Honigmann | Damals, dann und danach | E-Book | www.sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 136 Seiten

Honigmann Damals, dann und danach


1. Auflage 2024
ISBN: 978-3-446-28151-6
Verlag: Hanser, Carl
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, 136 Seiten

ISBN: 978-3-446-28151-6
Verlag: Hanser, Carl
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Kann Deutschland Heimat werden für eine nach dem Krieg geborene Jüdin? Barbara Honigmann ist 1984 von Ost-Berlin nach Straßburg gezogen. Von dort, von ihrer neuen fremden Heimat aus, erkundet sie die zwei Seiten ihres Lebens: Das »Damals«, die vergangenen Spuren ihrer Familiengeschichte, und das »Danach«, ihre Gegenwart, die von der Vergangenheit geprägt bleibt. Ein überaus persönliches Buch, das davon erzählt, wie eng Gestern und Heute verknüpft sind.

Barbara Honigmann, 1949 in Ost-Berlin geboren, arbeitete als Dramaturgin und Regisseurin. 1984 emigrierte sie mit ihrer Familie nach Straßburg, wo sie noch heute lebt. Honigmanns Werk wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u.a. dem Heinrich-Kleist-Preis, dem Max-Frisch-Preis der Stadt Zürich, dem Jakob-Wassermann-Preis, dem Bremer Literaturpreis 2020, dem Jean-Paul-Preis 2021, dem Literaturpreis der Konrad-Adenauer-Stiftung 2022 und zuletzt dem Goethe-Preis der Stadt Frankfurt 2023. Bei Hanser erschienen Damals, dann und danach (1999), Alles, alles Liebe! (Roman, 2000), Ein Kapitel aus meinem Leben (2004), Das Gesicht wiederfinden (2007), Das überirdische Licht (Rückkehr nach New York, 2008), Chronik meiner Straße (2015), Georg (2019) und Unverschämt jüdisch (2021).
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Selbstporträt als Jüdin


Mein Vater und meine Mutter sind tot. Die Rolle »Kind meiner Eltern« ist ausgespielt, ich muß selber in die vordere Reihe in der Kette der Generationen treten, wo zwischen dem Tod und mir niemand mehr steht. Aber nicht nur das ist es, was weh tut.

Ich glaube, wir Kinder von Juden aus der Generation meiner Eltern sind, vielleicht überall, aber in Deutschland besonders lange, Kinder unserer Eltern geblieben, länger jedenfalls als andere. Denn es war schwer, der Geschichte und den Geschichten unserer Eltern zu entrinnen. Andere haben solche Geschichten gehört: von der Front, von Stalingrad, von der Flucht aus Ostpreußen und Schlesien, von der Kriegsgefangenschaft, und von den Bomben auf die deutschen Städte. Die Legenden meiner Kindheit aber waren andere, und ich bin sehr lange in ihrem Bann geblieben. Im Bann der Gesänge von den mythischen Orten und Begebenheiten, tausendmal genannt und zugleich von viel Schweigen umgeben:

Die Routen des Exils

Überfahrten bei stürmischer See

Versunkene Städte

Die Treue der Gefährten

Die Untreue der Gefährten

Das rettende Land

Die Insel des Überlebens

Eine fremde Sprache

Wien vor dem Krieg

Berlin vor dem Krieg

Paris bis zur Okkupation

London

Bomben auf London

der Blitz.

Mein Vater wurde auf einer kleinen Schaluppe nach Kanada hinübergebracht und interniert. Meine Mutter war gerade beim Friseur, sie konnten sich nicht einmal mehr verabschieden. Im Lager mußte er Bäume fällen und hatte keine Ahnung, wo er da war, in Kanada. Ein Wunder, daß er heil zurückgekommen ist, links und rechts wurden die Schiffe versenkt mitten im U-Boot-Krieg. Ein paar versprengte deutsche Juden in einer Nußschale auf dem Ozean, zwischen Kanada und England, hingen über Bord und kotzten.

Später wurde mein Vater bei Reuters Chef vom European Service und meine Mutter Werkzeugmeisterin in einem Rüstungsbetrieb. So kämpften sie gegen die Deutschen, und dann kehrten sie nach Deutschland zurück.

Sie hatten sich für die russische Zone entschieden. Eine Art Überlaufen war das, von den Engländern zu den Russen. Sie lebten weiterhin nur unter Emigranten. Die Emigranten, das war der Adel, und der Adel verkehrte nur unter Seinesgleichen. Nicht-Emigranten waren nicht standesgemäß. Die Freunde und Freundinnen meiner Kindheit waren Kinder von Emigranten, so wie ich.

Jetzt, da meine Eltern tot sind, gebe ich leicht der Versuchung nach, wieder in den Bannkreis dieser Mythen zu treten. Aber ich höre nun auch die Dinge, die damals wahrscheinlich nicht gesagt worden sind, und sehe, oder glaube zu sehen, was versteckt wurde.

»Was ist eigentlich aus den anderen geworden, aus euren Familien in Ungarn, Österreich und Deutschland? Sind sie tot, leben sie noch, was für ein Leben, wo?

Warum sprecht ihr nicht von den Gräbern eurer Eltern, warum sprecht ihr überhaupt so wenig von euren Eltern? Was wolltet ihr um Himmels willen in der DDR? War es mehr als der Parteiauftrag? War es nur der Parteiauftrag? Warum habt ihr euch unterworfen?«

Diese Fragen waren schmerzlich und wurden es mit den Jahren immer mehr. Später habe ich sie, um meine Eltern zu schonen, nicht mehr gestellt. Meine Mutter hat nur mit den Schultern gezuckt. Mein Vater war etwas offener, und dies war sein Credo: »Ich bin ein Urenkel der Aufklärung, und ich habe an Vernunft und an die Idee der Gleichheit und Brüderlichkeit geglaubt. Nicht die Juden von Schtetl waren »unsere Leut«, sondern die Männer der kommunistischen Idee waren es. Außerdem bin ich ein deutscher Jude, ein jüdischer Deutscher, die wollten mich aus Deutschland weg haben, aber ich bin wiedergekommen, das gibt mir Genugtuung. Ich gehöre hierher, auch wenn es mir hier kühl und leer ums Herz ist.«

Vielleicht kam diese Kühle und Leere nicht nur davon, daß aus dem Sozialismus, den meine Eltern aufbauen wollten, nichts wurde, sondern auch davon, daß sie vollkommen zwischen den Stühlen saßen, nicht mehr zu den Juden gehörten und keine Deutschen geworden waren.

Viel später habe ich für mein Leben entschieden, daß auch das Jüdische darin Platz haben sollte. In den siebziger Jahren schrieb ich mich wieder in die Jüdische Gemeinde ein, aus der meine Eltern in den fünfziger Jahren ausgetreten waren. Es gab dort schon eine kleine Gruppe von mehr oder weniger jungen Leuten, aus ähnlichen Elternhäusern kommend, die »zurückkehren« wollten, und erst viel später erfuhren wir, daß wir Teil einer weltweiten Rückkehrbewegung zum Judentum waren. Wir fingen an, Hebräisch zu lernen und uns dafür zu interessieren, was in der hebräischen Bibel und in dem sagenumwobenen Talmud steht, denn wir hatten immerhin schon gehört, daß es mit der jüdischen Bibel auf dem Wege bis zur Lutherbibel etwa so wie bei dem Spiel ›Stille Post‹ zugegangen war. Jüdisches Wissen hatten mir meine Eltern verschwiegen oder hatten es selbst nicht gehabt.

Als mein erster Sohn geboren wurde, wollte ich, daß er nicht nur »jüdischer Herkunft« sei, sondern mit mir zusammen auch ein jüdisches Leben führen könne. Diese Entscheidung ist mir oft als Flucht in die Orthodoxie ausgelegt worden. In Wirklichkeit war ich auf der Suche nach einem Minimum jüdischer Identität in meinem Leben, nach einem selbstverständlichen Ablauf des Jahres nicht nach dem christlichen, sondern nach dem jüdischen Kalender und einem Gespräch über Judentum jenseits eines immerwährenden Antisemitismus-Diskurses. Ein Minimum, würde ich auch heute noch sagen, etwas, das mir gerade gut paßt für ein Leben zwischen den Welten, aber für deutsche Verhältnisse ist es eben schon zuviel.

Deshalb mußten wir weg. Die jüdischen Gemeinden sind zu klein und lassen zu wenig Spielraum für ein jüdisches Leben, und außerdem habe ich den Konflikt zwischen den Deutschen und den Juden immer als zu stark und eigentlich als unerträglich empfunden. Die Deutschen wissen gar nicht mehr, was Juden sind, wissen nur, daß da eine schreckliche Geschichte zwischen ihnen liegt, und jeder Jude, der auftauchte, erinnerte sie an diese Geschichte, die immer noch weh tut und auf die Nerven geht. Es ist diese Überempfindlichkeit, die mir unerträglich schien, denn beide, die Juden und die Deutschen, fühlen sich in dieser Begegnung ziemlich schlecht, sie stellen unmögliche Forderungen an den anderen, können sich aber auch gegenseitig nicht in Ruhe lassen.

Obwohl ich selbst das Jüdische thematisiere und auf meinem jüdischen Leben insistiere, bin ich schockiert, wenn man mich darauf anspricht, empfinde es als Indiskretion, Aggression, spüre die Unmöglichkeit, in Deutschland über die »jüdischen Dinge« unbelastet, unverkrampft zu sprechen. Ich reagiere gereizt, die Reaktionen auf beiden Seiten scheinen mir überstark und jedes Wort, jede Geste falsch.

Manchmal, eher selten, haben mir auch Deutsche gesagt, daß sie ein Gespräch über Judentum als ebenso quälend und eingeschränkt empfinden. Die gespielte Leichtigkeit derer, die ein bewußtes Judentum nur als einen Tick auffassen, ist allerdings noch schwerer zu ertragen, weil sie mir meine Identität gänzlich abzusprechen scheinen und ihre Unfähigkeit zeigen, ein anderes Leben als das ihre zu ertragen.

Es kommt mir manchmal vor, als wäre erst jetzt die so oft beschworene deutsch-jüdische Symbiose, dieses Nicht-voneinander-loskommen-Können, weil die Deutschen und die Juden in Auschwitz ein Paar geworden sind, das auch der Tod nicht mehr trennt.

Es ist dieser Konflikt, diese Übergespanntheit, wovor ich weggelaufen bin. Hier, in Frankreich, geht mich alles viel weniger an, ich bin nur ein Zuschauer, ein Gast, eine Fremde. Das hat mich von der unerträglichen Nähe zu Deutschland befreit.

Fragte man mich, ob ich deutsch oder jüdisch sei, würde ich schon deshalb jüdisch sagen, um mich von den Deutschen abzugrenzen. Das deutsche Volk steht ja nicht in Frage, der Begriff vom jüdischen Volk aber bleibt doch immer im Vagen und Ungewissen. In guten alten DDR-Tagen durfte sogar offiziellerweise gesagt werden: »Wir kennen kein jüdisches Volk.« Schon deshalb mußte ich meine Zugehörigkeit zum jüdischen Volk herausstellen. Mein Judentum ist eine wichtige Dimension meines Lebens, jedenfalls etwas, aus dem ich nicht...


Honigmann, Barbara
Barbara Honigmann, 1949 in Ost-Berlin geboren, arbeitete als Dramaturgin und Regisseurin. 1984 emigrierte sie mit ihrer Familie nach Straßburg, wo sie noch heute lebt. Honigmanns Werk wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u.a. dem Heinrich-Kleist-Preis, dem Max-Frisch-Preis der Stadt Zürich, dem Jakob-Wassermann-Preis, dem Bremer Literaturpreis 2020, dem Jean-Paul-Preis 2021, dem Literaturpreis der Konrad-Adenauer-Stiftung 2022 und zuletzt dem Goethe-Preis der Stadt Frankfurt 2023. Bei Hanser erschienen Damals, dann und danach (1999), Alles, alles Liebe! (Roman, 2000), Ein Kapitel aus meinem Leben (2004), Das Gesicht wiederfinden (2007), Das überirdische Licht (Rückkehr nach New York, 2008), Chronik meiner Straße (2015), Georg (2019) und Unverschämt jüdisch (2021).



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