E-Book, Deutsch, Band 5, 397 Seiten
Reihe: Ein Joe-Pitt-Thriller
Huston The Vyrus: Ausgesaugt
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-98690-536-1
Verlag: dotbooks
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Ein Joe-Pitt-Thriller 5 | »Huston ist der brillanteste Stilist des Genres«, sagt Stephen King
E-Book, Deutsch, Band 5, 397 Seiten
Reihe: Ein Joe-Pitt-Thriller
ISBN: 978-3-98690-536-1
Verlag: dotbooks
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Charlie Huston wurde 1968 in Oakland, Kalifornien geboren. Nach einem Theaterstudium zog er nach New York, wo er als Schauspieler und Barkeeper arbeitete, bevor er sich ganz dem Schreiben widmete. Seine »Vyrus«-Reihe, für die er unter anderem mit dem wichtigsten amerikanischem Krimipreis, dem Edgar-Award, nominiert wurde, erzählt den Überlebenskampf von Privatermittler Joe Pitt in der New Yorker Unterwelt. Charlie Huston lebt mit seiner Frau, einer bekannten Schauspielerin, in Los Angeles. Bei dotbooks veröffentlichte der Autor seine packende Serie um den New Yorker Privatermittler Joe Pitt: »The Vyrus: Stadt aus Blut« »The Vyrus: Blutrausch« »The Vyrus: Das Blut von Brooklyn« »The Vyrus: Bis zum letzten Tropfen« »The Vyrus: Ausgesaugt« Außerdem bei dotbooks erschienen ist sein Thriller »Killing Game«.
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KAPITEL 1
Es ist nur ein kleines bisschen mehr Wärme als üblich, aber ich spüre sie genau. Außerdem wittere ich abgestandene Luft. Wärme und Kohlendioxid – eine Kombination, die auf einen lebenden Organismus schließen lässt. Irgendetwas atmet ein und aus, Luft füllt die Lunge, Sauerstoff wird verbraucht. Bei allem, was warm und lebendig ist, steht eins in jedem Fall fest: Es ist mit Blut gefüllt.
Vor mir im Dunkeln bewegt sich ein lebender Körper.
Zumindest lebt er im Moment noch.
Ich hätte nicht gedacht, dass er so schwer zu finden sein würde. Als er in den Freedom Tunnel rannte, war er mit dem Blut des Krüppels förmlich durchtränkt; ziemlich unwahrscheinlich, dass ich diese Spur verlieren würde. Ich wollte ihm ganz gemütlich hinterherschlendern und ab und zu gegen einen Schrotthaufen treten, damit er auch mitkriegt, dass ich komme. Ich rechnete fest damit, dass er irgendwann vor Erschöpfung stehen bleiben und sich in eine dunkle Nische kauern würde. Das Komplizierteste an der Sache wäre die Entscheidung, ob ich ihn aus seinem Versteck zerren und dabei ein paar Schnittwunden riskieren sollte oder ob ich mir irgendetwas suchen würde, das ich ein paarmal in die Nische ramme, um ihm damit den Schädel einzuschlagen.
Aber dann hat er in Kloake gebadet.
Keine Ahnung, ob er das geplant hat. So, wie er vorhin ausgeflippt ist und den Krüppel zugerichtet hat, hätte ich eher vermutet, dass strategisches Vorgehen nicht gerade seine Stärke ist. Andererseits hat er sich, gleich nachdem er den U-Bahn-Tunnel verlassen hat, in einem verstopften Kanal in einer Abwasserpfütze gewälzt. Danach konnte ich ihn nicht mehr wittern.
Vorher roch der Typ nach Schlachthof. Jetzt duftet er wie ein wandelndes Dixie-Klo. Und so ziemlich alles andere unterhalb Manhattans stinkt genauso.
Das machte die Sache nicht einfacher. Der clevere kleine Pisser hat mitbekommen, dass ich ihm nicht unmittelbar auf den Fersen bin, und hat die Zeit zum Ausruhen genutzt. Hat sich einigermaßen beruhigt, seinen Atem unter Kontrolle gebracht, das Keuchen und Stolpern eingestellt, immer wieder Verschnaufpausen in ruhigen Ecken eingelegt und gelauscht. Der kleinste Lichtschein hätte genügt, und ich hätte ihn mit ein paar Steinwürfen niedergestreckt. Manchmal gibt es hier unten die irrsten Reflektionen. Das Sonnenlicht fällt durch die Abflussgitter, ein Strahl trifft auf eine Rinne, bricht sich im Schmutzwasser, und plötzlich ist der ganze Tunnel in schwaches Licht getaucht. Genug Licht, damit ein normaler Mensch die Hand vor Augen erahnt.
Ein Mensch wie ihr. Ich dagegen würde noch eine ganze Menge mehr sehen. Doch selbst mein Auge braucht ein Mindestmaß an Licht, das sich auf den Oberflächen der Dinge bricht und mich erkennen lässt, um was es sich handelt.
Stattdessen bin ich völlig blind. Vielleicht ist oben gerade Nacht, keine Ahnung. Mein Zeitgefühl hat sich schon vor längerer Zeit verabschiedet. Früher hatte ich Morgendämmerung und Sonnenuntergang sozusagen im Blut. Aber wenn man von beiden ein paar Hundert verpasst hat, verliert man einfach jedes Gespür dafür.
Der Typ vor mir sieht so wenig wie ich, kennt sich aber in der Kanalisation offenbar ziemlich gut aus. Weiß Gott, wie viele Jahre er schon hier unten ist. Wahrscheinlich seit seiner Kindheit. Seit irgendjemand es satthatte, ihn durchzufüttern, und er sich allein durchschlagen musste. Da ist ihm wohl irgendwann aufgegangen, dass es in der Kanalisation zwar dunkel, aber auch bedeutend ungefährlicher ist als auf der Straße. Hier unten, im Reich der Verlorenen, kippt niemand einen Benzinkanister über dir aus und zündet ein Streichholz an, nur um zu sehen, was dann so passiert. Klar, auch hier wird gemordet, aber nicht wegen irgendwelcher Kleinigkeiten, wie wenn beispielsweise jemand in der falschen Abwasserrinne pennt. Meine Güte, hier haut sich jeder hin, wo es ihm gefällt. Die Leute hier unten müssen sich nichts beweisen. Wenn sie töten, dann aus gutem Grund. Für Brennmaterial. Eine Flasche Wein. Die guten Stiefel eines toten Mannes.
Keine Ahnung, warum der Kerl, der vor mir Kohlenstoffdioxid ausatmet, den Krüppel umgebracht hat. Warum ich ihn verfolge, weiß ich hingegen sehr wohl.
Weil er sich für sein Massaker ausgerechnet den Eingang zum Freedom Tunnel ausgesucht hat. Nicht weit von der Stelle, an der die Sprayer zusammenkommen, um die Graffiti zu bewundern, die die Betreibergesellschaft glatt zu überstreichen vergessen hat, als der Tunnel wieder für den Zugverkehr geöffnet wurde. Gut möglich, dass ein Sprayer alles mitangesehen hat, nach oben gelaufen ist und den Bullen in diesem Moment einen Mord im Tunnel meldet. Üblicherweise sind die Cops alles andere als scharf drauf, in der Kanalisation für Recht und Ordnung zu sorgen. Sie vertrauen darauf, dass sich hier unten alles von selbst regelt. Doch wenn ein Student der schönen Künste an der Columbia Zeuge einer hässlichen Messerstecherei wird, wäre das durchaus ein guter Grund, einen Sturmtrupp mit Helmen und Schutzschilden loszuschicken, um die provisorischen Behausungen niederzureißen, ein paar Schädel einzuschlagen und einige arme Schweine ans Tageslicht zu zerren, um sie zu verhören und in eines von ihren Löchern zu werfen.
Klar, mich würden sie bei einer solchen Aktion wohl kaum erwischen, aber ich habe großes Interesse daran, dass das Milieu der Tunnelbewohner einigermaßen intakt bleibt. Je reibungsloser das Zusammenleben hier unten funktioniert, umso geringer ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie Panik kriegen und weiterziehen. Eine stabile Gemeinschaft sorgt dafür, dass neue Tunnelbewohner hinzustoßen. Und je mehr Kanalratten sich hier unten tummeln, desto leichter kann ich untertauchen.
Vom Nahrungsangebot ganz zu schweigen.
Allerdings lebe ich hier nicht gerade wie die Made im Speck. Eher im Gegenteil. So magere Zeiten hatte ich selten. Trotzdem – da die Bevölkerung der Kanalisation quasi nur aus Trinkern und Junkies besteht, ist es normalerweise nicht allzu schwierig, im Schutze der Dunkelheit jemanden zu finden, der gerade bewusstlos oder im Tran ist, und ihn um einen halben Liter zu erleichtern. Wenn man nicht zu gierig wird, kann man praktisch immer und überall eine Vene finden, wenn man eine braucht.
Das ist einer der Gründe, warum ich hinter diesem Typen her bin. Er stellt eine Gefahr für mein Revier dar. Richtig auf die Palme gebracht hat mich aber das Blut, das gegen die Wand gespritzt ist. Der Geruch war wie ein Schlag ins Gesicht. Er hat mir das Wasser ins Auge getrieben und im Mund zusammenlaufen lassen. Und schon war ich hinter dem Typen her, ohne an die Cops zu denken. Ohne überhaupt groß an irgendwas anderes zu denken als daran, dass es niemanden kümmern wird, was ich mit dem Kerl anstelle; daran, wie dunkel es im Tunnel sein wird, wenn ich ihn erwische; und wie ich ihn genussvoll aussaugen werde, bis ich so voll mit Blut bin, dass ich fast kotzen muss. Nach dem ständigen Kleinscheiß hatte ich wirklich große Lust auf einen ordentlichen Schluck.
Nein, keine Ahnung, weshalb er den Krüppel umgebracht hat. Ist mir auch egal. Mir macht eher Sorgen, dass ich so gut wie blind bin und er die Kanalisation besser kennt als ich. Irgendwo hier muss er stecken, er und sein Blut. Die Frage ist: Ist er stehen geblieben, weil er in einer Sackgasse gelandet ist, oder plant er irgendetwas?
Kalte Scheiße driftet gegen meine Knöchel und fließt dann weiter in seine Richtung. Ein paar Meter entfernt höre ich ein lautes Gurgeln und spüre einen leichten Sog.
In meinem ersten Monat hier unten bin ich in genau so einen Tunnel spaziert. Wollte mich mal umsehen, austesten, wie tief das Abwasser ist. Ein Schritt zu viel, und ich fand heraus, dass es ziemlich tief ist. Nach einem Fall von über sieben Metern landete ich auf einem Haufen Ziegel und Schutt. Dabei hab ich mir an einem rostigen Metallteil die Rückseite meines Oberschenkels vom Knie bis zum Arsch aufgerissen. Bis sich die Wunde geschlossen hatte, verlor ich so viel Blut, dass mir richtig schwindlig wurde. Damals hatte ich eine Taschenlampe dabei, sie aber nicht eingeschaltet – ich wollte mich langsam dran gewöhnen, mich auch im Dunkeln zurechtzufinden. Aber ich hatte sie zumindest dabei. Andernfalls – oder wenn sie beim Sturz kaputtgegangen wäre – hätte ich wahrscheinlich niemals aus dem Loch rausgefunden.
Diesmal habe ich leider keine Taschenlampe dabei. Wenn ich also wieder in so ein Loch falle, dann war’s das. Der kleine Scheißer wartet hier irgendwo auf mich, glaubt, dass er im Vorteil ist, nur weil er sich hier auskennt. Ich werd’s ihm nicht leichtmachen, darauf kann er sich verlassen. Wenn ich nur wüsste, wo er sich verkrochen hat.
Ich frage mich, wie durchgeknallt er tatsächlich ist.
Aber das lässt sich ja rausfinden.
– Hey.
Nichts.
– Ich hätte da mal eine Frage.
Keine Antwort.
– Warum hast du den Krüppel umgelegt?
Er holt Luft, als wolle er gleich was Wichtiges sagen, dann atmet er aus und schweigt weiter.
Ziemlich einseitige Konversation, aber davon lasse ich mich nicht beirren.
– Du hattest sicher deine Gründe, auch wenn er ein Krüppel war. Er hatte es bestimmt verdient, ob er jetzt einen Unterleib hatte oder nicht. Ich kannte mal einen, der war blind. Blind wie eine Fledermaus, er konnte nicht das Geringste sehen. Weißt du, wie sich die Blindheit auf seinen Charakter ausgewirkt hat? Gar nicht. Das war ein Arschloch. Ein blindes Arschloch. Ein versoffenes, blindes Arschloch. Ich war Türsteher in seiner Stammkneipe, und immer, wenn wir zugemacht haben, brauchte er jemanden, der ihn nach Hause bringt. Als ich an der Reihe war, hab ich ihn zu einem leeren Grundstück geführt, wo er dann im Dreck seinen...