E-Book, Deutsch, 378 Seiten
Holt Fluch der Seide
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-95530-513-0
Verlag: Edel Elements - ein Verlag der Edel Verlagsgruppe
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
E-Book, Deutsch, 378 Seiten
ISBN: 978-3-95530-513-0
Verlag: Edel Elements - ein Verlag der Edel Verlagsgruppe
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Victoria Holt (eines von mehreren Pseudonymen Eleanor Burfords) wurde in London als Tochter eines literaturbegeisterten Kaufmanns geboren. Da mehr Bücher als Geld im Hause waren, begann sie früh zu lesen und bald auch selbst zu schreiben - anfangs Kurzgeschichten, später zahlreiche Romane, die Bestseller wurden und sie zu einer international berühmten Autorin machten.
Weitere Infos & Material
Das Haus der Seide
Erst als ich der Kindheit entwuchs, dämmerte es mir, daß meine Anwesenheit im Haus der Seide ziemlich mysteriöse Gründe hatte. Ich gehörte nicht richtig zum Haushalt, und doch hing ich leidenschaftlich an ihm. Das Haus der Seide war für mich eine Quelle der Verwunderung; ich träumte von den Geschehnissen, die sich dort abgespielt, und den Menschen, die im Laufe der Jahrhunderte dort gelebt haben mochten.
Natürlich hatte sich im Laufe der Jahre einiges verändert. Die Sallongers hatten das Gebäude umgebaut, als ein Vorfahre von Sir Francis es vor über hundert Jahren erwarb. Er hatte es Haus der Seide genannt – ein höchst unpassender, wenngleich begründeter Name. In den alten Urkunden, die Philip Sallonger mir gezeigt hatte, wird das Gebäude als königliche Jagdhütte in Epping Forest aufgeführt.
Stolz stand es da, als seien die Bäume zurückgewichen, um ihm Platz zu machen. Der Garten muß in der Tudorzeit angelegt worden sein; der ummauerte Teil mit den von roten Ziegelsteinen umschlossenen Kräuterbeeten rings um den Teich, an dem die Hermesstatue stand, als wolle sie jeden Augenblick wegfliegen, war typisch für jene Epoche.
Dichter Wald umgab das Anwesen, und von den Fenstern des obersten Stockwerks aus konnte man die majestätischen Bäume sehen, Eichen, Buchen und Kastanien, schön im Frühling, prachtvoll im Sommer, herrlich im Herbst mit den bunten Blättern, die, wenn sie herabfielen, einen Teppich bildeten, durch den wir so gerne geräuschvoll schlurften; aber auch im Winter waren die Bäume schön, wenn sie, ihres Laubes entkleidet, vor dem grauen und oft stürmischen Himmel reizvolle Strukturen bildeten.
Als die Sallongers das geräumige Haus übernahmen, vergrößerten sie es noch. Es diente ihnen als Landsitz. Sie besaßen auch ein Stadthaus, wo Sir Francis sich die meiste Zeit aufhielt; und wenn er nicht dort war, reiste er durch das Land, denn neben dem Hauptwerk in Spitalfields besaß er Fabriken in mehreren Gegenden Englands. Den Sprung in den Adel hatte sein Großvater geschafft, der als einer der größten Seidenfabrikanten des Landes eine Stütze der Gesellschaft darstellte.
Seide war für Sir Francis wichtiger als alles andere, und er hoffte, daß es bei seinen Söhnen Charles und Philip ebenso sein werde, wenn sie ihm einmal bei der Herstellung des schönsten aller Stoffe zur Hand gingen. Wegen dieser Hingabe der Familie an dieses Erzeugnis und in völliger Mißachtung der historischen Zusammenhänge waren die Worte HAUS DER SEIDE in großen Bronzelettern über dem alten Eingangstor angebracht worden.
Ich konnte mich nicht erinnern, daß ein anderer Ort als das Haus der Seide je mein Heim gewesen wäre. Ich befand mich in einer merkwürdigen Situation, und ich wunderte mich über mich selbst, daß mir das nicht früher aufgefallen war. Kinder halten wohl fast alles für selbstverständlich. Sie kennen nichts anderes als ihre unmittelbare Umgebung.
Ich wuchs in der Kinderstube mit Charles, Philip, Julia und Cassandra, gewöhnlich Cassie genannt, auf. Es war mir nicht bewußt, daß ich wie ein Kuckuck im Nest war. Für sie waren Sir Francis und Lady Sallonger Papa und Mama, für mich waren sie Sir Francis und Lady Sallonger. Nanny, die Herrscherin über die Kinderstube, musterte mich oft mit geschürzten Lippen, denen leise Luft entwich, was auf eine kritische Einstellung hindeutete. Ich wurde schlicht Lenore gerufen, nicht Fräulein Lenore. Bei den anderen hieß es stets Fräulein Julia und Fräulein Cassie. Auch die Haltung des Kindermädchens Amy, die mich bei den Mahlzeiten immer zuletzt bediente, brachte diese Einstellung zum Ausdruck. Ich spielte mit den abgelegten Spielsachen von Julia und Cassie, nur dann und wann bekam ich eine eigene Puppe oder dergleichen zu Weihnachten. Miss Everton, die Erzieherin, betrachtete mich zuweilen mit einer Miene, die an Verachtung grenzte, und es schien ihr gegen den Strich zu gehen, daß ich eine schnellere Auffassungsgabe besaß als Julia und Cassie. Ich hatte also gewarnt sein müssen.
Der Butler Clarkson übersah mich, aber die anderen Kinder übersah er genauso. Er war ein sehr bedeutender Herr, der mit Mrs. Dillon, der Köchin, im Parterre regierte. Sie waren die Aristokraten der Dienstbotenquartiere, wo die Klassenunterschiede strikter beachtet wurden als in den oberen Etagen. Alle Bediensteten hatten ihren festen Platz in der Hierarchie, von dem sie nicht abrücken konnten. Clarkson und Miss Dillon wachten so streng über das Protokoll, wie es am Hofe der Königin Viktoria angemessen gewesen wäre. Bei Tisch hatte jeder der Dienstboten seinen bestimmten Platz, Clarkson am oberen Ende, Miss Dillon am unteren. Rechter Hand von Miss Dillon saß der Lakai Henry. Wenn Miss Logan, Lady Sallongers Zofe, in der Küche aß, was sie nicht oft tat, da sie sich ihre Mahlzeiten aufs Zimmer bringen lassen konnte, saß sie an der Seite von Clarkson. Das Stubenmädchen Grace hatte seinen Platz neben Henry. Ferner waren da noch die Dienstmädchen May und Jenny, das Kindermädchen Amy und das Hausmädchen Carrie. Kam Sir Francis ins Haus der Seide, nahm der Kutscher Cobb an den Mahlzeiten des Personals teil, aber die meiste Zeit blieb er in London, wo er über dem an die Stadtresidenz angrenzenden Kutschhaus eine eigene Unterkunft bewohnte. Dann gab es noch etliche Stallburschen, die ihre Quartiere über den Stallungen hatten. Diese waren sehr geräumig, denn außer den Reitpferden beherbergten sie ein Gig und einen Dogcart. Und natürlich wurde dort auch Sir Francis’ Kutsche abgestellt, wenn er ins Haus der Seide kam.
Soweit das Parterre. Und im Niemandsland zwischen den oberen und unteren Rängen der Gesellschaft schwebte gleichsam Miss Everton, die Erzieherin. Ich dachte oft, sie müsse sehr einsam sein. Sie nahm die Mahlzeiten, die ihr von mürrischen Mädchen hinaufgebracht wurden, in ihrem Zimmer ein. Nanny aß natürlich in ihrem an die Kinderstube angrenzenden Zimmer; sie hatte dort einen Spirituskocher, auf dem sie sich selbst etwas zubereitete, wenn sie nicht mit dem vorliebnehmen wollte, was in der Küche aufgetischt wurde. Und stets brannte in ihrem Zimmer ein Feuer im Kamin, der einen Vorsprung für den Wasserkessel besaß, aus dem sie sich ihre unzähligen Tassen Tee aufbrühte.
Julia war ein gutes Jahr älter als ich; die Jungen waren uns um etliche Jahre voraus, Charles war der älteste. Sie wirkten über alles erhaben und sehr erwachsen. Philip übersah uns hauptsächlich, Charles dagegen drangsalierte uns, wenn ihn die Lust ankam. Julia neigte zur Hochnäsigkeit; sie war von hitzigem Temperament und erging sich dann und wann in unbeherrschten Wutausbrüchen. Ich zankte mich ziemlich oft mit ihr. Dann pflegte Nanny zu sagen: »Also, Fräulein Julia! Also, Lenore! Schluß jetzt! Ihr geht mir auf die Nerven.« Nanny machte viel Aufhebens um ihre Nerven. Man mußte stets Rücksicht auf sie nehmen.
Cassie war etwas Besonderes. Sie war die jüngste von uns allen. Ich hatte munkeln hören, daß sie es bei ihrer Geburt Lady Sallonger »sehr schwergemacht« habe und daß die Lady »keine Kinder mehr« bekommen könne. Das war wohl die Erklärung für Cassies Behinderung. Ich hatte die Dienstboten, wenn sie Cassie erspähten, von »Instrumenten« flüstern hören, was mich an die Folterinstrumente und Daumenschrauben der Inquisition denken ließ. Sie spielten jedoch auf Cassies rechtes Bein an, das kürzer geraten war als das linke, weswegen sie hinkte. Sie war klein und blaß und galt als »zart«. Sie besaß dafür ein sanftes, liebenswürdiges Naturell, und ihre Behinderung hatte sie nicht im geringsten verbittert gemacht. Sie und ich liebten einander innig. Wir lasen gemeinsam und nähten oft gemeinsam, denn wir waren beide geschickt im Umgang mit der Nadel. Ich glaube, mein Geschick hatte ich Grandmère zu verdanken.
Grandmère war die wichtigste Person in meinem Leben. Sie war der einzige Mensch im Hause, zu dem ich wirklich gehörte. Wir waren beide vom übrigen Haushalt abgesondert. Sie sah es gern, wenn ich die Mahlzeiten mit den anderen Kindern einnahm, obwohl ich lieber mit ihr gegessen hätte, und sie sah es gern, wenn ich mit ihnen Reitstunden nahm. Vor allem aber wünschte sie, daß ich mit ihnen lernte. Grandmère war ein Teil meines Geheimnisses. Sie war meine Grandmère und nicht die ihre.
Sie bewohnte das oberste Geschoß des Hauses mit dem großen Raum, den ein Sallonger ausgebaut hatte. Dieser Raum hatte hohe Fenster und ein Glasdach, um das Licht einzulassen. Grandmère brauchte das Licht. Hier hatte sie ihren Webstuhl und ihre Nähmaschine, und hier arbeitete sie tagsüber. Neben der Maschine standen die Schneiderpuppen, die wie Abgüsse lebendiger Menschen aussahen: drei wohlgestaltete Damen unterschiedlicher Größe, oft mit erlesenen Kleidungsstücken angetan. Ich hatte ihnen Namen gegeben: Die kleine hieß Emmelina, die mittlere Lady Ingleby, und die größte war die Herzogin von Malfi. Von Spitalfields wurden Stoffballen angeliefert. Grandmère entwarf zunächst die Kleider, dann machte sie sich an die Fertigung. Den Geruch der Stoffballen werde ich nie vergessen. Ich merkte mir ihre exotischen Namen. Neben feinen Seiden, Satins und Brokaten gab es Lustrine, Alamode, Paduasoie, Samt und Duchesse. Oft saß ich da, lauschte auf das Surren der Nähmaschine und beobachtete, wie Grandmères kleiner schwarzer Pantoffel den Tritt bediente.
»Reich mir die Schere, ma petite! « sagte sie. »Bring mir die Stecknadeln! Ah, was täte ich nur ohne meinen kleinen Lehrling.« Dann war ich glücklich.
»Du arbeitest sehr schwer, Grandmère«, sagte ich eines Tages zu ihr.
»Ich hab’s gut getroffen«, erwiderte sie. Sie sprach eine Mischung aus Französisch und Englisch. Im Schulzimmer lernten wir...




