Incardona | Nächster Halt: Brig | Buch | 978-3-9523550-9-1 | sack.de

Buch, Deutsch, 232 Seiten, GB, Format (B × H): 138 mm x 222 mm, Gewicht: 440 g

Incardona

Nächster Halt: Brig

Buch, Deutsch, 232 Seiten, GB, Format (B × H): 138 mm x 222 mm, Gewicht: 440 g

ISBN: 978-3-9523550-9-1
Verlag: PEARLBOOKSEDITION


Nächster Halt: Brig erzählt von den Sorgen und Nöten des zwölfjährigen André Pastrella der, tausendmal entwurzelt durch ständige Schul- und Wohnungswechsel, sich weder als Schweizer noch als Italiener fühlt. Mit seinen Eltern lebt er in einer Sozialwohnung in der französischen Schweiz. Von seinem Vater wird er nicht gerade zimperlich behandelt, und die Jugendbande, die ihn unaufhörlich bedroht, macht den Gang zur Schule zur Tortur. Einzig die Sommerferien in Sizilien sind ein Lichtblick, doch die Rückkehr in den Norden ist unabwendbar und die Realität des Alltags erbarmungslos.
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Mein Vater hatte seine Arbeit verloren, und wieder einmal mussten wir umziehen. Ich fing an, mich daran zu gewöhnen. Egal wo wir ankamen, ich ging auf die Straße hinunter und traf andere Kin- der mit einem Ball, es reichte, dass eine der beiden Mannschaften eine ungerade Zahl von Spielern hatte. Nein, das Umziehen war kein Problem mehr, wenn man von den Scherereien in der Schule mal absah: Die Klasse während des Schuljahres zu wechseln, bedeutete Prügel austeilen und einstecken. Verschwendete Energie, bloß damit man sich an ein Pult setzen konnte, ohne gehänselt zu werden, weil man der «Neue» oder der «Tschingg» war.
In einem gemieteten Lieferwagen kamen wir in dem Viertel mit den Hochhäusern und Wohnblocks an. Es wäre mir lieber ge- wesen, der Umzug hätte unter der Woche stattgefunden, dann hätten wir uns nicht den neugierigen Blicken hinter den Fenstern aussetzen müssen. 1978 hatten die meisten Arbeit.
Zwei Typen in Karohemden lehnten an einen orangefarbenen Opel Manta und verfolgten das Rauschen ihres CB-Funkgeräts, dessen Antenne sich in einem Bogen über das Wagendach aus schwarzem Vinyl spannte. Andere standen im Unterhemd auf dem Balkon und rauchten, die Ellbogen auf die Brüstung gestützt. Frauen im Morgenrock spähten durch die Gardinen auf uns hinunter. Das Schlimmste aber waren die Kinder, die feixend auf den Stufen der Eingangstreppe saßen und einander die Ellbogen in die Seite stießen. So war mein Alter eben: Umgezogen wurde samstags, und damit basta! Die Prügelei am Montag war sowieso mein Problem.
«André, du bleibst hier beim Wagen», wies mein Vater mich an. «Ich gehe mit la Mamma die Schlüssel holen.»
Ich wollte woanders sein, irgendwo weit weg. Aber ich war bloß ein zwölfjähriger Junge, der seinen Eltern gehorchte und sich zum Gespött der anderen Kinder machte.

Die verglaste Eingangstür fiel hinter ihnen zu, und ein kleiner Kieselstein traf mich im Rücken. Ich tat, als hätte ich nichts be- merkt, doch dann prasselten die Steinchen nur so auf meinen Kopf und trommelten auf das Blech des Kastenwagens. Ich drehte mich um, und ein Kiesel prallte auf meine Stirn. Die Kinder lachten. Ich zählte sie, es waren fünf. Der Anführer war der Größte, etwas dicker, aber kräftig. Es war überall das Gleiche, immer gab es diesen einen. Ich stand mit schlotternden Knien da, mir war schlecht. Dann begann mein Blut wieder zu fließen, und ich spürte, dass ich einen roten Kopf bekam. Ich war bereit, mich zu prügeln, wenn ich keine Wahl hatte. Mich zu prügeln oder abzuhauen.
Mein Vater kam in Begleitung des Hausmeisters zurück. Ein massiger Kerl mit einem Bauch, der ihm über den Hosenbund quoll. Der, den ich als Chef der Bande ausgemacht hatte, kriegte einen Schlag ins Genick.
«Schert euch zum Teufel!», schnauzte der Hausmeister.
Die Bande nahm Reißaus, nur der «Chef» ließ sich Zeit. Als mein Vater und der Hausmeister hinter dem Lieferwagen ver- schwunden waren, zeigte er noch lange mit dem Finger auf mich. Ich musste mich zusammenreißen, um mir nicht in die Hose zu machen.
Am Ende des Tages türmten sich in unserem neuen Heim die Möbel und Kartons. Die Wohnung hier glich der vorherigen, man hätte meinen können, die Architekten steckten sich gegenseitig die Pläne für die Sozialbauten zu. Mein Vater fuhr den Liefer- wagen zurück, meine Mutter machte in der Küche an einer Ecke des Resopaltisches Brote fertig.
«Thunfisch oder Schinken?», fragte sie.
Ich war etwas beunruhigt wegen all der Kartons, die wir noch auspacken mussten.
«Na, hast du dich bald entschieden? THUNFISCH oder SCHINKEN?!»
«Thunfisch», antwortete ich. «Mit Mayonnaise.»
«Es gibt keine Mayonnaise», sagte sie, und dann brach sie in Tränen aus.
Ich wusste, dass sie nicht wegen der Mayonnaise weinte. Das wusste ich, weil es sie in letzter Zeit immer wieder überkam. Sie barg ihr Gesicht in den Händen, das Brotmesser verfing sich in ihren blonden Haaren.
Ich ging auf sie zu, wollte mich in ihre Arme schmiegen. Ich ließ nicht locker und kriegte mit dem Ehering voll eins auf den Kiefer. Manchmal war es besser, wenn ich sie allein ließ. Ich tat, als würde es nicht wehtun.
Von meinem Zimmer aus hörte ich, wie sie in ihrer Tasche nach der Pillendose kramte. Ich holte meine Rollschuhe aus einem Karton. Es war Ende April, und ich sagte mir, vielleicht lässt sie mich, bevor es dunkel wird, noch draußen spielen.


Oesch, Daniel
Seit Abschluss seiner Übersetzerausbildung in Zürich und Paris arbeitet Daniel Oesch als freischaffender Übersetzer in Zürich und Locarno.

Incardona, Joseph
Joseph Incardona, 1969 als Sohn eines Sizilianers und einer Schweizerin geboren, lebt und arbeitet in Genf. Er ist Autor von Romanen, Kurzgeschichten, Drehbüchern und Comics.


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