E-Book, Deutsch, 224 Seiten
Hoffmann zweifeln und glauben
1. Auflage 2019
ISBN: 978-3-96157-975-4
Verlag: camino
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 224 Seiten
ISBN: 978-3-96157-975-4
Verlag: camino
Format: EPUB
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Veronika Hoffmann, geb. 1974 in Darmstadt, studierte katholische Theologie in Frankfurt (St.Georgen) und Innsbruck. Pastorale Ausbildung im Bistum Mainz und Arbeit als Religionslehrerin und Schulseelsorgerin. Nach Promotion 2006 in Münster und Habilitation 2012 in Erfurt ist sie seit 2013 Professorin für Systematische Theologie an der Universität Siegen.
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1. Warum »Glauben Sie an Gott?« manchmal die falsche Frage ist
»Noch glauben« und »nicht mehr glauben«?
»Glauben Sie an Gott?« – Es gibt inzwischen ziemlich viele Umfragen, die diese und andere Fragen zu unserer religiösen Orientierung gestellt haben. Das religiöse Feld in Europa ist insgesamt religionssoziologisch gut ausgeleuchtet. Dabei scheint mindestens ein Ergebnis unbezweifelbar: Immer weniger Menschen glauben heute an Gott oder Göttliches oder bezeichnen sich in anderer Weise als religiös – die angebliche »Wiederkehr der Religion« hat daran bislang nichts geändert.3
Das gilt freilich in dieser einfachen Form nur für Westeuropa. Wir haben in den letzten Jahrzehnten gelernt, dass Religion ein zu komplexes Feld ist, als dass man allzu pauschal angebliche »globale Trends« beobachten könnte – dazu gleich mehr. Zumindest in Europa scheint es aber so zu sein: Es gibt Menschen, die »noch« glauben oder sich als religiös verstehen. Und es gibt mehr und mehr Menschen, die es »nicht mehr« tun. Eine solche Rede von »noch« und »nicht mehr« lädt zu einer Bewertung ein, die freilich sehr verschieden ausfallen kann. Beispielsweise: Die »noch Glaubenden« sind die Beständigen, die an Bewährtem festhalten, gegen den Orientierungsverlust derer, die »nicht mehr« glauben. Oder aber: Die aufgeklärte Selbstbestimmung derer, die sich von einer überholten Religiosität emanzipiert haben, steht gegen eine rückwärtsgewandte Beharrung solcher, die an ihr festhalten.
In kirchlichen Kreisen herrscht nicht selten das deprimierte Gefühl: Früher waren die großen Mehrheiten bei uns, jetzt werden wir zur Minderheit. Das kann zur Selbstbeschuldigung führen: Wir machen etwas falsch, weil die Menschen nicht mehr zu uns kommen. Oder man beschuldigt andere: Die heutige Gesellschaft ist schlecht, weil sie den Wert des Glaubens nicht mehr erkennt.
Ich möchte behaupten, dass diese Umfragen und ihre instinktiven Wertungen uns ein wenig in die Irre führen. Das heißt natürlich nicht, dass die Zahlen nicht stimmten, die den Rückgang von religiösen Überzeugungen und Praktiken belegen. Sie stimmen, jedenfalls wenn man nach Westeuropa schaut. Meine Behauptung ist: Der Vergleich zwischen »früher« und »heute« (wobei noch zu klären ist, was »früher« genau heißen soll) funktioniert nur bedingt, weil »glauben« »heute« und »früher« . Es geht nicht einfach um veränderte Zahlen. Die Veränderung ist tiefergehend und betrifft alle: die Glaubenden und die Nichtglaubenden – und die, die sich in dieser Unterscheidung gar nicht einordnen können.4 (Warum auch die Grundunterscheidung Glaubende – Nichtglaubende heute schwierig ist, wird im Lauf des Kapitels noch zur Sprache kommen.)
Wer heute glaubt, glaubt anders als die Jünger zur Zeit Jesu, anders als eine Bäuerin im Europa des 14. Jahrhunderts, anders als noch die Karmelitin Thérèse von Lisieux in Frankreich am Ende des 19. Jahrhunderts. Diese Andersheit wird durch Fragen wie »Glauben Sie an Gott?« eher verdeckt. Denn das suggeriert, dass sich nur die einen verändert hätten: Sie sind weggegangen, beispielsweise aus der Kirche ausgetreten, haben ihren Glauben aufgegeben. Aber schon das ändert die Lage auch für die, die »noch glauben«. Für manche von ihnen ist es schwerer geworden zu glauben, weil das Umfeld dem Glauben nicht mehr so freundlich gesinnt ist. Andere hingegen mögen ihren Glauben mehr als ihren eigenen, ganz persönlichen, empfinden, weil er nicht mehr selbstverständlich von allen geteilt und sozial erwartet wird. Schon hier zeichnet sich ab, dass die Veränderung in Sachen Glauben nicht nur eine quantitative ist, sondern sich auch die Weise geändert hat, man glaubt – oder nicht glaubt.
Die These lautet also: In Sachen Religion hat sich etwas für verändert. Diese Veränderungen liegen gewissermaßen vor Fragen wie »Glauben Sie an Gott?« und werden von ihr deshalb nicht richtig erfasst. Man muss hinter die Frage zu diesen tiefer liegenden Veränderungen zurückgehen, zu den Bedingungen, unter denen heute in der einen oder anderen Weise geglaubt oder nicht geglaubt wird. Das ist nicht ganz unkompliziert, wie sich im Folgenden zeigen wird. Aber es lohnt sich, nach diesen geänderten Bedingungen zu schauen, wenn man die heutige religiöse Landschaft verstehen will.
Wer von »geänderten Bedingungen« spricht, muss mindestens zweierlei erklären: Geändert im Vergleich zu wann? Wann also war dieses »Früher«? Und geändert in welcher Weise? Was unterscheidet »heute« von »früher«? Um das zu erläutern, greife ich auf Analysen des kanadischen Philosophen Charles Taylor zurück.5 Seine Überlegungen bilden den Hintergrund für alles Weitere in diesem Buch. Wir können hier allerdings nicht sein umfangreiches Werk in allen Aspekten betrachten. Ich werde nur zwei Stichworte herausgreifen: sein Verständnis unserer Gegenwart als eines »säkularen Zeitalters« und seine Beobachtung einer »Kultur der Authentizität.«
»Säkular« oder »postsäkular«?
Nun drängt sich ein Verdacht auf. Ist es nicht Schönfärberei zu behaupten, die Veränderungen in der religiösen Landschaft seien nicht adäquat erfasst, wenn man schlicht von einem Rückgang von Religion spricht, sie lägen tiefer? Immerhin sprechen die Statistiken schon lange eine eindeutige Sprache: Die Zahl derer sinkt, die sich als religiös verstehen und das auch praktizieren. Sollte man das nicht einfach anerkennen? Wird hier nicht eine Umdeutung vorgenommen: Wenn die Statistiken gegen uns sind, dann erklären wir sie eben für nicht relevant? Das mag Balsam sein für Kirchenverantwortliche, die gegenüber Mitgliederschwund und Traditionsabbruch bisher weitgehend hilflos sind. Aber ist das nicht Realitätsverweigerung? Unsere Gesellschaft ist, so scheint es, eindeutig eine säkulare, die immer noch säkularer wird.
Man kann aber auch umgekehrt fragen: Leben wir überhaupt in einer »säkularen Gesellschaft«? Das ist durchaus nicht unumstritten. So hat der Philosoph Jürgen Habermas in seiner Rede zur Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels 2001 von einer » Gesellschaft« gesprochen.6 Das sei »von der deutschen Öffentlichkeit einhellig als Sensation wahrgenommen«7 worden, vermerkt dazu der Soziologe Hans Joas. Das Sensationelle rührt daher, dass Habermas nicht nur sich selbst bis dahin immer als »religiös unmusikalisch« bezeichnet hat. Er sah auch in einer modernen, aufgeklärten Gesellschaft keinen Ort mehr für Religion. Jetzt aber betrachtet Habermas unsere Gesellschaft als »postsäkular« und meint damit, dass sie sich »auf das Fortbestehen religiöser Gemeinschaften in einer sich fortwährend säkularisierenden Umgebung einstellt«8. Religion werde also auch in den westlichen Gesellschaften des 21. Jahrhunderts ein Faktor bleiben.
Die Basis für die frühere Annahme einer » Gesellschaft« bei Habermas und anderen war die klassische sogenannte »Säkularisierungstheorie«. Diese These war lange Zeit gesellschaftliches Allgemeingut. Im Kern lautet sie: Je moderner eine Gesellschaft wird und je aufgeklärter ihre Mitglieder sind, desto geringer wird die Bedeutung von Religion, bis sie schließlich nur noch in Restbeständen existiert oder ganz verschwindet.9 Religion war früher wichtig, aber alle ihre Aufgaben werden heute von anderen Instanzen übernommen. Religion diente beispielsweise dazu, Phänomene zu erklären, die wir heute naturwissenschaftlich erklären. Sie stiftete gesellschaftlichen Zusammenhalt, aber spätestens seit den reformatorischen Spaltungen des Christentums in Europa war Religion auch Motor gesellschaftlicher Spaltung. Als gemeinsame Basis einer Gesellschaft kann sie heute nicht mehr fungieren. Religion gab und gibt Menschen moralische Orientierung, aber auch hier ist sie nicht unersetzlich. Man kann auch moralisch sein, ohne an Gott zu glauben. Sie spendet Trost im Leid und angesichts des Todes. Aber sollte man das Leid nicht besser bekämpfen, statt es einfach zu akzeptieren, und spricht es nicht sogar gegen die Existenz Gottes? Aus all dem ergab sich die scheinbar logische Folgerung: Religion und Moderne, Religion und naturwissenschaftliche Weltsicht, Religion und ein demokratischer, toleranter Staat passen nicht zusammen. Die gesellschaftliche Entwicklung wird deshalb dazu führen, dass Religion nach und nach aus dem öffentlichen und dann auch aus dem privaten Bereich verschwindet.
Das ist eine...




