Hofmann | Nagel im Himmel | E-Book | www.sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 304 Seiten

Hofmann Nagel im Himmel

Roman
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-641-25708-8
Verlag: Penguin
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 304 Seiten

ISBN: 978-3-641-25708-8
Verlag: Penguin
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Eine moderne Heldengeschichte: von der Einsamkeit des Andersseins und der Erlösung durch die Liebe

Die Zahlen sind Olivers Zuflucht. Die Mutter ist schon kurz nach seiner Geburt im Sommer 1989 aus der sächsischen Kleinstadt abgehauen, der Vater straft ihn mit Gleichgültigkeit. Mit siebzehn erfährt Oliver zum ersten Mal Anerkennung, als er bei der Mathematik-Olympiade in Montreal eine Auszeichnung erhält. Danach ist alles anders – und doch nichts besser. Zwar werben die angesehensten Institutionen um ihn, und er kann sich seinen Wunsch erfüllen: am größten Problem der Mathematik, dem Geheimnis der Primzahlen, zu arbeiten. Doch diese Aufgabe treibt ihn in die Abgründe seiner Existenz. Bis ihn die Physikerin Ina aus seiner Einsamkeit rettet.

»Nagel im Himmel« erzählt eine Geschichte von Scheitern und Erfolg, Finsternis und Licht, Sehnsucht und Liebe. Ein Bildungsroman über genialische Wissenschaft, rauschhafte Fantasie und menschliche Größe.

Patrick Hofmann, geboren 1971 in Borna, studierte Philosophie, Germanistik und Geschichte in Berlin, Leipzig, Moskau und Straßburg und promovierte über Husserls Theorie der Beschreibung. Für sein Debüt »Die letzte Sau« wurde er 2010 mit dem Robert-Walser-Preis ausgezeichnet. »Nagel im Himmel« ist sein zweiter Roman. Patrick Hofmann lebt in Berlin.

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1

Er zählte. 37, 41, 43, 47. Die Zähne aufeinandergepresst. Ein blasser, zuletzt stark gewachsener Junge. Die dunkelblonden Haare kräuselten sich an der Seite. 53, 59, 61. Er saß schräg hinter seinem Vater im Auto, Samstagnachmittag auf einer Landstraße, unterwegs zur Urnenbeisetzung seiner Oma. Vor ihm die Stiefmutter, neben ihm deren Tochter Alexandra. Die Alten vorn, die Jungen hinten; männlich weiblich kreuzweis. Das flache Land südlich von Leipzig. Die Felder abgeerntet, umgepflügt. Nur hier und da noch dürrer Mais Mitte September.

67, 71, 73. Vor zehn Wochen hatte ihm die todkranke Großmutter erzählt, was sie nicht mit ins Grab nehmen wollte. Anfang Juli. Im gleichen Monat war er vierzehn geworden. Dann war endlich der Sommer vorbeigegangen, hatte die Schule wieder angefangen. Sein drittes Jahr an der Spezialschule.

79, 83, 89, 97. Er hatte immer gezählt. Zahlen waren seine ersten Wörter gewesen: Eins, zwei, drei, ja! Vier, fünf, sechs, gut! Und noch ein Löffel, sieben, acht, neun. Viel zu ihm gesprochen hatte niemand. Oder ihn gehalten; länger gehalten als nötig. Solche Berührungen ließen sich zählen. Und Zählen half. Die Zahlen halfen. Denn sie waren immer da. Nicht hier, aber da. Sein festester Halt, wenngleich imaginär. Er liebte Zahlen. Ganz besonders liebte er später die Primzahlen, von denen niemand wusste, woher sie kamen.

»Geschrien hasde«, hatte die Großmutter bei seinem letzten Besuch im Krankenhaus gekrächzt, »als dich Achim bekam vier Wochen nach der Geburt. Darauf hatten wir uns geeinigt: das Mädchen, ihre Eltern, ich, Harald un Achim, als der noch bei der NVA war. Grad ma achtzn war die un wollte weder den noch ein Baby. De Schwangerschaft hattese zu spät bemerkt. Als nich mehr abgetriem wern konnte. Adoptiern lassen wollte die dich. Aber ihre Eltern hatten erst mit der andern Seite sprechen wolln, mit uns, un die Adresse rausgefunden im Mai neununachtzsch.«

Niemand sagte ein Wort im Auto. 101, 103, 107. Alexandras ausgewachsener Körper irritierte Oliver. Er sah nicht hin. Er ging in die neunte Klasse des Spezi, sie ging in die zwölfte Klasse eines Gymnasiums bei Leipzig. Groß, dunkelhaarig, gelangweilt saß sie neben ihm. Ihre Mutter Vera, eine Angestellte in einem Baumarkt, war drei Jahre älter als sein Vater. Achim hatte die geschiedene Frau kennengelernt, als Oliver in die Grundschule kam. Ein Jahr später waren sie in ihr Haus gezogen, nur ein paar Dörfer entfernt von Olivers Großeltern Harald und Lisbeth Seuß. Die graublauen Augen zusammengekniffen, sah Oliver die kurzen schwarzen Haare, das freie Ohr, die glattrasierte Wange seines Vaters, der seit Jahren in einer Firma für Pumpen- und Abwasseranlagen arbeitete. 109, 113, 127.

»Geschrien, als der dich Ende August, da war der schon fertsch midder Armee, indn Arm hielt, denn du wolltest nich de Flasche. Geschaukelt hat der dich off sein Arm hin un her, mit dir ne Stunde durchn Ort geloofen isser, da hast du immer noch geschrien. Nichema n Kinderwagen hatte der besorgt. Da hat der dich dann ins Bettchen gelegt, is fort – un zwei Stunden später widdergekomm mit ner Fahne. Da hast du dann ooch getrunken.«

Die Urnenbeisetzung fand in kleinerem Kreis statt als die Trauerfeier vier Wochen zuvor, wobei sie immer noch zwanzig Leute waren. Auf dem frisch aufgestellten Grabstein war über Lisbeths Namen, Geburts- und Sterbedatum eben soviel Platz freigelassen worden. Oliver stand seitlich hinter seinem Vater. 317, 331, 337.

»Wie de Leute in dem Sommer abhauten un in Leipzsch drinne demonstrierten, hatten ja nich weiter intressiert. Der suchte Arbeit unne eigne Wohnung, wollte Musik machen, mit sein Kumpels rumziehn, feiern. Da ließ der dich oft bei mir. Das habsch ne Weile mitgemacht. Aber alser dann ma n ganzes Wochenende gar nich nach Hause kam, hats mir gelangt. Ich war dreinsechzsch un hatte fünf Kinder durchgebracht. Ich brauchte ma Ruhe. Da kamsde in de Wochenkrippe.«

Bis zu diesem Gespräch mit der Großmutter hatte Oliver von all dem kaum etwas gewusst. Über seine Mutter wurde nie geredet.

Neben dem rechteckigen dunklen Grabstein präsentierte der Bestatter mit weißen Handschuhen die Urne. Wie ein Zauberer seinen Lieblingstrick. Harald nahm sie noch einmal in die Hand, als ob er sie wiegen wollte, und reichte sie seinem Ältesten. Henry gab sie Achim weiter. Die drei Schwestern weigerten sich, die Urne anzufassen. Der Angestellte polierte den handlichen Metallkörper mit einem grünen Samttuch, bevor er ihn in das akkurat ausgehobene Loch des frisch bepflanzten Grabs versenkte, Erde nachstopfte und die Stelle mit einem Geranientopf krönte. Nachdem er sich aufgerichtet hatte, nickte der alte Mann ernst und entfernte sich.

383, 389, 397, 401.

»Dort warsde von Montag bis Freitag. Versorgt. Mit fünfnzwanzsch andern Babys von Leuten, wos wo ooch grad schwierig war. Hasde widder geschrien, dass dei Nabel offbrach un blutete. Damit konnten die aber umgehn. Da kam e Arzt, hat das genäht un verbunden un warsde dann ruhig. N Knuppel blieb dir von dem Bruch stehn. So dürre, wiede warst, fiel der richtig off unter nem Strampler. Das erschreckte jeden, der dich ma windelte. Wie so n Korken steckte das in deim Bauch. Ab un zu puderten wir den Zippel ein, denn das schien dich zu jucken. Wennde dich gekratzt hast, schimpften wir mit dir, pochten dir off de Fingerchen. Offem Bauch liegen durftsde ooch nich.«

Schwer atmend holte der Großvater aus einem Beutel eine zerbeulte grüne Feldflasche hervor. Seine Töchter sahen ihn verwirrt an. Harald drehte an dem knirschenden Deckel, sodass einige erschauerten. An den Stellen, wo die Farbe von der Flasche abgeplatzt war, schien das blanke Weißblech hervor wie ein Knochen. Endlich sprang der mit einem Strick gesicherte Schraubverschluss Harald aus den Händen.

Er hielt die Flasche hoch. »Diese Flasche hatte ich dabei, als ich mit Lisbeth s erste Mal verabredet war. Im Sommer nachm Krieg. Das Dorf zum Teil zerstört. Überfüllt mit vertriebnen Schlesiern. S gab kee Zimmer, keene Kammer, nichema ne Scheune, in der man ungestört hätte offm Stroh liegen könn. Die Felder abgeerntet. Kahl. Alle Wiesen, alle Straßenränder gemäht. Also ging wir indn Wald, obwo ihr das Angst machte, weil sie off dem Weg hierher durch viele Wälder hatte loofen, manchma sogar drin hatte schlafen oder sich verstecken müssen. Deswegen hatte ich in der Flasche Schnaps. Fracht mich nich, wie das möglich war, an Schnaps zu kommen nachm Krieg. Aber ohne die zwee, drei Schlucke Fusel wärse nich mitgekommen un wahrscheinlich ooch nich in Muckau gebliem.«

Harald hielt den Arm über das frische Grab, goss einen Schwapp über die Blumen und nippte selbst an der Flasche.

Die Leute schluckten. Aber nicht verwirrt wie beim ersten Anblick der Feldflasche, sondern überrascht, wie selbstverständlich diese Zeremonie sich vollzog.

Harald Seuß und seine Kinder waren nicht religiös. Was ein Sakrament war, wusste niemand mehr, obwohl einige noch getauft worden waren. Von den Jahrzehnten, in denen der Kommunistenstaat die Religion verunglimpft und bekämpft hatte, blieb ihnen eine Verachtung des Glaubens. Religion war einfach Humbug, Volksverdummung. Opium, wie jemand mal gesagt hatte. Punkt. Sie glaubten nicht an den Glauben. Das aber nicht aus schierer Gleichgültigkeit wie moderne Menschen, die, wenn sie von einem Schicksalsschlag getroffen worden wären, vielleicht doch eine höhere Macht hätten fürchten können. Sie standen der Kirche feindlich gegenüber wie gute alte Proletarier, die nur an den Lohn von und in ihren Händen glaubten. Diese Haltung zeigten sie sich aber zuletzt nur noch untereinander an ihren Mundwinkeln. Denn die Kirche genoss nach zwei Diktaturen allgemein wieder Anerkennung, und ihr gehörte der Friedhof.

Harald reichte die Flasche Henry, der von diesem Moment an überzeugt war, mit ihrer Hilfe an jenem Tag gezeugt worden zu sein. Nickend, mit vorgeschobenem Unterkiefer wog er die Reliquie in der Hand, nahm ein Schlückchen. Als Nächster Achim.

Oliver verzog genauso abschätzig wie sein Vater den Mund. 409, 419, 421. Er dachte an die Großmutter.

»Ne Arbeit hatter dann noch vor den ersten frein Wahln gefunden innem alten Maschinenbaubetrieb. Unne Wohnung in Kitzscher im Neubaugebiet. Aber mit den Betrieben lief das gar nich gut vor unnoch lange nach der Währungsunion. Da brach ja fast alles zusammen oder wurde kaputt gemacht. Da warer immer widder ma arbeitslos un schimpfte off de Politik. Zumindest hatter dann für dich nen normalen Krippenplatz gekrigt. Ich dachte ja, dassm das Halt gibt, wenner dich jeden Tag hinbringt un abholt. Aber öfter hab ich das gemacht. Oder ooch ma Simone. Wenner nich gekommen war un die uns anriefen. Wir hatten ja n Telefon, also Harald, als Parteisekretär. Sonst wärsde villei ins Heim gekommen.«

Die Flasche ging von Hand zu Hand, Mund zu Mund zu Oliver. Achims Schwestern sahen streng zu ihrem jüngeren Bruder. Der rührte sich nicht. Oliver wusste nicht, was stärker brannte: Haralds Schnaps oder Lisbeths Worte.

»Andn Wochenenden hadder dich manchma bei uns abgeliefert. Manchma ließer dich ooch offm Balkon in der Wohnung. Hochparterre. Im Kinderwagen. Du warst das gewöhnt von der Wochenkrippe: vier Stunden bis zur nächsten Mahlzeit, hast geschlafen oder warst ruhig. Nach vier Stunden kam er dann zurück, gab dir Essen. Ich hab manchma geheult, wenner sich widder irgendwo rumtrieb. Aber jemand hat immer nach dir geschaut.«

Sie standen auf dem Friedhof. Seine Onkel und Tanten unterhielten sich.

»Ich hab das«, sagte Margit, Olivers älteste Tante, »schonn geregelt, dass ich später ma in so e anonymes, naja, Massengrab komme....


Hofmann, Patrick
Patrick Hofmann, geboren 1971 in Borna, studierte Philosophie, Germanistik und Geschichte in Berlin, Leipzig, Moskau und Straßburg und promovierte über Husserls Theorie der Beschreibung. Für sein Debüt »Die letzte Sau« wurde er 2010 mit dem Robert-Walser-Preis ausgezeichnet. »Nagel im Himmel« ist sein zweiter Roman. Patrick Hofmann lebt in Berlin.



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