E-Book, Deutsch, 256 Seiten
Höra Was wir nicht wollten
1. Auflage 2018
ISBN: 978-3-7641-9229-7
Verlag: Ueberreuter Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 256 Seiten
ISBN: 978-3-7641-9229-7
Verlag: Ueberreuter Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Daniel Höra, geboren in Hannover, wuchs in einer Hochhaussiedlung am Stadtrand auf. Er war nach seiner Schulzeit Taxifahrer, Kellner, Möbelträger, Lagerarbeiter und Altenpfleger, bevor er auf dem zweiten Bildungsweg das Abitur nachholte. 2009 erschien sein hochgelobtes Jugendbuch-Debüt 'Gedisst'. Sein drittes Jugendbuch 'Braune Erde' wurde mit mehreren Preisen bedacht. Daniel Höra lebt als freier Schriftsteller in Berlin.
Autoren/Hrsg.
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Kapitel 1
Schon mal eine Leiche gesehen? Ist ziemlich fies. Vor allem, wenn sie nicht mehr vollständig ist. Na ja, wenn ich ehrlich bin, war die Leiche zugedeckt. Man hat gar nichts so richtig erkennen können. Nur die Umrisse des Körpers unter der Plane und einen Turnschuh, der ein Stück abseits lag, als würde er nicht dazugehören wollen, als würde er sich schämen.
Ich bildete mir ein, in dem Schuh würde noch ein Stück vom Fuß stecken, weil etwas Blut dran klebte, aber das war Quatsch. Es war einfach nur ein leerer Schuh, der gewaltsam vom Fuß gerissen worden war. Wirkte irgendwie traurig, dieser einsame Schuh.
Die Polizisten, Sanitäter und ein paar Erwachsene aus der Siedlung schickten uns weg. Schade. So oft bekamen wir eine Leiche ja nun auch nicht zu sehen.
»Wieder einer«, hörte ich einen der Polizisten sagen.
Koko und ich sahen uns wissend an. Ja, wieder einer. Der Bahndamm hinter unserer Siedlung war beliebt bei Selbstmördern. Die sprangen dann hinter den Brückenpfeilern hervor, direkt auf die Schienen, als würden sie den Zug erschrecken wollen.
Scholle versuchte mit seinem Handy ein Foto von der zugedeckten Leiche zu machen, aber einer der Sanitäter schrie uns an, wir sollten endlich verschwinden. Na gut, taten wir dann auch. Der nächste Selbstmörder würde sowieso nicht lange auf sich warten lassen.
Es war nicht so, dass wir auf den Tod lauerten wie die Geier. Das ergab sich einfach so. Und bei uns war eben zu wenig los, als dass wir so eine Gelegenheit nicht wahrgenommen hätten. In der letzten Zeit ertrugen scheinbar immer weniger Leute ihr Dasein. Voller Hoffnung waren sie gestartet, mit der Aussicht auf eine strahlende Zukunft. Mit Häusern, tollen Jobs, liebevollen Partnern, Autos, Kindern, Antiquitäten, teuren Küchenmaschinen und so weiter. Und dann wurde nichts daraus. Sie schafften es nicht, ihrem Leben einen Sinn zu geben. Und das machte sie fertig. Warum muss man anfangen zu grübeln, wenn man älter wird. Ist das so eine Art Naturgesetz? Und macht das irgendetwas besser? Ich glaube, die meisten vergessen irgendwie, dass sie mal jung waren, so als wäre das nur eine peinliche Episode ihres Lebens. Ich war dreizehn und nahm mir vor, niemals so zu werden.
Wir kletterten den Bahndamm hoch, über die Garagendächer und sprangen runter auf den Asphalt.
»Schon traurig«, sagte Tomislav, den wir Tomi nannten, manchmal auch Balkanese, weil seine Eltern vom Balkan kamen. Tomi allerdings war hier geboren.
»Ach komm«, sagte Koko spitz. »Du hast den doch gar nicht gekannt. Du weißt gar nicht, was für ein Mensch das war. Jetzt tu doch nicht so.«
Tomi lächelte breit. »Es könnte ja auch mal jemand aus der Siedlung sein.«
»Ach, Quatsch«, meinte Koko. »Bei uns bringt man sich höchstens durch Suff um.«
»Und was ist mit Frau Berberiß?«, warf Scholle ein.
Frau Berberiß war das einzig namentlich bekannte Selbstmordopfer bei uns in der Siedlung. Sie war fast eine Berühmtheit. Allerdings hatte sie es nicht ganz geschafft, sich umzubringen, nur teilweise. Das lag daran, dass sie nicht wie die anderen hinter dem Brückenpfeiler hervorgesprungen, sondern direkt von der Brücke vor den herannahenden Zug gehüpft war. Schien ihr wohl sicherer. Hat leider nicht geklappt, die Stromleitungen waren im Weg, sodass sie wie von einem Trampolin abprallte und in hohem Bogen neben den Gleisen landete. Als sie Wochen später aus der Klinik kam, konnte man sie kaum mehr erkennen. Die Stromleitungen hatten ihr das Gesicht weggeschmolzen, weswegen sie von da an immer mit tief ins Gesicht gezogener Kapuze durch die Siedlung schlich und mit sich selbst sprach, bis man sie eines Tages abholte, um sie in die Irrenanstalt zu sperren.
»Ja, okay«, sagte Tomi. »Aber die zählt nicht. Ich meine, jemand, den wir richtig kennen.«
»Einen von uns, meinst du?«, fragte Betty und strich sich ausgiebig eine rote Haarsträhne von der kräftigen Nase.
Scholle sah sie erschrocken an. »Du spinnst ja wohl.«
»An deiner Stelle hätte ich mich schon längst umgebracht, Qualle«, sagte Tomi zu ihm, worauf Betty hämisch lachte.
»Hört mal auf mit dem Quatsch«, sagte Koko. »Niemand von uns bringt sich um.«
»Es gibt Situationen, da willst du eben nicht mehr leben«, warf Tomi ein.
»Was soll denn das für eine Situation sein?«, fragte Scholle. »Der Mensch will immer leben, das ist seine Natur.«
»So wie die Schweine deines Vaters. Die wollen auch leben, aber das kümmert euch ja nicht«, erwiderte Tomi.
»Ach halt den Mund«, sagte Scholle nur. Sein Vater war Schlachter und Scholle musste sich dafür jede Menge Spott von Tomi anhören. Manchmal auch von uns anderen.
Tomi suchte sich ein neues Opfer. »Oder dein Freund lässt dich sitzen und du willst sterben«, sagte er zu Betty.
»Halt die Klappe!«, rief sie. Dabei hatte sie gar keinen Freund. Noch nie gehabt. Und sie würde sich garantiert auch nicht wegen eines Typen umbringen, eher würde sie ihn ermorden.
Scholle lachte, was Betty nun wiederum gegen Scholle aufbrachte.
, rappte Betty in Scholles Richtung, worauf Tomi kicherte.
Das mit dem Rappen war so eine Macke von uns. Das hatten wir im Winter in Tomis Keller gemacht, weil wir dachten, das wäre unser Ding, aber eigentlich hatten wir uns nur gegenseitig gedisst. Und irgendwie konnten wir es nicht lassen, aber es war nicht böse gemeint. Ganz im Gegenteil. Ich war allerdings nicht so gut darin. Ich dachte immer zu lange nach, während die anderen einfach loslegten.
Ich sah zu Scholle, der ruhig dastand, während er in seiner Hosentasche kramte, um eines seiner übergroßen karierten Taschentücher herauszufummeln. Er war Allergiker, wobei es im Hochsommer gar keine Pollen gab, aber Scholle war eben auch ein großer Schauspieler.
, rappte Scholle zurück, bevor er sich lauthals schnäuzte.
Koko und ich lachten. Na ja, Scholle war auch nicht so begabt.
Jetzt fing Tomi an. Er war der beste Rapper von uns.
»Was machen wir denn jetzt?«, fragte ich in die Runde, wobei sich meine Frage genau genommen an Koko richtete, die so was wie unsere heimliche Anführerin war.
»Zum Bahndamm können wir heute jedenfalls nicht«, sagte Scholle mit fester Stimme, als hätte er eine unangenehme Wahrheit verkündet, die nur er aussprechen könnte.
Der Bahndamm war unser zweites Zuhause, dabei war er nur ein verwildertes Stück Land neben den Gleisen. Da hingen wir für gewöhnlich nach der Schule rum und in den Ferien sogar den ganzen Tag. Das war unser Revier. Leider nicht mehr lange, weil ein Bahnhof entstehen sollte. Wir hatten schon ein paar Arbeiter dort umherschleichen sehen, die kleine Stangen in die Erde gesteckt hatten. Nachdem sie weg waren, hatten wir die Stangen umgesteckt, aber das schien sie nicht zu stören, denn am nächsten Tag waren sie wieder da gewesen und steckten ihre kleinen Stangen mit einer Begeisterung in die Erde, als hätten sie sich ihr Leben lang darauf vorbereitet.
Unsere halbe Kindheit hatten wir am Bahndamm verbracht. Wir waren genauso verwildert wie dieses Gelände. Manchmal legten wir uns direkt neben die Gleise und warteten darauf, dass ein Zug kam. Das war ein tolles Gefühl, wenn so ein Ungetüm zwei Meter von dir entfernt an dir vorbeidonnerte und du dich an einem Stein oder an einer Wurzel festhalten musstest, damit dich der Fahrtwind nicht mitriss.
Wie oft hatten wir dort Feuer gemacht und Kartoffeln geröstet. Und bald sollte das alles verschwinden und zu einem langweiligen Bahnhof umgebaut werden. Mal ehrlich, wer brauchte denn so was? Und wo sollten wir auch hin, gerade jetzt, da die Sommerferien begonnen hatten? Wegfahren tat eh keiner von uns, weil unsere Eltern kein Geld hatten. Zwar arbeiteten meine Eltern hart, aber sie verdienten nicht allzu viel. Es reichte gerade so, um über die Runden zu kommen. Bei den anderen war es ähnlich.
»Dann gehen wir eben zu Tomi in den Keller«, schlug Betty vor.
Da hingen wir eigentlich nur bei schlechtem Wetter rum. Hörten Musik und spielten Karten.
»Die Sonne scheint«, verkündete Scholle energisch, als wäre es uns anderen noch nicht aufgefallen.
Koko sah von einem zum anderen....




