Übersetzungen, für die er u.a. mit dem renommierten Ibsen-Preis ausgezeichnet wurde. 2020 wurde er für seine Verdienste um die norwegische Literatur zum Kommandeur des Sankt-Olav-Ordens ernannt und avancierte in den letzten Jahren mit seinen historischen Romanen zum Bestseller-Autor.

Subey-Cramer, Antje
Antje Subey-Cramer arbeitete nach ihrem Studium der Nordistik und Musikwissenschaft einige Jahre in einem Kinderbuchverlag in Süddeutschland, bevor es sie wieder in ihre norddeutsche Heimat zog. Als freie Lektorin und Übersetzerin lebt sie mit ihrem Mann und ihren drei Kindern in der Nähe von Buxtehude. Für den Verlag Urachhaus hat sie u.a. Bücher von Maja Lunde und Edvard Hoem übersetzt.

Edvard Hoem, geboren 1949 in der Nähe von Molde, ist einer der führenden norwegischen Schriftsteller. Seit fünf Jahrzehnten veröffentlicht er Romane, Dramen, Gedichte und Übersetzungen, für die er u.a. mit dem Brage-Preis (2019), dem norwegischen Kritiker-Preis und dem Ibsen-Preis ausgezeichnet wurde. 2020 wurde er für seine Verdienste um die norwegische Literatur zum Kommandeur des Sankt-Olav-Ordens ernannt und avancierte in den letzten Jahren mit seinen historischen Romanen zum Bestsellerautor.



Ihre Fragen, Wünsche oder Anmerkungen
Vorname*
Nachname*
Ihre E-Mail-Adresse*
Kundennr.
Ihre Nachricht*
Lediglich mit * gekennzeichnete Felder sind Pflichtfelder.
Wenn Sie die im Kontaktformular eingegebenen Daten durch Klick auf den nachfolgenden Button übersenden, erklären Sie sich damit einverstanden, dass wir Ihr Angaben für die Beantwortung Ihrer Anfrage verwenden. Selbstverständlich werden Ihre Daten vertraulich behandelt und nicht an Dritte weitergegeben. Sie können der Verwendung Ihrer Daten jederzeit widersprechen. Das Datenhandling bei Sack Fachmedien erklären wir Ihnen in unserer Datenschutzerklärung.