E-Book, Deutsch, 280 Seiten, Format (B × H): 148 mm x 210 mm
Kapp Die Kaiserin von Essen
2. Auflage 2021
ISBN: 978-3-948373-30-6
Verlag: fineBooks
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 280 Seiten, Format (B × H): 148 mm x 210 mm
ISBN: 978-3-948373-30-6
Verlag: fineBooks
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Sebastian Kapp wurde 1987 in Nettetal-Breyell (Niederrhein) geboren und arbeitet als Redakteur bei den Badischen Neuesten Nachrichten. Aufgewachsen in Ratingen und Düsseldorf, zog es ihn über diverse Stationen in Deutschland erst zum Kulturwirt-Studium an die Universität Duisburg-Essen und dann zum Master-Studium in Europäischer Ethnologie nach Bamberg. Schließlich volontierte er bei der Augsburger Allgemeinen beziehungsweise der Günter-Holland-Journalistenschule, ehe er nach Pforzheim wechselte. Heute lebt er teils in Pforzheim und teils in Landau in der Pfalz. "Die Kaiserin von Essen" ist sein Debüt-Roman, eine Kurzgeschichte mit den Romanfiguren Emma Koslowski und Anne Bonny namens "Die Kaiserin der Atemmasken" ist zuvor in der Anthologie "Tage wie diese. In Zeiten des Abstands" erschienen, ebenfalls im fineBooks Verlag.
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ESSEN, TAG 0
Die Welt, wie Emma sie kannte, gab es nicht mehr. Von jetzt auf gleich hatte sie das wohl schlimmste Wechselbad der Gefühle erlebt, das einem Menschen widerfahren konnte. Für genau zwei Stunden hatte sie eine Familie gehabt. Und damit zum ersten Mal in ihrem Leben grenzenloses Glück empfunden. Nun stand sie vor einer unmenschlichen Wahl und den Trümmern ihrer Existenz.
Der Regen tropfte ans Fenster ihrer kleinen 20-QuadratmeterWohnung. Das heißt: Eigentlich war es nur ein Zimmer mit einem Bad. Mehr konnte sie sich als mittellose Studentin nicht leisten. Den Großteil des Zimmers nahmen ihr schlichtes Bett und der Ikea-Kleiderschrank ein, in dem sie genau drei Blusen hängen hatte. Außerdem besaß sie noch einen Schreibtisch, auf dem sich zahlreiche Bücher türmten.
Ihr Blick blieb an den Büchern hängen. Kunstgeschichte. Wer studierte schon so etwas, wenn er über kein sicheres Einkommen verfügte? Emma hatte sich vor dem Beginn ihres Studiums darüber keine Gedanken gemacht. Mit einer Mischung aus Optimismus und Naivität war sie in die Welt hinausgegangen, hatte geglaubt, das Universum gehöre ihr und habe nur auf sie gewartet. Taten das denn nicht alle Abiturienten? Und stimmte es nicht sogar bei den meisten von ihnen?
Emma vergrub ihr Gesicht in ihren dunkelblonden Locken und schluchzte. Wie sollte sie nur aus dieser Lage wieder herauskommen? Sie konnte ja schlecht noch einmal „etwas Richtiges“ anfangen zu studieren, dazu war sie als Viertsemestlerin mit ihren 21 Jahren auch schon etwas zu weit in ihrem Studium.
Zwischen den Fingern hindurch starrte sie auf die weißgoldenen Ohrringe, die auf ihrem Schreibtisch lagen. Der Schmuck war vielleicht das Wertvollste, das sie besaß. Und doch wollte sie ihn am liebsten einfach aus dem Fenster werfen. Sie konnte nicht. Sie durfte nicht. Martin hatte ihn ihr doch geschenkt. So wie zwei der drei Blusen in ihrem Schrank. Und dann war da noch der Ring. Sie hatte ihn noch immer nicht abgenommen, so als klammere sie sich mit aller Macht an die Illusion, die ihr soeben genommen worden war.
Ihr Blick wanderte weiter durch das Zimmer und blieb auf einem länglichen, weißen Gegenstand aus Plastik liegen, der sich an der magentafarbenen Spitze verengte. Plötzlich hatte Emma einen Kloß im Hals. Sie starrte und starrte auf dieses Objekt, so als würde sich die Zahl der Streifen auf der Anzeige durch diesen intensiven Blick wie durch Zauberhand verändern. Aber das geschah nicht. Stattdessen stand dort noch immer schwarz auf weiß, dass sie schwanger war.
„Ich habe wundervolle Neuigkeiten“, hatte sie Martin heute Morgen verkündet. Vor einem Monat hatte er ihr den Ring geschenkt und gesagt, es würde für ihn nur sie in seinem Leben geben. Zugegeben, ein richtiger Heiratsantrag war das nicht gewesen – aber doch zumindest ein halber. So etwas Kitschiges wie eine Hochzeit war in diesen modernen Zeiten doch gar nicht mehr notwendig, hatte Martin gesagt. Man müsse nicht heiraten, um sich ewige Liebe zu schwören, hatte Martin gesagt. Und ihr dann den Ring geschenkt. „Dies ist ein Zeichen meiner Liebe zu dir“, hatte Martin auch noch gesagt.
Was hatte das denn bitte sonst heißen sollen?
In dieser Nacht hatten sie zum ersten Mal das Kondom weggelassen. Und viele Versuche hatte es nicht gebraucht, um nun in diese Lage zu geraten. Nur: Martin war nicht sonderlich gewillt, Vater zu werden. Das hatte er ihr klipp und klar gesagt. „Dann mach es halt weg“, hatte er ihr gesagt. „Da ist doch heutzutage nichts dabei“, hatte er gesagt.
Emma war geschockt gewesen. Musste sie sich wirklich so etwas von Martin sagen lassen? „Ich kann doch unser Kind nicht grundlos abtreiben“, war alles, was sie erwidern konnte. Da hatte sich Martin umgedreht und plötzlich Dinge getan, von denen sie nie gedacht hätte, dass das möglich sei. Zumindest hätte sie ihm das niemals zugetraut. Als erstes hatte Martin ihr eine gescheuert. Die Schmerzen auf ihrer linken Wange spürte sie noch immer. Dann hatte er sie regelrecht angebrüllt: „Was redest du da von unserem Kind? Wenn du es unbedingt kriegen willst, dann ist es dein Kind und nur deines. Du siehst von mir dafür keinen Cent.“
„Ich ... verstehe nicht. Wir ... sind doch ...“, hatte sie noch gestottert, unfähig, zu begreifen, was sich da anbahnte. Da hatte Martin schon seinen Entschluss in Worte gefasst: „Nichts sind wir. Und von heute an wirklich gar nichts. Wenn du dieses Kind unbedingt behalten willst, dann ohne mich“, waren Martins letzte Worte an sie gewesen.
Ja, das wollte sie, unbedingt. Da konnte Martin noch so sehr eine Abtreibung fordern und all diese Kämpfer für das Recht am eigenen Bauch einwenden, was sie wollten: Es fühlte sich für Emma einfach nicht richtig an, ein Leben auszulöschen. Das konnte doch nicht richtig sein? Vor allem, wo sie doch eigentlich schon fast eine Familie ...
Wieder wurde Emma von einem Weinkrampf überwältigt.
Wie sollte sie nur weitermachen? Eine eigene Familie, die sie unterstützen konnte, hatte Emma schließlich nicht. Ihr Vater lebte irgendwo in Mexiko mit seiner neuen Familie, Emmas Mutter litt mit ihren 50 Jahren schon an Burnout und forderte eher, dass sich ihre einzige Tochter um sie kümmerte, als andersherum. Sie in dieser Situation anzurufen, wäre Emma nicht einmal im Traum eingefallen. Sie konnte sich die Vorwürfe und dieses „Hast du jemals an deine arme, kranke Mutter gedacht?“ ausreichend gut vorstellen. Das musste sie nicht auch noch physisch hören. Es war niemand da, der ihr unter die Arme greifen konnte. Mit einem Kind weiter zu studieren, war schwierig genug. Und ohne ein abgeschlossenes Studium würde sie keine Chance haben, sich und das Kind durchzufüttern.
Emma bekreuzigte sich. Sie schaute zur Wohnungstür und dem Kruzifix darüber. Eigentlich hing es dort mehr aus Dekorationsgründen denn aufgrund ihres katholischen Glaubens, der sich in den vergangenen Jahren doch sehr ausgehöhlt hatte.
Emma faltete dennoch die Hände zusammen und betete – das hatte sie seit Jahren nicht mehr getan. „Lieber Jesus, ich weiß, ich habe mich in letzter Zeit nicht häufig bei dir gemeldet. Aber bitte: Zeige mir einen Ausweg aus diesem Leid.“
Sie erwartete nicht wirklich eine Antwort. In ihrer Verzweiflung griff sie eben nach jedem Strohhalm, der ihr zur Verfügung stand – und war es auch ein noch so veralteter wie der Glaube an den „lieben Gott“. Von dem doch jeder gebildete Mensch ihrer Generation zu wissen glaubte, dass es ihn gar nicht wirklich gab. Auch Emma hatte da ihre Zweifel.
Der Wind heulte draußen noch etwas lauter. Es war Anfang Dezember und eine erste, leichte, matschige Schneedecke lag über Straßen und Bordsteinen. Es war die Zeit, in der sich die Menschen mit ihren Familien zusammenkuschelten, um die düsteren Gedanken zu vertreiben, die der nahende Winter mit sich brachte. Es war auch die Zeit, in der diejenigen, die eine solche Familie nicht hatten, über den finalen Ausstieg nachdachten. Insbesondere Studenten der Ruhr-Uni Bochum. Das lag weniger daran, dass die Uni Bochum besonders viele ihrer Angehörigen in den Selbstmord trieb, sondern an einem Missverständnis. Die Uni hatte als eine der ersten Universitäten überhaupt einst über Suizid an der eigenen Hochschule berichtet. Weil die anderen Hochschulen in Deutschland clever genug gewesen waren und dazu geschwiegen hatten, galt die Ruhr-Uni seitdem als „Selbstmorduni“ – und jeder Erstsemestler kam durch diesen Mythos dann gleich mit dem Thema Suizid in Kontakt.
Zugegeben: Es wäre ja auch leicht gewesen, sich von diesem Campus in den Tod zu stürzen. Immerhin wirkte der wie ein dreidimensionales Labyrinth, auf dem sich genügend Vorsprünge und andere Gelegenheiten finden ließen, wenn man nur danach Ausschau halten wollte.
Emma jedenfalls dachte intensiv darüber nach, den fragwürdigen Ruf ihrer Uni in dieser Hinsicht zu untermauern. Sie wollte nicht mehr leben.
Mitten in ihre düsteren Gedanken hinein ertönte plötzlich die Stimme von Herbert Grönemeyer. „Tief im Westen“, grölte es aus ihrem Handy. Emma war ein großer Fan des Ruhrpott-Poeten und hatte seit ihrer Immatrikulation „Bochum“ als Klingelton für Anrufer eingespeichert, die sie von der Uni her kannte. Ein Blick auf das Display zeigte: Es war Katha.
Emma schloss die Augen. Das hatte sie ja vollkommen vergessen in ihrem Leid!
„Katha?“, meldete sie sich mit verheulter Stimme.
„Hey, Süße! Also ich fahre jetzt los. Bist du schon unterwegs? Du, ich muss dir unbedingt was erzählen. Du kennst doch den Michi von den Hiwis. Wusstest du, dass der in Wirklichkeit ...“
Emma hörte gar nicht richtig hin, sondern atmete tief ein. Sie hatten sich ja zum Shoppen in Essen verabredet. Was meistens darauf hinaus lief, dass Katha sich irgendetwas kaufte und Emma davon träumte, was sie sich wohl alles gekauft hätte, herrschte in ihrem Portemonnaie nicht wieder einmal Ebbe. Sie war jetzt nicht gerade in der Stimmung für einen Mädels-Abend oder die Frage, was mit diesem Michi von den Hiwis los war. Doch statt Katha das zu...




