Kellerman Wohin die Gier dich treibt
1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-641-16595-6
Verlag: btb
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Kriminalroman
E-Book, Deutsch, Band 22, 512 Seiten
Reihe: Ein Decker / Lazarus-Krimi
ISBN: 978-3-641-16595-6
Verlag: btb
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Faye Kellerman war Zahnärztin, bevor sie als Schriftstellerin mit ihren Kriminalromanen international und auch in Deutschland riesige Erfolge feierte. Sie lebt zusammen mit ihren Kindern und ihrem Mann, dem Psychologen und Bestsellerautor Jonathan Kellerman, in Los Angeles.
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Als er die fertige Arbeit noch einmal überprüfte und gegen eine nackte Glühbirne hielt, wurde er von dem leuchtenden Farbspektrum in allen Schattierungen des Regenbogens geblendet. Das opalisierende Glas war eine hübsche Sache, aber erst die mundgeblasenen klaren Einschübe in Smaragdgrün, Rubinrot und Saphirblau machten das Stück zu einem echten Knaller, da durch sie sensationelle Lichtstrahlen auf seine Wände und Möbel fielen.
Das Buntglas war erstklassig: die Ausführung der Arbeit … eher nicht. Die Lötnähte zwischen den Scherben sahen schlampig aus, und das bisschen Malerei auf dem Glas lag nur leicht über dem Durchschnittsniveau eines Volkshochschulkurses. Doch an seinem momentanen düsteren und nasskalten Ort würde sowieso niemandem der Unterschied zwischen dem Original und seinem trügerischen Platzhalter auffallen. Die dämlichen Wärter stellten gar kein Problem dar. Und deshalb sollte der Austausch der reinste Spaziergang werden, denn er konnte die Arbeit in einer Aktentasche verstecken. Sogar sein Werkzeugkoffer war größer und sperriger. Er hatte es schon mal geschafft. Und er würde es wieder hinkriegen.
Manchmal fragte er sich wirklich, warum er sich noch mit diesem Kleinkram abgab. Vielleicht nur, um sein Hirn wach zu halten, denn dieses kleine Ränkespiel war nichts im Vergleich zu seinen Zukunftsplänen. Doch um eine so große Sache durchzuziehen, brauchte man Zeit. Ihm sollte es recht sein. Er würde geduldig abwarten.
Die Glocken läuteten zwei Uhr in der Nacht: Es ging los. Zuerst schminkte er sich mit einem Make-up-Schwämmchen das Gesicht dunkelbraun. Dann rief er Angeline auf einem Wegwerfhandy an und befahl ihr, draußen auf ihn zu warten, er wäre in fünf Minuten da. Sorgfältig wickelte er die Arbeit in Luftpolsterfolie ein und schob sie in seine Aktentasche aus Leder. Sein Werkzeugkoffer war bereits im Auto.
Er sah noch mal auf die Uhr. Dann zog er die schwarzen Handschuhe über und bedeckte seinen Kopf und sein Gesicht mit einer schwarzen Skimaske. Danach wickelte er sich den schwarzen Schal um den Hals: eine gute Tarnung, aber bei der Kälte absolut notwendig. Ein letzter prüfender Blick in den Spiegel – alles sah perfekt aus. Er war nur mehr ein tiefschwarzer Schatten, der durch die Nacht schwebte.
Hüte dich vor deinen Wünschen.
Nach drei Jahrzehnten Polizeiarbeit als Detective Lieutenant in Los Angeles hatte Peter Decker geplant, es ab sechzig ruhiger angehen zu lassen, irgendwas zwischen Vollpensionierung und der Achtzig-Stunden-Woche aus seinem früheren Leben. Er wusste, dass er mit seinem wachen Verstand und seinem Hang zur Ruhelosigkeit noch nicht bereit war, die Uniform schon ganz an den Nagel zu hängen. In seiner Fantasie bot eine ideale Anstellung geregelte Arbeitszeiten mit freien Abenden und Wochenenden.
Die gute Nachricht lautete, dass er jetzt einen überschaubaren Schreibtischjob hatte mit Einsätzen, bei denen er zu älteren Mitbürgern mit Schmerzen in der Brust, vermissten Haustieren und zur Überprüfung betrunkener Teenager nach Samstagnacht-Saufgelagen gerufen wurde. In die Nähe richtiger Verbrechen war er in den letzten sechs Monaten höchstens mal durch die Anrufe wegen einer Einbruchsserie gekommen, bei der die Diebe Elektronisches stibitzt hatten – Handys, Laptops und Tablets. Keiner dieser Diebstähle war verwunderlich, denn Greenbury war eine Stadt, in der es ab September von Studenten nur so wimmelte, die sie dann im Juni wieder entließ.
Die Five Colleges of Upstate New York war ein Konsortium liberaler geisteswissenschaftlicher Hochschulen, jede mit einer eigenen Ausrichtung. Ein College hatte sich auf Mathematik und Naturwissenschaften spezialisiert, ein anderes auf Betriebswirtschaft und Ökonomie. Ein drittes war ein reines Mädchen-College, und das vierte legte den Schwerpunkt auf bildende Künste, Theater und Sprachen. Das fünfte College – Duxbury – galt als Eliteakademie, gegründet 1859, ein paar Jahre vor dem Amerikanischen Bürgerkrieg. Die weitläufigen Campusse mit ihren Gebäuden aus Ziegel- und Backstein verteilten sich auf hunderten Quadratmetern einer dicht und üppig bewachsenen Landschaft aus Parkanlagen, natürlichen Wasserquellen und lichtem Wald. Das Ganze bildete eine Welt für sich, mit einer eigenen Polizei, wodurch Deckers Wirken als Polizist noch eingeschränkter war.
Zwischen den Einheimischen und den Studenten kam es selten zu Zwischenfällen, da in Greenbury Rentner und Familien aus der arbeitenden Mittelschicht lebten. Ihnen gehörten die meisten unabhängigen Geschäfte und Restaurants, die die Wirtschaft der Stadt ankurbelten. Die Studenten kamen meist aus stinkvornehmen Familien und wussten sich ganz gut zu benehmen, auch wenn sie gerne die Nächte durchfeierten.
Der alte Teil von Greenbury war eine typische Collegestadt, dessen Straßen man nach Harvard, Yale und Princeton benannt hatte. In den Straßen befanden sich haufenweise Franchise-Geschäfte: Outsider Sportswear, Yogurtville, Rentaday-Autovermietung, Quikburger. Es gab ein Triplex-Kino, ein halbes Dutzend billige Klamottenläden, mehrere Nagelstudios, Fahrradverleihe, einen Bioladen und unendlich viele Bars und Restaurants. Jede angesagte Essensrichtung war vorhanden, sogar ein koscheres Café mit Take-away-Service, das Rina nahezu täglich aufsuchte.
Decker dachte an seine Frau.
Wenn jemand Eingewöhnungsprobleme haben würde, davon war Decker ausgegangen, dann Rina. Doch in Wahrheit hatte sie sich viel schneller zurechtgefunden als er. Sie stürzte sich in die Arbeit bei der örtlichen Hillel, die für alle fünf Colleges zuständig war, und bot an, für interessierte Studenten bei sich zu Hause freitagabends ein Essen auszurichten. Als zu viele Studenten ihr Interesse bekundeten, wurden die Abendessen in einen Speisesaal in der Hillel verlegt. Das Essen wurde von den Studenten zubereitet, aber Rina war fast jeden Donnerstag und Freitag da und packte beim Kochen und Backen mit an. Weil das ihre freie Zeit immer noch nicht ausfüllte, erklärte sie sich bereit, ehrenamtlich als Thora-Lehrerin zu arbeiten, wenn die Hillel ihr einen Raum zur Verfügung stellen würde. Sie machte einen Aushang mit einer Einschreibeliste und rechnete mit höchstens fünf Kindern.
Es kamen sieben.
Die Sache sprach sich herum, und einen Monat später waren es achtzehn Kinder. Daraufhin fragte man sie, ob sie Lust hätte, einen Einführungskurs in Hebräisch zu unterrichten. Sie sagte zu. Meistens hatte sie abends mehr vor als er. Decker gab es nur ungern zu, aber er langweilte sich. Schlimm genug, dass seine Tage quälend ereignislos waren, aber dann bat ihn der Captain, Mike Radar, auch noch, mit dem Bengel als Partner loszuziehen. Daraufhin wurden seine Tage noch länger und noch quälender.
Tyler McAdams, sechsundzwanzig Jahre alt und Harvard-Absolvent, war knapp eins achtzig groß und keine siebzig Kilo schwer. Er hatte haselnussbraune Augen und dunkelbraune, teuer frisierte Haare. Zu seinen adlergleichen Gesichtszügen gehörte eine römische Nase. Er war nicht schmächtig, aber auch nicht muskulös. Er sah aus wie das, was er war – ein Ivy-League-Bengel aus einer wohlhabenden Familie. Er trug teure Kleidung, einen Mantel aus Kaschmir, und die goldenen Uhren an seinem Handgelenk wechselten täglich.
Innerhalb kürzester Zeit war es McAdams gelungen, jeden auf dem Revier mit seiner endlosen Meckerei, er sei schlauer, attraktiver und besser ausgebildet als alle anderen in seiner nächsten Umgebung, vor den Kopf zu stoßen. In seiner Nörgelei lag ein Körnchen Wahrheit – er war schlau und sah gut aus –, aber das ständige Gejaule minderte seine erkennbaren Vorzüge umgehend. McAdams behauptete, er hätte den Job ursprünglich nur aus Neugier auf die Polizeiarbeit angetreten, obwohl er ja an der Harvard Law School angenommen worden sei. Er hatte trotzdem beschlossen, den Studienbeginn um ein paar Jahre zu verschieben, denn er ging davon aus, dass die Arbeit ihm einen Vorsprung vor all den anderen Strebern und Idioten verschaffte.
So lautete zumindest die offizielle Version.
Decker hakte nicht nach, denn es interessierte ihn kein bisschen.
McAdams’ Anstellung war purer Nepotismus. Sein Vater war einer der Hauptgeldgeber des Duxbury College. Der Dekan hatte einen Gefallen beim Bürgermeister, Logan Brettly, eingefordert, der wiederum im Gegenzug einen Gefallen bei Radar abrief. McAdams brachte keinerlei Erfahrung im Polizeivollzugsdienst mit, aber die brauchte er auch nicht, denn es passierte nicht viel, wofür man ein tiefschürfendes Know-how besitzen müsste.
Also war Decker damit einverstanden, den Bengel mit auf seine Runde zu nehmen, und hörte ihm beim Meckern und Jammern zu. Diesmal beschwerte er sich über ihren nächsten Einsatz auf der Liste: eine ältere Dame mit Schmerzen in der Brust. Die Feuerwehr absolvierte gerade ihre monatliche Pflichtübung, deshalb war der Anruf bei der Polizei gelandet. Ein Streifenwagen hätte das erledigen können, aber Decker meldete sich freiwillig. Er erwähnte den Anruf McAdams gegenüber nicht, aber als er aus der Tür ging, sprang der Bengel auf und schnappte sich seinen Schickimicki-Mantel, um ihn zu begleiten. Das machte er jedes Mal. Vielleicht lag es daran, dass Decker ihm kommentarlos zuhörte.
Lucy Jamison war sechsundachtzig, eine blasse und schmächtige Witwe. Als Decker ihr vorschlug, sie ins Krankenhaus zu fahren, zögerte sie, denn es ging ihr bereits besser. Decker brachte ihr ein Glas Wasser und sorgte dafür, dass sie es ganz austrank. Der Winter war trügerisch, und alte Leute dehydrierten leicht, weil es drinnen und draußen trocken war.
Die alte Dame erzählte aus ihrem Leben als junges Mädchen in Michigan. Sie...




