Kießling | Quarantäne, Isolation, Abschottung | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 236 Seiten

Kießling Quarantäne, Isolation, Abschottung

Interdisziplinäre Perspektiven auf das Infektionsschutzrecht

E-Book, Deutsch, 236 Seiten

ISBN: 978-3-593-45537-2
Verlag: Campus Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



Die Quarantäne gilt als älteste Schutzmaßnahme der Welt und war während der Corona-Pandemie von Beginn an allgegenwärtig. Für Betroffene stellt sie einen intensiven Einschnitt in den Alltag dar. Sie kann sogar einen diskriminierenden Charakter annehmen, wenn bestimmte Bevölkerungsgruppen unabhängig von einer tatsächlich bestehenden Infektionsgefahr abgesondert werden. Der Sammelband befasst sich aus verschiedenen disziplinären Blickwinkeln mit der Geschichte der Quarantäne sowie mit Fragen ihrer Rechtmäßigkeit.
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Sicherheit durch Abschottung? Zur Historisierung einer Praxis mit langer Geschichte
Andrea Wiegeshoff49 Am 11.3.2020 hat die Weltgesundheitsorganisation in einer Erklärung ihres Generalsekretärs Tedros Adhanom Ghebreyesus den seit Dezember 2019 andauernden Ausbruch des SARS-CoV-2-Erregers als Pandemie eingestuft.50 Die australische Historikerin und Expertin zur Geschichte der Quarantäne, Alison Bashford, hatte bereits einige Tage zuvor erste Beobachtungen aus der Anfangszeit der Covid-Pandemie in einem kleinen Blog-Beitrag festgehalten. Unter dem Eindruck weltweit ergriffener Schutzmaßnahmen hat sie dabei auf einen aus geschichtswissenschaftlicher Sicht durchaus bemerkenswerten Umstand hingewiesen. Maßnahmen des Seuchenschutzes, so Bashford, ähnelten einander nicht allein im internationalen Vergleich, sondern auch in historischer Perspektive: »[W]e can speculate that physicians from seventeenth-century Ancona, eighteenth-century Marseilles, nineteenth-century Hong Kong and twentieth-century New York would all recognise, immediately, the current strategies put in place to contain the spread of coronavirus: the sequestration of ships, the containment of people on islands, the injunction to self-isolation in homes.«51 Diese Aufzählung ließe sich noch erweitern, etwa um die Abriegelung ganzer Städte im Rahmen der erst Ende 2022 aufgegebenen Zero-Covid-Strategie in China oder um Zugangsbeschränkungen zu Pflegeeinrichtungen, wie sie in Deutschland erlassen wurden.52 Entscheidend ist hier aber vor allem der Befund, dass bestimmte Schutzpraktiken in epidemischen Krisenzeiten über Jahrhunderte hinweg nahezu unverändert wirken. Die Abschottung von kranken Menschen und gegen kranke Menschen scheint geradezu überzeitlich Konjunktur zu haben. Tatsächlich finden sich seit dem späten Mittelalter und der Frühen Neuzeit zahllose Beispiele für den Einsatz von Quarantäne bzw. Formen der Quarantäne während Seuchenausbrüchen. Ihre Grundidee der Regulierung und Einschränkung von Bewegung sowie die räumliche Logik der Absonderung erscheinen zeitlos gültig.53 Dieser Beobachtung genauer nachzugehen, lohnt sich aus mindestens zwei Gründen. Einerseits haben Medizinhistoriker:innen angesichts zuweilen stark vereinfachender Gleichsetzungen von »Corona« mit vergangenen Epidemien aus guten Gründen immer wieder auf die Spezifika historischer Ausbrüche und damit die Grenzen asynchroner Vergleiche hingewiesen.54 Andererseits handelt es sich bei der Quarantäne um eine Praxis mit langer Geschichte, obwohl sie immer wieder und zum Teil mit dramatischen Folgen gescheitert ist. Vor diesem Hintergrund rückt der vorliegende Beitrag die »Überzeitlichkeit« der Quarantäne selbst in den Mittelpunkt, indem er die Beharrungskraft dieser Maßnahme des Gesundheitsschutzes untersucht. Aus Perspektive der historischen Sicherheitsforschung und der Wissensgeschichte diskutiere ich die Fragen, wer oder was eigentlich zu unterschiedlichen Zeiten durch Formen der Absonderung und Abschottung geschützt werden sollte und welche Wissensbestände diesen Schritten jeweils zugrunde lagen.55 Die auf den ersten Blick so gleichförmige Praxis der Quarantäne war, so werde ich zeigen, im Laufe ihrer Geschichte mit ganz unterschiedlichen Wissensformen verknüpft, die ihrerseits nie losgelöst von spezifischen Vorstellungen über gesellschaftliche Ordnungen waren. Historisch verbanden sich in Quarantänepraktiken unterschiedliche medizinische Krankheitsverständnisse, Erfahrungswissen sowie das Ziel der Sicherung bestimmter Ordnungen. Um dieses Argument zu entwickeln, wirft der Beitrag einige Schlaglichter auf die Geschichte der Quarantäne. In einem ersten Schritt analysiert er anhand der Ursprünge dieser Maßnahme des Gesundheitsschutzes im späten Mittelalter und der Frühen Neuzeit, wessen Bewegungsfreiheit eigentlich aus welchen Gründen eingeschränkt wurde. Anhand der massiven Infragestellung und Kritik an dieser Praxis im 19. Jahrhundert wird zweitens die Frage nach der Bedeutung gesellschaftlicher Ordnungsvorstellungen in Debatten um die Quarantäne noch einmal vertieft. 1.Anfänge im Mittelalter und der Frühen Neuzeit
Wer oder genauer wessen Bewegungsfreiheit durch Absonderung eingeschränkt werden sollte, war zu unterschiedlichen Zeiten umstritten. Ein Verständnis von Ansteckung im heutigen Sinne, welches die medizinische Sinnhaftigkeit von Quarantänen begründet, hat sich erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts allmählich durchgesetzt. Erst mit dem Aufkommen der Bakteriologie seit den 1860er und 1870er Jahren entwickelte sich das Wissen um die Existenz und Bedeutung von Erregern sowie über Möglichkeiten ihrer Übertragung zum breit geteilten Referenzrahmen medizinischen Denkens. Zuvor hatte es zwar zu unterschiedlichen Zeiten immer wieder Überlegungen zu einer vermuteten Weitergabe von Krankheiten zwischen Menschen gegeben. Sie stützten sich aber auf unscharfe Vorstellungen von Übertragungsprozessen und blieben weit entfernt von einem modernen Ansteckungsbegriff.56 Bis in das späte 18. und frühe 19. Jahrhundert haben in Europa und Nordamerika Grundsätze antiker Medizin die ärztliche Ausbildung und Praxis geprägt. Die medizinische Orthodoxie orientierte sich an den Lehren der hippokratischen Medizin und insbesondere an der sogenannten Humoralpathologie. Nach diesem auf den griechischen Arzt Hippokrates (ca. 460–377 v.Chr.) und seine Anhänger zurückgehenden Verständnis hingen Krankheit und Gesundheit von dem Gleichgewicht köpereigener Säfte ab.57 Krankheiten erschienen so nicht als eigenständige Phänomene, sondern vielmehr als spezifische, individuelle Zustände eines Menschen, dessen Körper aus der natürlichen Säftebalance geraten war. Als Auslöser eines solchen krankmachenden Ungleichgewichts galten die Lebensumstände und Gewohnheiten der Erkrankten ebenso wie äußere Umwelteinflüsse, beispielweise das Klima, die Jahreszeiten oder die Qualität der Luft.58 In der hippokratischen Medizin wurden Krankheit und erkrankter Mensch notwendig zusammengedacht. Das massenhafte Auftreten einer Krankheit und ihre großräumige Verbreitung, kurz: Epidemien, waren deshalb besonders erklärungsbedürftig. Die hippokratische Lehre führte sie vor allem auf Umweltfaktoren zurück, denen eine Vielzahl von Menschen gleichzeitig ausgesetzt war und die ähnlich auf das jeweils individuelle Säftegleichgewicht einwirkten.59 Obwohl die hippokratischen Grundsätze immer wieder herausgefordert, ergänzt und erweitert wurden, nicht zuletzt unter dem Eindruck historischer Seuchenausbrüche, prägten sie die europäische Medizin über Jahrhunderte hinweg.60 Die Geschichte der Quarantäne, deren Ursprünge zurück in das europäische Mittelalter reichen, war insofern lange Zeit eine Geschichte ohne eine klare Vorstellung von Ansteckungsmechanismen. Die Anfänge dieser Absonderungspraxis sind eng mit der Lepra und der Pest verbunden. Lepra gilt als eine der ältesten bekannten Krankheiten, die bereits in der Bibel Erwähnung findet. Ausgelöst wird sie durch einen bakteriellen Erreger, der vor allem die Haut und Neven von Betroffenen schädigt, aber vergleichsweise wenig ansteckend ist.61 In Europa breitete sich die Lepra epidemisch im Mittelalter aus, ihren Höhepunkt erreichte die Seuche dort im 13. und 14. Jahrhundert. Den Zeitgenoss:innen galt sie als Krankheit der spirituell und körperlich Unreinen; sie wurde stark moralisch aufgeladen und als Folge sündigen Verhaltens stigmatisiert. Die räumliche Absonderung Erkrankter, auch »Aussätzige« genannt, sollte die Umgebung von gesunden Menschen vor gefährlicher Verunreinigung schützen – einer ganz wörtlich verstandenen Verunreinigung, aber auch im Sinne einer moralischen Bedrohung durch einen zu engen Kontakt mit Sündigen. Leprakranke und jene, die dafür gehalten wurden, wurden deshalb in Hospitälern isoliert und unwiderruflich aus der Gesellschaft ausgestoßen. Im öffentlichen Raum mussten sie sich bemerk- und erkennbar machen, etwa durch besondere Kleidung und das Mitführen von sogenannten Klappern, die warnende Geräusche erzeugten.62 Angesichts der sehr großen Zahl von Leprahospitälern im 13. Jahrhundert argumentieren ...


Kießling, Andrea
Andrea Kießling ist Professorin für Öffentliches Recht, Sozial- und Gesundheitsrecht und Migrationsrecht an der Universität Frankfurt am Main sowie Direktorin des dortigen Instituts für Europäische Gesundheitspolitik und Sozialrecht (ineges).

Andrea Kießling ist Professorin für Öffentliches Recht, Sozial- und Gesundheitsrecht und Migrationsrecht an der Universität Frankfurt am Main sowie Direktorin des dortigen Instituts für Europäische Gesundheitspolitik und Sozialrecht (ineges).


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