E-Book, Deutsch, 448 Seiten
Jackson Monday, wo bist du?
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-86552-864-3
Verlag: Festa Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Thriller
E-Book, Deutsch, 448 Seiten
ISBN: 978-3-86552-864-3
Verlag: Festa Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
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VORHER
»Ma, hast du Monday gesehen?«, fragte ich als Erstes, als ich am Washington Reagan National Airport vom Gate in den Ankunftsbereich trat. Mein Haar war immer noch zu struppigen Sommerzöpfen geflochten, meine Haut von der südlichen Sonne gebräunt.
»Meine Güte! Wie wäre es zunächst mal mit einem Hallo? Ich habe dich doch auch den ganzen Sommer nicht gesehen«, sagte Ma mit einem leisen Lachen und breitete die dünnen Arme aus, als ich mich in eine beglückte Umarmung stürzte.
Jeden Sommer schickte Ma mich runter nach Georgia, wo ich zwei Monate bei meiner Grandma blieb. Monday und ich schrieben einander dann Briefe mit lustigen Zeichnungen und Artikeln, die wir aus Zeitschriften rissen, um uns über den neuesten Tratsch aus dem Viertel und über Musik auf dem Laufenden zu halten. Aber dieser Sommer war anders gewesen. Monday hatte auf keinen meiner Briefe geantwortet. Ohne ihre Post schlich der Sommer dahin wie eine entlaufene Schildkröte. Ich liebte meine Grandma, aber ich vermisste mein Zimmer, vermisste meinen Fernseher und am allermeisten vermisste ich Monday.
Lichter spiegelten sich blinkend auf dem Anacostia River, als wir über die Brücke und auf die Martin Luther King Junior Avenue fuhren, das Baseball-Stadion der Nationals als Silhouette in der Ferne. Als wir auf die Good Hope Road abbogen, fielen mir die alten Plakate auf, die immer noch an einem verlassenen Gebäude an der Kreuzung klebten: RETTET ED BOROUGH! UNSERE GEMEINSCHAFT, UNSER ZUHAUSE!
Ma ließ die Türverriegelung einrasten, während sich ihr Rücken verspannte. Als echte Südstaatlerin fühlte sie sich in der Stadt nie wirklich sicher, obwohl sie hier seit ihrer Geburt lebte. Zur Ablenkung erzählte ich ihr von den unbeantworteten Briefen. Sie zuckte die Achseln, blieb auf den Abendverkehr konzentriert und murmelte: »Vielleicht hat sie es nicht aufs Postamt geschafft.« Aber das ergab in meinen Augen kaum Sinn. Wir hatten Geld gespart und genug Marken gekauft, um die acht Wochen ohne einander zu überstehen, denn Grandma mag es nicht, wenn die Kinder mit ihrem Telefon herumspielen, und meine Cousine war sowieso schon ständig an der Strippe, um mit ihrem Kerl zu quatschen. Monday wusste, dass ich das Schreiben hasste, aber wir hatten einander versprochen, in Kontakt zu bleiben, und so ein Versprechen bricht man nicht einfach. Nicht wenn man es seiner besten Freundin seit der ersten Klasse gegeben hat.
»Ich weiß nicht, meine Süße«, fuhr Ma fort, hielt an der Ampel beim Schnapsladen und winkte nervös nach draußen, wo sie eine Bekannte entdeckt hatte. »Wahrscheinlich war sie mit irgendetwas beschäftigt. Aber sobald sie erfährt, dass du wieder da bist, schaut sie bestimmt vorbei.«
Die Ampel wechselte auf Grün und Ma trat aufs Gas, raste die nächsten zwei Blocks entlang, bevor sie an der Anacostia Library scharf links abbog und dann rechts auf den U Place. Zu Hause. Sie parkte vor dem Haus an der Straße und ich sprang mit meiner Schultasche aus dem Wagen und sprintete auf die Tür zu. Ehrlich gesagt hoffte ich jeden Sommer irgendwie auf eine Art magische Verwandlung. Nicht dass ich unser Haus nicht mögen würde, aber ich liebe Überraschungen. Wenn ich am Weihnachtsmorgen die Treppe hinunterrenne, erwarte ich immer einen frischen Anstrich in Terrakotta-Rot an den Wänden, eine neue Couch, die unser beigefarbenes Sofa ersetzt, Edelstahlarmaturen anstelle unseres rostenden weißen Spülbeckens und ein neues Geländer für die Treppe, das nicht knarrt und ächzt, wenn man sich darauf lehnt.
Als ich ins Haus trat und sah, dass sich nichts verändert hatte, ließ ich meine Tasche fallen und nahm den Hörer des Telefons an der Wand bei der Treppe in die Hand, um Monday anzurufen. Vielleicht musste sie sich den Sommer über um ihren kleinen Bruder und die Schwester kümmern und war zu beschäftigt gewesen, um zu schreiben. Was immer der Grund sein mochte, ich würde das unter den Tisch fallen lassen, weil ich beinahe platzte, so viel hatte ich ihr zu erzählen. Es klingelte nur einmal, bevor mir eine automatische Frauenstimme erklärte, dass ich die falsche Nummer gewählt hatte. Ich kannte nur zwei Nummern auswendig: Mondays und meine eigene.
»Aber Kind, hängst du direkt wieder am Telefon?«, schimpfte Ma, die meinen Koffer ins Haus schleppte. »Na, unter deinen Füßen wächst ganz sicher kein Gras!«
»Mondays Telefon funktioniert nicht.«
»Wahrscheinlich nicht richtig aufgelegt oder so was«, erwiderte sie und schloss die Haustür ab. »Jetzt beeile dich mal und hol den Kamm. Wir müssen mit deinen Haaren anfangen. Himmel! Ich hätte Mama sagen sollen, dass sie diese Zöpfe aufmacht, bevor du zurückkommst.«
Ich eilte die Treppe hinauf, immer zwei Stufen auf einmal, und öffnete oben die erste Tür auf der rechten Seite. Mein Zimmer war genau, wie ich es hinterlassen hatte, ein Durcheinander. Ich meine, mein schmales Bett mit der dunkellila Tagesdecke war gemacht und die lavendelfarbenen Wände, an denen ich all meine Zeichnungen zwischen Bandpostern und Filmplakaten aufhängte, waren immer noch da, wo sie sein sollten. Aber ich hatte keine Zeit mehr gehabt, das Zelt aufzuräumen, das Monday und ich aus einem Haufen alter Laken und Zierkissen gebaut hatten, als sie zum letzten Mal bei mir übernachtet hatte. Es türmte sich immer noch unter dem Regal beim Fenster auf, das zur Rückseite der Bücherei hinaussah, die auf der anderen Straßenseite stand.
»Claudia! Beeil dich!«, rief Mama laut von unten herauf.
»Ich komme schon, Ma!«
Ich schnappte mir den Kamm von meinem weißen Schminktisch und bemerkte ein neues Malbuch und Stifte auf meinem Stuhl. Die musste Dad hiergelassen haben, bevor er zu einer weiteren Lieferfahrt aufgebrochen war.
»Claudia, mach vorwärts! Wir sitzen sonst die ganze Nacht noch hier!«
Ma und ich verbrachten den Rest des Abends damit, meine Zöpfe zu entwirren und dann mein Haar zu waschen und zu glätten. Erschöpft kletterte ich schließlich ins Bett und ignorierte das Knurren meines Magens. Es war schon fast Mitternacht. Irgendetwas stimmte nicht, aber ich kam nicht darauf, was es sein mochte.
»Claudia!«, rief Ma am nächsten Morgen aus der Küche. »Du kommst noch zu spät zum ersten Schultag!«
Jedes Jahr brüllte Ma so herum, weil sie wollte, dass ich wie eine Verrückte die Treppe hinunterstürmte und über das große Frühstück staunte, dass sie mir immer zum ersten Schultag zubereitete: Pancakes mit einem lächelnden Gesicht aus Sirup, Rühreier mit Käse, Maisbrei und Rindswürstchen.
Also spielte ich mit, sprang mit einem Satz die letzten zwei Stufen hinab und rannte in meiner Schuluniform und den neuen Sneakers in die Küche, wo mich der reichlich gedeckte Tisch mit meinem Festmahl erwartete.
»Überraschung!«, rief Ma, als sie aus ihrem Versteck hervortrat. Ihr kurzes, kastanienbraunes Haar war immer noch zu engen Locken eingedreht, die mit Haarklammern am Kopf fixiert waren. Im Licht spähten manchmal die grauen Stellen hinter ihren rotgoldenen Strähnchen hervor.
»Danke, Ma«, sagte ich mit einem Lachen und hopste auf meinen Platz.
»Ach Gottchen, ich kann gar nicht fassen, dass du schon nächstes Jahr auf die High School gehst. Ich bin eine alte Frau.«
»Ma, du verhältst dich auch nicht älter als ich.«
Sie grinste und nahm mein Gesicht in beide Hände. »So spricht man nicht mit seiner Mutter. Okay, meine Süße, beeil dich jetzt und iss dein Frühstück. Du willst doch nicht zu spät zur Schule kommen und Monday warten lassen.«
Ma wusste genau, was sie sagen musste, um mir Feuer unter dem Hintern zu machen. Was sollte ich denn bloß sagen, wenn ich Monday endlich wiedersehen würde? Ich meine, wie konnte sie mich bloß den ganzen Sommer über so hängen lassen?
»Ma, darf Monday heute nach der Schule mit zu mir kommen?«, fragte ich zwischen zwei Bissen Pancake.
Sie lachte. »Bloß keine Zeit verschwenden, was? Okay, sie darf kommen. Aber … erst schaust du bei Miss Paul vorbei, ja?«
Ich ließ meine Gabel auf den Teller fallen. »Ich dachte, du hast gesagt, dass ich nach der Schule nicht mehr zur Bücherei gehen muss. Ich brauche doch keine Babysitterin!«
»Sie ist keine Babysitterin«, widersprach Ma mit gespielt unschuldigem Blick. »Ich möchte nur … dass du hingehst und Hallo sagst. Ist doch nichts Falsches daran, dich bei jemandem zu melden, der dann weiß, wo du bist. Brotkrumen, Claudia. Es ist immer gut, eine Spur aus Brotkrumen zu hinterlassen, wie im Märchen.«
»Ich bräuchte keine Brotkrumen zu hinterlassen, wenn ich ein Handy hätte«, murmelte ich mit gesenktem Kopf.
Ma schnaubte. »Hör zu, darüber werde ich nicht wieder mit dir diskutieren. Wir haben abgemacht, dass du eins haben kannst, wenn du mit der High School anfängst. Und jetzt komm schon, lass uns gehen.«
Ich setzte mir die neue Schultasche auf. Sie war marineblau mit einem lilafarbenen Wirbelmuster. Monday hatte die gleiche, aber in Rosa, ihrer Lieblingsfarbe. Wir hatten sie ausgesucht, bevor ich nach Georgia fuhr. Ich rief noch zweimal bei ihr an, bevor wir losfuhren, einfach um zu sehen, ob alles okay war. Es ging niemand ran.
Am ersten Schultag fuhr Ma mich immer zur Schule und nahm sich ein paar Stunden frei von der Arbeit in der Kantine für Armeeveteranen. Dort würde man sie sicher vermissen, denn wenn sie die Küche nicht leitete, versank schnell alles im Chaos. Aber sie sagte immer: »Du hast nur eine Chance bei deinen Kindern, also triffst du besser ins Schwarze.«
Wir hielten an der Warren Kent Charter...




