E-Book, Deutsch, 272 Seiten
Kastenholz / Kor / Lawo Abartige Geschichten - Grimm
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-7487-9487-5
Verlag: BookRix
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
E-Book, Deutsch, 272 Seiten
ISBN: 978-3-7487-9487-5
Verlag: BookRix
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Es waren einmal ... zwei Brüder, die sich in früheren Zeiten um die Verbreitung von allerlei Erzählungen bemühten, die heuer und allerorts als Märchen bekannt sind. In ihnen ging es am Ende stets verträumt-romantisch zu, und sie schlossen nicht selten mit den Worten »... und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute. « Diese Schlussworte stehen vordergründig für das Überleben der Figuren, von denen die Geschichten erzählten. Hintergründig aber stehen sie auch für die beiden Brüder, die heute noch überlebensgroß für ihre damalige Leistung, diese Geschichten aufgespürt, gesammelt und verlegt zu haben, gewürdigt werden, sodass wir und unzählige Generationen von Kindern nach uns sie vorgelesen bekommen konnten. Es waren ebenso einmal zwei Brüder im Geiste, die sich bis in die heutige Zeit um die Verbreitung von allerlei Erzählungen bemühen, die sie in mehreren Bänden innerhalb dieser Reihe, die nicht zu Unrecht den Titel »Abartige Geschichten« trägt, verlegen. Ob ihnen dafür später einmal ein ähnlicher Ruhm zuteil wird, kann heute nur schwer vorhergesagt werden. Und selbst, wenn sehr stark bezweifelt werden darf, dass die Geschichten dieser Anthologie etlichen Generationen von Kindern vorgelesen werden könnten, so haben sie doch eines mit den Grimm'schen Märchen gemeinsam: Diese waren nicht selten mit Gewalt, Blut und Erotik (zumindest vor der Überarbeitung der ersten Ausgabe damals) gespickt. Und wenn mir die geneigte Leserschaft diesbezüglich keinen Glauben schenken mag, so lese sie doch einmal wieder eines der alten Märchen in seinem Original. Ich schlüge »Rotkäppchen«, »Aschenputtel« oder »Von einem, der auszog das Fürchten zu lernen«, vor. In diesem Sinne verbleibe ich mit den Worten »Und wenn Sie nicht zu Tode erschrocken sind, dann schmökern Sie noch heute«. Ihr Bernar LeSton INHALT: Germaine Paulus Hundert Jahre tief Ralf Kor VERY BAD DWARFS Markus Heitkamp SCHWEINEFRASS Erik R. Andara DER MARKT AM ENDE DER WELT Sonja Rüther GOLDIE UND DIE BÄREN Nici Hope ASH Nicole Renner Der Junge und die verzauberte Krähenfeder Jean Rises Der Nekromant von Oz Wolfgang Brunner Die Narben kalter Küsse Markus Lawo DER HERZBUBE Isa Theobald GÖTTER Sam Bennet Licht und Schatten - (K)ein Wintermärchen Joachim Sohn DER GRIMM Vincent Voss DAS GIERIGE ARSCHLOCH Sascha Dinse GLITCH Diana Kinne Knusper, knusper ... Jacqueline Mayerhofer Layandralien Markus Kastenholz MYTHOS! Bernar LeSton DES NACHTS
Autoren/Hrsg.
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SCHWEINEFRASS - Markus Heitkamp
Er erwachte, als die Morgensonne die Wolken durchstieß. Die wenigen Strahlen, die durch einen Riss in der Decke in den Bau fielen, kitzelten seine Schnauze und verleiteten ihn zu einem lauten Niesen. Hoffnungsvoll lauschte er, doch niemand wünschte ihm die eigentlich obligatorische Gesundheit. Vor wenigen Tagen wäre das noch anders gewesen. Da hätten sie sich quasi überschlagen, und sogar ihr ansonsten ungenießbarer Rudelführer hätte etwas zu seiner Genesung genuschelt. Heute war das anders. Er war mutterseelenallein. Er war schon immer der Schwächste im Rudel gewesen, aber im Gegensatz zu einem Wolf aus dem Nachbarrevier, hatte sein Clan ihn nicht etwa verstoßen. Sie hatten ihn, solange er denken konnte, beschützt, gehegt, umsorgt und gepflegt. Warum das so war, hatten sie ihm nie erzählt. Er hatte aber auch niemals gefragt. Nun waren sie alle weg. Einer nach dem anderen war in den letzten Wochen in den Wald gezogen, aber nicht zurückgekehrt. Vor langer Zeit hatte ab und zu der Jäger einen von ihnen erwischt. In der Nacht hatte man einen Schuss gehört, und man wusste tief im Inneren, ein Teil der Meute würde am nächsten Morgen fehlen. Das allerdings war Jahre her, und seitdem der Jäger angeblich von einer Vegetarierin mit roter Mütze abgeschleppt worden war, hatten sie Ruhe vor seinen Umtrieben. Lange Zeit war kaum ein Mensch im Wald zu sehen gewesen. Vor ein paar Wochen dann hatte einer aus seinem Rudel erzählt, dass am Waldrand eine Siedlung entstehen würde. Menschen waren dabei, das Gelände zu vermessen, Lastwagen karrten Material heran, und ab und an hörte man den Baulärm bis in die Tiefen des Wolfsbaus. Es grollte und rumorte dann. Fast so, wie auch in diesem Moment. Ein tiefes und sehr nah klingendes Grollen ließ den Wolf zusammenfahren. Er rutschte ein wenig weiter in den Bau hinein und schlug beide Vorderpfoten über die Augen. Egal, was es war: konnte er es nicht sehen, konnte es ihn auch nicht sehen. Wieder ertönte das schaurige Geräusch. Hätte er schwitzen können, es hätte sich Angstschweiß in seinem Nackenfell gebildet. So begann er lediglich unterwürfig zu winseln. Dann besann er sich und versuchte es mit der in seiner Art üblichen Offensive: Er ließ ein bedrohliches Knurren aus seinem geifernden Maul erklingen und zog die Lefzen weit nach oben. Er wollte doch mal sehen, ob der vermeintliche Eindringling sich davon nicht einschüchtern ließ. Das Grollen ertönte erneut, und diesmal zuckten Schmerzen durch seinen Körper. Genauer gesagt durch seinen Magen. Erleichtert, aber auch ein wenig peinlich berührt, blickte er um sich. Hoffentlich hatte keiner gemerkt, dass er sich von seinem eigenen rumorenden Bauch in die Irre hatte führen lassen. Nun, es war keiner da, der es hätte merken können. Er lief einmal durch den ganzen Bau, schnüffelte an jedem Lager, konnte aber nichts Essbares finden. Lediglich die langsam verblassenden Duftmarken seines Rudels waren wahrnehmbar und bescherten ihm das Gefühl unendlicher Einsamkeit. Einsamkeit hin oder her, er hatte Hunger. Also beschloss er, das zu tun, was sich für einen Jungwolf gehörte: Er würde auf die Jagd gehen. Immerhin war er jetzt der Rudelführer. Und vielleicht, mit ein wenig Glück, würde er die anderen ja irgendwo im nahen Wald finden. Frohen Mutes trottete er aus dem Bau, reckte und streckte sich in den morgendlichen Sonnenstrahlen, machte kehrt und rollte sich auf seinem Lager wieder zusammen. Niemand jagte am helllichten Tag. Bei Anbruch der Nacht erwachte er wie von einer inneren Uhr geweckt und von unbändigem Hunger getrieben. Er überquerte, nach allen Seiten witternd, die kleine Wiese zwischen dem Bau im leichten Gehölz und dem dichten Wald und verschwand im Dickicht. Es dauerte einen Moment, bis er sich an die Dunkelheit gewöhnt hatte. Der Wolf war nicht wirklich mit der Gabe der Nachtsicht beschenkt, aber es würde für seine Zwecke reichen. Rund um ihn herum herrschte Stille. Er verharrte und lauschte. Er hörte ... nichts. Abgesehen von seinem Magen. Was macht ein Wolf auf der Jagd? Er hatte absolut keine Ahnung. Er überlegte angestrengt und begann im Kreis zu laufen. Das half ihm beim Denken. Er umrundete eine große Eiche und blickte immer wieder in die nahezu unüberwindliche Ansammlung von Bäumen und Büschen. Nach der gefühlt einhundertsten Umrundung schaute er auf den Stamm des alten Baumes und stutzte. Eine Art Schild lächelte auf ihn herab. Mit scharfen Krallen war auf einem Stück Rinde eine Karte gekratzt. Er sah den Bau, die Wiese, den Wald und die Eiche. An einigen Stellen konnte er Kreuze und kleine Bilder erkennen, die in die Rinde getrieben worden waren. Ein Hase, durchgestrichen. Er erinnerte sich an die Wölfin, die vor einigen Wochen einen hervorragend schmeckenden Waldhasen in den Bau gebracht hatte. Dann verstand er es. Sein Rudel hatte hier das Jagdgebiet gekennzeichnet. Wie überaus geschickt und intelligent. So ging nie einer von ihnen auf die Suche und lief Gefahr, einen bereits abgegrasten Jagdgrund zu durchstöbern und mit leeren Fängen zurückzukehren. Er studierte die Karte aufmerksam. Reh, durchgestrichen. Kaninchen, sie waren kleiner als die Hasen dargestellt, gestrichen. Er fand nahezu dreißig verschiedene Beutemarkierungen, von denen jedoch alle durchgestrichen waren. Wie es schien, hatte sein Rudel so gut wie alle Bewohner des Waldes ausgerottet. Am unteren Rand des Rindenstückes hatte jemand einen Pfeil eingekratzt. Dieser wies ein Stück den Baumstamm hinab. Über dem Ansatz einer Wurzel war das Abbild eines, nein, dreier weiterer Tiere eingeritzt. Waren das Wildschweine? Und die Bilder waren nicht durchgestrichen. Der Wolf jauchzte, und das Wasser lief ihm im Maul zusammen. Er prägte sich die Lage des Pfades und den genauen Standort der Tiere im Gelände ein. Dann machte er kehrt und hetzte in das Dunkel des Waldes. Der Jagdtrieb hatte ihn gepackt. Wäre der Wolf nicht so hungrig und unerfahren gewesen, so wären ihm die Unterschiede zwischen den groben Kratzern auf der Rinde und den filigranen Markierungen auf dem Baumstamm aufgefallen. Und ihm wäre aufgefallen, dass noch ein wenig tiefer ein stilisierter Wolf in den Baum gekratzt worden war. Und daneben sieben Striche. So aber ließ er seinen Trieben freien Lauf und stürzte sich in sein Verderben. Als er mit seiner rechten Vorderpfote in die alte rostige Bärenfalle trat, dachte er noch an ein schmerzhaftes Versehen. So alt und rostig, wie sie war, lag sie bestimmt noch vom Jäger hier. Die Zähne des Fangeisens waren so rostig, dass sie brachen, bevor sie den Knochen seines Vorderlaufs durchtrennen konnten. Was aber auch brach, war eben dieser Lauf. Er war ein Wolf. Schmerzen machten ihm wesentlich weniger aus als sein Hunger. Der Schmerz würde vergehen, der Hunger blieb, solange er nichts zu fressen fand. Einige hundert gehumpelte Meter weiter machten ihn die von beiden Seiten des Weges auf ihn zu schwingenden Holzstämme erstmals stutzig. Und aufgrund seines zwischen den Stämmen schmerzvoll zerquetschten Schweifes auch unglaublich wütend. Nie war jemand aus seinem Rudel in den Bau gekommen und hatte von Bärenfallen, schwingenden Baumstämmen oder aber vergrabenen, zerschlagenen Glasflaschen erzählt. Diese fand er nämlich eher ungewollt beim Durchwaten eines Bachbettes. Zunächst nahm er die Schmerzen nicht wahr, wunderte sich nur, dass das Wasser zwischen seinen Pfoten sich noch dunkler färbte, als es in der Finsternis der Nacht ohnehin schon war. So baumelten seine ehemals krallenbewehrten Klauen nur noch als blutige Klumpen an seinen Läufen, und seine Wut wandelte sich in nackte Angst. Er war sich plötzlich sicher, dass aus ihm anstatt ein Jäger nunmehr ein Gejagter geworden war. Seine Tatzen konnten das Gewicht seines Körpers kaum noch tragen, er zog eine Spur von Blut durch das Gehölz, und die Schmerzen trübten seinen Blick. Als er den Waldrand erreichte, fiel er einfach um. Das Letzte, was er sah, bevor ihn eine gnädige Ohnmacht umfing, waren kleine, grün leuchtende Augenpaare, die ihn aus den Büschen beobachteten. Als er die Augen wieder öffnete, war es früher Morgen. Diesige Schwaden zogen am Waldrand dahin, und zwischen ihnen konnte der junge Wolf die ersten neu gebauten Häuser der Siedlung erkennen. »Halt dich von den Menschen fern«, hallte die Stimme des Leitwolfs in seinem Kopf. Der Leitwolf konnte ihn mal. Er hatte Hunger. Vorsichtig versuchte er aufzustehen, und es funktionierte erstaunlich gut. Zwar waren drei seiner Pfoten übel zerschnitten und ähnelten eher dicken Fäustlingen als wölfischen Klauen, aber sie hatten aufgehört zu bluten. Die linke Vorderpfote war ganz in Ordnung, allerdings stand der Knochen des Laufs schräg nach vorne ab, so dass an ein Auftreten damit nicht zu denken war. Als er sich seinen gebrochenen Lauf so anschaute, sich das geronnene Blut und das aufgerissene Fleisch betrachtete, da dachte er so bei sich, dass er, also gemäß dem Fall, in der Menschensiedlung würde sich nichts Essbares finden lassen, durchaus auch mit drei Beinen durchs Leben kommen würde. Er humpelte ziemlich unauffällig für einen verletzten Wolf in die Siedlung, deren Häuser in dem dunstigen Brodem des Morgennebels kaum erkennbar waren. Er erreichte die...




