Kästner | Der Zauberlehrling | E-Book | www.sack.de
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E-Book, Deutsch, 160 Seiten

Kästner Der Zauberlehrling


1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-03792-074-9
Verlag: Atrium Verlag AG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, 160 Seiten

ISBN: 978-3-03792-074-9
Verlag: Atrium Verlag AG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Erich Kästners erstaunlichstes Buch enthält zwei unvollendete Romane und zwei Briefe über Menschen, die sich im Leben plötzlich selbst über den Weg laufen. Der Kunsthistoriker Professor Mintzlaff reist in die Schweiz, um einen Vortrag zu halten. In einer Teestube setzt sich ein gewisser Baron Lamotte an seinen Tisch und berichtet, Gedanken lesen zu können. Irritiert versucht Mintzlaff, den seltsamen Mann loszuwerden. Lamotte lässt sich aber nicht abschütteln und begleitet den Professor ins schneeglitzernde Davos, wo die beiden nicht nur Mintzlaffs ewiger Liebe begegnen, sondern auch seinem Doppelgänger. Mintzlaffs Welt steht Kopf. Als Lamotte immer öfter wahrhaft olympische Kräfte spielen lässt, macht Mintzlaff eine verblüffende Entdeckung... Enthält:Der Zauberlehrling, Die Doppelgänger, Briefe an mich selber

Erich Kästner, 1899 in Dresden geboren, begründete gleich mit zwei seiner ersten Bücher seinen Weltruhm: Herz auf Taille (1928) und Emil und die Detektive (1929). Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten wurden seine Bücher verbrannt, sein Werk erschien nunmehr in der Schweiz im Atrium Verlag. Erich Kästner erhielt zahlreiche literarische Auszeichnungen, u.a. den Georg-Büchner-Preis. Er starb 1974 in München.
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Erstes Kapitel


Mintzlaff setzte langsam die Tasse nieder, lehnte sich in dem sanftgeblümten Ohrenstuhl zurück und blickte, während er die Lider senkte, hinter den kleinen freundlichen Empfindungen, die in ihm schwebten, drein, als wären es bunte Kinderballons an einem inwendigen Himmel.

›Du müsstest öfter reisen‹, sprach er zu sich selber. ›Nicht aus geographischen Erwägungen; nicht wegen irgendwelcher Fernsichten, Gletscher, Gemäldegalerien, Tropfsteinhöhlen und Ritterburgen. Du müsstest öfter reisen, um zuweilen nicht daheim zu sein. Nur unterwegs erfährt man das Gefühl märchenhafter Verwunschenheit. Nur der Fremdling ist einsam und fröhlich in einem!‹

Ihm war nicht ganz klar, ob diese einigermaßen romantische Deutung des Reisens nur für Menschen Geltung hatte, die, wie er, eigentlich lieber zu Hause blieben; es reizte ihn im Augenblick auch gar nicht, der Frage auf den Grund zu gehen.

Er musterte stattdessen die anheimelnd eingerichtete Teestube, in der er seit zehn Minuten saß, schaute dann durch die Fensterscheiben und nickte anerkennend; denn draußen schneite es still vor sich hin, und er liebte seit seiner Kindheit das schwerelose weiße Zauberballett der Flocken, als werde es von Anbeginn eigens für ihn getanzt. Ach, und niemand konnte in dieser Stadt, wo ihn keiner kannte, kommen, ihm auf die Schulter klopfen und, ob nun klug oder dumm, entbehrliche Mitteilungen machen! Es war, um allein im Chor zu singen!

Belustigt zog er die Brauen hoch. ›Rubrik römisch eins‹, ging es ihm durch den Kopf. ›Seelischer Tatbestand: Der Mensch im natürlichen Einklang mit Eigenschicksal und Umwelt. Antwort des Gemüts: Je nach Temperament, Empfindungstiefe und -dauer abgewandelt; alle heiteren Stimmungen von Glückseligkeit bis Zufriedenheit möglich; Nullpunkt, wie in sämtlichen Sparten des Mintzlaff’schen Systems, die Indolenz. Künstlerische Antwort: Die apollinische Haltung und das harmonische Werk, vom Hymnischen bis zum Idyllischen.‹

Er griff mit ironischem Schwung in die innere Rocktasche und zog etwas hervor, das einem vielfach gefalteten Stadtplan glich. Es war freilich nichts dergleichen; außer man brächte es zuwege, Seelen und Städte einander für ähnlich zu erachten.

Nein, es war das Mintzlaff’sche Schema, und das bedeutet: ein System, in dem die Skala der menschlichen Gemütslagen und das Spektrum gewisser künstlerischer Kategorien – wie beispielsweise des Tragischen, des Komischen, des Satirischen, des Humoristischen – einander rechtwinklig und übersichtlich zugeordnet wurden. Das Ganze war, wenn man so will, eine Klima- und Wetterkarte wichtiger ästhetischer Grundbegriffe; und der Herr Begriffsstutzer, wie Mintzlaff sich selber nannte, tat sich, im Rahmen des Statthaften, mitunter einiges darauf zugute.

Ästhetiker sind seltsame Leute. Sie lieben die Künste und die Ordnung und bringen deshalb Ordnung in die Kunst. Sie rücken der Kultur zu Leibe wie Linné seinerzeit den Blumen und Bäumen. Nun täte man solchen Fanatikern der Ordnung schweres Unrecht, wenn man sie für Pedanten halten wollte. Nein, sie wissen um das Urgeheimnis der ordnenden Tätigkeit, und das lautet: Wer Ordnung schafft, schafft!

Wer Ordnung schafft, gewinnt Einblick in die Zusammenhänge und Einsicht in die Bedeutung der Gegenstände. Indem er die Vielfalt ordnet, findet er ihre Gesetze. Die Kenntnisse kristallisieren sich zur Erkenntnis, und diese zeugt aus sich heraus oft überraschende, vorher nie gewusste, durch bloßes Suchen niemals auffindbare neue Kenntnisse. Nun, solch ein Kauz war Herr Mintzlaff, der Vater des Mintzlaff’schen Schemas. Man sah es ihm nicht an. Seine äußere Erscheinung entsprach kaum der Vorstellung, die man sich unwillkürlich von einem Kunstgelehrten macht. Weit eher glich er einem melancholisch angehauchten Eishockeyspieler.

Er war vor knapp zwei Stunden in München eingetroffen, hatte die Koffer in einem Hotelzimmer untergebracht und wollte am nächsten Tag die Reise, deren Ziel Davos war, über Stuttgart und Zürich fortsetzen.

Er liebte an München besonders, dass er es so gut wie gar nicht kannte. Als Student hatte er während dreier Tage die Münchner Museen heimgesucht. Später, als Dreißigjährigem, war ihm in dieser Stadt, im Verlauf eines halbwöchigen Aufenthaltes, eine Art Braut, ein bildschönes und unkluges Mädchen, mit einem feurigen Bildhauer durchgegangen, und die beiden hatten diesen Schritt sowie die folgenden Schritte später noch sehr bereut.

Weiter kannte Mintzlaff München nicht. So konnte er heute recht von Herzen den ersten Tag der Reise, jenes friedvollen Untertauchens in der Anonymität, auskosten.

Er lehnte sich wieder in den bequemen Ohrenstuhl zurück. Draußen schneite es noch immer. Der Himmel zuckerte die Hüte der Damen und Herren in der Brienner Straße ein, als seien’s keine Kleidungsstücke, sondern kandierte Früchte.

Da! Einem würdigen Passanten flog die eingezuckerte Melone vom Kopf! Hatte der Wind Appetit?

Der Passant setzte sich in Trab. Wenn er nun, nach vielen höchst unwilligen Sprüngen, den Hut wiederfände und feststellen müsste, dass ein unsichtbares Wesen ein Stück Krempe abgebissen hätte?

Mintzlaff streckte die Beine von sich. Wie schön, wie unheimlich schön das Leben war, empfand man doch wohl erst, nachdem man erfahren hatte, wie schlimm, wie abgründig schlimm es war, dieses selbe Leben!

Da nahm jemand an Mintzlaffs Tische Platz.

Ausgerechnet in einem so einsichtsvollen Augenblick! Es war ein Mann, schön wie ein Schrank. Mit lackschwarzem, nach hinten gekämmtem Haar und einem jener ein wenig zu eleganten Schnurrbärte, denen man am ehesten in Südamerika und im Film begegnet. Mintzlaff griff hastig nach dem Mintzlaff’schen Schema, faltete es zusammen und verstaute es sorgfältig in der inneren Rocktasche. Er beschloss, die Teestube umgehend zu verlassen.

Der Fremde schien davon, dass er störte, nichts zu spüren. Er bestellte etwas zu trinken, rieb sich das Kinn, musterte die manikürten Nägel, schnippte ein Stäubchen von seinem sehr neuen Anzug und blieb eine Weile sinnend sitzen. Dann beugte er sich über den Tisch und fragte: »Haben Sie einen Spiegel bei sich?«

Mintzlaff schüttelte den Kopf und sagte unnötig laut: »Nein!«

»Schade«, erwiderte der Fremdling. »Sie müssen wissen, dass ich bis vor einer halben Stunde einen wunderschönen Vollbart trug. Der Friseur nahm daran Anstoß; und das junge Mädchen, das mir die Nägel kurzschnitt, fand sogar, ich sähe unmöglich aus.«

Mintzlaff schwieg und dachte bitter: ›Daran hat sich mittlerweile nicht das mindeste geändert!‹

Da lachte der Fremde.

Der Kunstgelehrte schaute misstrauisch auf. In diesem Moment trat die Kellnerin herzu und bediente den neuen Gast. Ehe Mintzlaff den Wunsch zu zahlen geäußert hatte, war sie weitergeglitten.

Der Fremde trank einen Schluck, wandte sich dem gekränkten Nachbarn zu und sagte freundlich: »Entschuldigen Sie, dass ich gelacht habe. Ich halte es auf alle Fälle für angebracht, Ihnen beizeiten mitzuteilen, dass ich Gedanken lesen kann.«

Mintzlaff schaute dem anderen zum ersten Male voll ins Gesicht und wurde rot. Der Mann hatte große, herrliche Augen; Augen, denen so leicht kein Blick gewachsen war. Mintzlaff war verwirrt. ›Gedankenlesen ist ein höchst unanständiges Talent‹, dachte er noch. Da antwortete der Fremde, als habe der Nachbar den Satz nicht etwa nur gedacht, sondern laut und vernehmlich ausgesprochen: »Sie haben nicht ganz unrecht. Doch man mag von einem Talent, das man hat, halten, was man will – man besitzt es eben! Man kann es nicht fortwerfen, nicht verbrennen und nicht wegschenken. Ein Talent ist kein Vollbart.«

Mintzlaff war rechtschaffen unheimlich zumute. Was war das für ein Mann? Woher kam er? Gab es denn überhaupt Telepathie von solcher Sehschärfe? Noch dazu zwischen einander völlig unbekannten Menschen? Das Beste wäre, schnellstens zu zahlen und davonzulaufen!

»Bleiben Sie«, sagte der Fremde. »Der Gedanke, Sie verjagt zu haben, wäre mir recht ärgerlich. Bleiben Sie! Machen Sie mir die Freude!« Ohne eine Antwort abzuwarten, fuhr er fort: »Ich heiße übrigens Lamotte. Baron Lamotte.«

Mintzlaff verbeugte sich und nannte seinen Namen. ›Eigentlich ist es blödsinnig, den Mund aufzutun‹, dachte er währenddem. ›Er weiß ja doch, was man sagen will, ehe man sich um die Erzeugung von Schallwellen bemüht.‹

Baron Lamotte nickte nachdenklich und meinte: »Trotzdem ist ein Zwiegespräch, bei dem nur einer den Mund auftut, eine etwas absurde Angelegenheit. Außerdem fällt Derartiges in einem Lokal natürlich auf. Und ich möchte, offen gestanden, keineswegs, dass mein, um mit Ihren Gedanken zu reden, unanständiges Talent bekannt wird.« Er unterbrach sich. »Sie wollten etwas denken«, sagte er. »Sprechen Sie es ruhig aus!«

»Ich habe eine Frage.«

»Bitte?«

»Bin ich, ohne es zu wissen, ein ungewöhnlich telepathisches Medium?«

»Nein, mein Herr.«

»Wenn Ihr Talent dann also wirklich vor keinem Menschen haltmacht …«

»Vor keinem, mein Herr.«

Mintzlaff griff sich an die Schläfen. »Es ist nicht auszudenken!« Er dämpfte seine Stimme. »Es ist eine überwältigende Vorstellung! Sie könnten in kurzer Zeit die Börsen aller Kontinente beherrschen, vielleicht um Millionär zu werden, vielleicht um die Pest der Spekulation auszurotten! Sie könnten der genialste Diplomat Ihres Landes werden, oder der unfehlbarste Kriminalist!«

»Ich könnte sogar im Varieté auftreten«, sagte der Baron. »Ich weiß. Aber, sehen Sie, ich mag nicht. Ich finde es zweitklassig, aus...


Kästner, Erich
Erich Kästner, 1899 in Dresden geboren, begründete gleich mit zwei seiner ersten Bücher seinen Weltruhm: Herz auf Taille (1928) und Emil und die Detektive (1929). Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten wurden seine Bücher verbrannt, sein Werk erschien nunmehr in der Schweiz im Atrium Verlag. Erich Kästner erhielt zahlreiche literarische Auszeichnungen, u.a. den Georg-Büchner-Preis. Er starb 1974 in München.

Erich Kästner, 1899 in Dresden geboren, begründete gleich mit zwei seiner ersten Bücher seinen Weltruhm: Herz auf Taille (1928) und Emil und die Detektive (1929). Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten wurden seine Bücher verbrannt, sein Werk erschien nunmehr in der Schweiz im Atrium Verlag. Erich Kästner erhielt zahlreiche literarische Auszeichnungen, u.a. den Georg-Büchner-Preis. Er starb 1974 in München.



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