Hüchtker | Geschichte als Performance | Buch | 978-3-593-50070-6 | sack.de

Buch, Deutsch, Band 65, 386 Seiten, Format (B × H): 141 mm x 213 mm, Gewicht: 500 g

Reihe: Geschichte und Geschlechter

Hüchtker

Geschichte als Performance

Politische Bewegungen in Galizien um 1900

Buch, Deutsch, Band 65, 386 Seiten, Format (B × H): 141 mm x 213 mm, Gewicht: 500 g

Reihe: Geschichte und Geschlechter

ISBN: 978-3-593-50070-6
Verlag: Campus Verlag GmbH


Am Beispiel dreier Frauen – einer Aktivistin der polnischen Bauernbewegung, einer ruthenischen Feministin und einer Zionistin – analysiert die Studie politische Bewegungen in Galizien um 1900 als Performance, als Zusammenspiel von Mitwirkenden, Stücken, Bühnen und Auftritten. Die Aktivistinnen konstruierten die Geschichte ihrer Benachteiligung, sie organisierten Räume, in denen eine bessere Zukunft vorgeführt wurde, sie inszenierten ihre Deutungen als historisch begründete Unumgänglichkeit des Wandels. So gelang es ihnen, diese 'identity politics' bis in die Narrative der heutigen Geschichtswissenschaft hinein zu etablieren.
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Autoren/Hrsg.


Weitere Infos & Material


Inhalt
Einleitung 7
Arenen: Politik in Galizien 10
Werkzeuge: Performance, Performativität, Ritual und Raum 18
Regeln: Forschungskontexte 27
Strategien: Vorgehensweisen 37
I. Aufgaben finden: Die Mitwirkenden 46
Heroisch erzählen oder: Maria Wys?ouchowa und die Liebe 50
Dramatisch inszenieren oder: Natalja Kobryns'ka und die Bücher 83
Theatralisch auftreten oder: Rosa Pomeranz und das Charisma 118
II. Propagieren: Die Stücke 153
Erschreiben von Kollektiven 157
Komponieren von Erfahrung 174
Darstellen von Geschichte 186
III. Organisieren: Die Bühnen 198
Ritualisieren von Bildung 201
Einüben von Nation 219
Entwerfen von Gesellschaft 234
IV. Mobilisieren: Die Aufführungen 251
Rezitationen über Vorbilder 253
Monologe über Konkurrenz 271
Dialoge über Praxis 286
Schluss 302
Abkürzungsverzeichnis 316
Literatur 317
Handschriften und Archivalien 317
Zeitgenössische Literatur 320
Forschungsliteratur 333
Abbildungsnachweis 371
Dank 372
Register 374
Ortsregister 374
Personenregister 378


Einleitung
"Wir behaupten, dass Lemberg, Leopolis, Lvov, L'viv und Lwów nur verschiedene Namen für ein und dieselbe Stadt sind, […] dabei handelt es sich um verschiedene Städte, und der Übergang von einer Stadt in die andere unterliegt sehr genauen Regeln." Am Ende des Ersten Weltkriegs und am Ende von Thomas Pynchons Roman Gegen den Tag berichtet der "Algebraiker" E. Percy Movay dem "alte[n] Vektorianer" Kit von einer "legendären Gruppe von Mathematikern in Lwów […] weit hinten im wilden Grenzland des nun nicht mehr existierenden österreichisch-ungarischen Reichs". Dort stößt Kit auf eine Reihe erstaunlicher mathematischer Theorien und reist vom Hauptbahnhof nach Westen und nach Osten, um in Shambhala, einem verborgenen Ort, zu landen und unerwartet in Paris wieder aufzutauchen. Als Vektorianer sucht er nach den mathematischen Formeln, mit denen man die Dimensionen von Raum und Zeit durchmessen kann, als Forscher weiß er um die Verschiedenheit der Theorien, als aus Colorado stammender Sohn eines Bergarbeiters und Gewerkschaftsbosses erfährt er noch andere Dimensionen der Wirklichkeit. Er muss die beschränkte Reichweite mathematischer Regeln anerkennen, ihre Begrenzung durch andere Regeln, durch Emotionen, Interessen oder Naturereignisse.
In Pynchons Roman bewegen sich die Protagonist/innen zu Fuß, zu Pferde, mit einem Luftschiff zwischen der Weltausstellung von 1893 in Chicago und den Jahren kurz nach dem Ersten Weltkrieg, zwischen Colorado, Europa und Sibirien. Sie erleben und beobachten die unterschiedlichen Wahrnehmungen und Deutungen von Geschichte, die Ausschließlichkeit, mit der die eigene Sicht beansprucht wird, ebenso wie die Parallelität unterschiedlicher Ausschließlichkeiten. Sie thematisieren die Suche nach Gesetzmäßigkeiten und akzeptieren Interpretationen, die Bedeutung von sozialen Bindungen und deren gewaltsame Zerstörung, das Scheitern von Zielen und Ideen und den dennoch sich durchsetzenden Veränderungen: Man kann den Roman als Suche nach den Regeln des Wandels, der zahlreichen Übergänge von einem Ort und einer Zeit in einen anderen und eine andere interpretieren. So sind auch die Namen der Stadt Lemberg in Polen-Litauen, im österreichischen Teilungsgebiet oder habsburgischen Kronland Galizien, in der jüdischen Diaspora, in den Zeiten russischer und sowjetischer Herrschaft, im Westen der Ukraine und im Südosten der Zweiten Republik Polen nicht nur Übersetzungen - sondern die Übersetzungen erzeugen unterschiedliche Referenzräume mit divergierenden geografischen und temporalen Bezügen sowie aufeinander aufbauenden, gegeneinanderstehenden, sich ausschließenden und überlappenden politischen und historischen Geschichten. Zwischen den Zeiten, Räumen und Geschichten zu wechseln, ist nicht einfach und erfordert es, die Regeln zu kennen, sie zu formulieren und zu brechen. Die Vielfältigkeit der Referenzräume und die Regeln des Übergangs stehen im Fokus der folgenden Studie zur Geschichte politischer Bewegungen in Galizien.
Politisch aktiv zu sein, bedeutet nicht nur, Forderungen oder Argumente zu formulieren, sondern auch, Narrative zu verfassen und Praktiken zu choreografieren. Erst so werden aus Ereignissen Gesellschaftsvorstellungen, die festgehalten und körperlich, das heißt im Handeln, manifestiert sind und verändert werden. Die politischen Bewegungen des 19. Jahrhunderts konstruierten einen Zusammenhang zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, der sich auf Erfahrung berief und historische Interpretationen zu Wahrheiten machte. Das heißt, sie konstituierten, so der Ausgangspunkt der Überlegungen, identity politics, deren Darstellungsweisen und deren Praktiken die Wahrnehmung und Gestaltung von Geschichte, Geschichtswissenschaft und Politik bis heute prägen.
Für politische Bewegungen - National-, Arbeiter-, Bauern- und Frauenbewegungen - spielte die Historisierung des Wissens eine zentrale Rolle. Sie konstruierten Kollektive mit einer gemeinsam erfahrenen Geschichte der Unterdrückung oder Benachteiligung, aus der sie die Notwendigkeit des Handelns ableiteten und mit der sie die Gestaltung einer "besseren Zukunft" versprachen. Sie etablierten Narrative über Historizität und Erfahrung sowie Praktiken der Partizipation und des Wandels. Auf diese Weise setzten sie ihre Ziele in praktische Arbeit um und konstruierten Lesarten oder Deutungsweisen der Gesellschaft. Alle Bewegungen bedienten sich bildungspolitischer und sozialreformerischer Projekte, die einen über politische Differenzen, nationale Narrative und regionale Spezifika hinweg lesbaren und verstehbaren Code herausbildeten, um den Wandel zu propagieren und zu konstituieren. Der Code - Bildung, Wissen, Modernität und Fortschritt - war eine Waffe, mit der gekämpft wurde, beziehungsweise das Angebot, das die jeweiligen Akteur/innen in die Auseinandersetzungen um eine bessere Gesellschaft einbrachten. Um debattieren und konkurrieren zu können, musste man sich über die Art und die Regeln des Kampfes einigen. Daher waren die Codes für die Zeitgenoss/innen lesbar und kommunizierbar, so antagonistisch die mit ihnen beschriebenen Positionen und Richtungen bisweilen scheinen mochten, wenn Fortschritt und Tradition unvereinbar gegeneinandergestellt wurden, wenn mit nationaler In- und Exklusion oder mit dem Vorwurf des Nations- und Kulturverlusts oder Verrats - mit harten Bandagen - gekämpft wurde.
Geschichte ist nicht einfach eine chronologische Abfolge von Ereignissen, Ereignisse geschehen diachron neben-, gegen- und miteinander. Mit Geschichte werden sie in eine Beziehung zueinander gebracht, Geschichtsschreibung analysiert und/oder stellt diese Zusammenhänge dar. Jenseits der epistemologischen und philosophischen Debatten, ob Geschichtswissenschaft induktiv oder deduktiv arbeitet (oder arbeiten sollte), hermeneutisch oder analytisch, bleibt das Problem der Darstellung von Kontingenz und Dependenz historischer Logiken erhalten. Geschichte, ebenso wie Geschichtswissenschaft, besteht in der Darstellung historischer Phänomene. Dies sind sowohl Strukturen als auch Ereignisse, in sie gehen die Logik von Argumentationen und die Schlüssigkeit des Plots, Emotionen und Praktiken ein. Vor allem aber ist Geschichte eine Praxis des Wandels, des Wandels in der Weise, wie Ereignisse wahrgenommen und dargestellt werden. Geschichtswissenschaft bedient sich selbst in analytisch und strukturalistisch angelegten Studien der exemplarischen Darstellung - der politischen Zäsuren und historischen Ausnahmesituationen, der Unterscheidung von Epochen und Regionen. Das heißt, in der Geschichte wie in der Geschichtsschreibung werden Narrative entfaltet.
Narrativität ist ein Konzept oder Denkansatz, der die Entwürfe über die Welt, das heißt das Wie von Veränderungen, die Abstimmung neuer Regeln, Durchsetzungsmechanismen, Abhängigkeit und Ungebundenheit, in den Blick nehmen kann. Darüber hinaus impliziert Narrativität Rollen: Erzähl- und Rezeptionsinstanzen, Erzähler/innen und Zuhörer/innen. Narrativität meint folglich Praktiken, ihre Deutungen und ihre Veränderungen, nicht feststehende Diskurse oder hegemoniale Sinnzwänge. Das Erzählen von historischen Geschichte(n) folgt Regeln wie das von fiktionalen. Eine simple Unterscheidung zwischen Fiktion (erzählende Literatur) und Faktizität (analytische Historiografie) greift daher zu kurz. Das bedeutet nicht, dass das "Vetorecht der Quellen" und damit Falsifizierbarkeit oder Verifizierbarkeit der Erzählung außer Kraft gesetzt wäre. Wie die historischen Akteur/innen Geschichte erzählen und Wandel praktizieren und wie gleichzeitig Erzählung und Wandel eingehen in ein weiteres Narrativ, das der Autorin, ist Gegenstand der Studie.
Drei Überlegungen stehen am Anfang über das Schreiben von Geschichte im doppelten Sinn: im Sinn von politischen Bewegungen, die Geschichte machten, indem sie den gesellschaftlichen Wandel prägten, und im Sinn einer Historiografie, die die divergierenden Raum- und Zeitkonstruktionen integriert. Die Studie bietet erstens ein Beispiel, wie Geschichte jenseits von national- und politikgeschichtlichen master narratives geschrieben werden kann. Sie zeigt zweitens die Relationalität von Inszenierung und Wirkmächtigkeit. Und sie entwickelt drittens eine Darstellungsweise, die unterschiedliche Ebenen des politischen Engagements, Subjektivität, Narrativität und Performativität, Erzählen und Handeln, Motive und Kontexte miteinander verbindet: Sie zeigt Geschichte als Performance und Geschichtsschreibung als Praxis des Erzählens.


Dietlind Hüchtker, PD Dr. habil., arbeitet am Geisteswissenschaftlichen Zentrum für Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas an der Universität Leipzig.


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