Koch / Reis | Ulli, illegal | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 272 Seiten

Koch / Reis Ulli, illegal

E-Book, Deutsch, 272 Seiten

ISBN: 978-3-7504-4982-4
Verlag: Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



»Mut ist der Preis, den das Leben verlangt, für inneren Frieden und Freiheit. Ich genieße die Reise über das freie Land. Ich entdecke viele bekannte Gesichter, eigentlich nur bekannte Gesichter. Warum tu ich mir das an? Der Platz ist voll, alle sind draußen, das gesamte und gewohnte Geschehen, irgendwie vertraut, und ich sitze hier, als hätte sich nichts verändert. Ich atme durch den Schmerz vergangener Jahre, als wäre es heute. Doch ich sehe jetzt mit anderen Augen.«
Ulli ist 46 und kommt gerade von seiner x-ten Entgiftung nachhause. Wenn er so zurückblickt, war sein Leben bis jetzt vor allem eins: ein Kampf um Anerkennung und Liebe. Diese Sehnsucht begleitete ihn vom Heim in den Knast, nach Hamburg in die Sucht, von einer Therapie in die nächste und immer wieder zurück. Heute ist Ulli 61, lebt immer noch auf St. Pauli und hat endlich jemanden gefunden, der ihm half, sein Buch zu vollenden.

»Ich kenne »Wir Kinder vom Bahnhof Zoo« und kann mir vorstellen, wie jemand abstürzt. Ich kenne »Trainspotting« und kann mir vorstellen, wie jemand voll auf Entzug ist. Doch was passiert danach? Ulli zeigt uns einen Kreislauf, der sich so oft wiederholt, dass er nie zu enden scheint. Es scheint aber nur so. Denn der Schlüssel zum Glück ist, es auch zu wollen.« (Daniela Reis)
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EINE WIRKLICH GUTE IDEE Rezept für großen Hans im Wasserbad 500 g Mehl 1 Hefewürfel Salz + Zucker 3 - 4 Eier wenig Milch 1 Zitrone Hefeteig zubereiten. 45 - 60 Minuten im Wasserbad kochen. 10. 11. 1998 Dienstag Habe kaum noch Zeit, das Tagebuch zu führen. Ich merke immer mehr, dass ich wieder lebe. Morgens spazieren, zwischendurch Tischtennis, dort mal ein Brief und da mal eine Postkarte, Malen, Akupunktur und essen und trinken nicht vergessen. Meine letzte Woche in der Entgiftungsgruppe, die sich schon wieder ganz neu zusammensetzt, ist angebrochen. Habe mit Heidi, das ist hier die gute Fee, einen Vorgarten angelegt, zwanzig Meter lang und fünf Meter breit. Am Sonntag machten wir einen Ausflug. Ich habe riesige Karpfen im Teich beobachtet, einen Eiskaffee im Restaurant getrunken und mich mit einem Sammler und Jäger von Blechautos unterhalten. Fühle mich richtig gut! Übrigens wird hier in Bokholt gerade ein Haus für Jugendliche gebaut. Bei denen ist die Rückfallquote bei 80%. Ich habe vor, etwas für die Pola-Post zu schreiben, um anderen Bokholt schmackhaft zu machen. 1997 bis 1998 war ich Mitglied einer Zeitungsgruppe. Zu dieser Zeit musste ich täglich in die Ambulanz 3 in Harburg, um dort meine Dosis Polamidon abzuholen. Levomethadon, wie Methadon, was ich später bekam, ist ein vollsynthetisch hergestelltes Opioid und wird bei einer sogenannten Substitutionsbehandlung bei Heroinsüchtigen eingesetzt. Es unterdrückt den Entzugsschmerz, weil es die Opioidrezeptoren besetzt, indem es den echten Botenstoff imitiert. Dadurch wird die Signalübertragung aktiviert und die Rezeptoren melden Wirkung. Der Kick bleibt dabei aus, die Sucht allerdings erhalten. Vorteile sind die legale Beschaffung und die orale Einnahme, die fast immer unter Aufsicht stattfindet. In der Ambulanz 3 gab es »Pola« nur von 10:00 bis 12:00 Uhr, um 12:05 Uhr war die Tür dicht. Ausreden wurden nur mit schriftlicher Bescheinigung toleriert, zum Beispiel einem Stempel vom HVV bei verspäteten Zügen. Zu dieser Zeit erlebte Hamburg eine große Hilfewelle für Heroinsüchtige. Fast zweihundert Menschen pro Jahr sind damals in Hamburg an den Folgen von Heroin gestorben. Die Stadt musste etwas unternehmen. Es wurden einige Suchthilfe Stationen und drei Suchtambulanzen eröffnet. Die erste in der Sternschanze, die zweite in Wandsbek und die dritte in Harburg. Jedoch kamen Informationen, beispielsweise über neue Medikamente, ungleichmäßig bei den Betroffenen an, deshalb hatten wir, ein paar Substituierte und zwei Psychologen, die Idee, jeden Monat ein Infoblatt rauszubringen. Thomas, einer der beiden Psychologen, wirkte als Vermittler zwischen uns, den Abhängigen und dem Staat, und informierte sich über Geldzuschüsse für Gemeinschaftsaktivitäten. Schließlich bekamen wir einen Raum in der Ambulanz 3 zugesprochen, den wir einmal die Woche nutzten. Wir fingen an, uns mit vier Leuten regelmäßig zu treffen, sammelten Material und sprachen über den Aufbau der Zeitung. Für uns war das eine schöne Ablenkung von uns selbst und Thomas lockte mit frischen Brötchen, heißem Kaffee, Marmelade, Aufschnitt und Eiern. Da er nur zu gut wusste, dass die Konzentration von Abhängigen nicht lange anhält, versuchte er, uns die Arbeit schmackhaft zu machen. Wir besprachen die Inhalte und Thomas rief Leute an, um hier und da Spenden und Geräte, wie einen Computer, zu beschaffen. Der PC war für alle von uns Neuland, keiner hatte Ahnung davon und eigentlich hatte auch keiner Bock, sich welche anzueignen. Lieber raus, einen rauchen. Meistens war nach zwei Stunden Schluss mit der Arbeit, aufgrund von Konzentrationsschwäche oder Suchtdruck. Wir hielten es nie lange aus, da wir lieber im nahe gelegenen Hexenberg einen kifften. Bald schon verbreiteten wir überall die Nachricht, dass eine Zeitung von Abhängigen für Abhängige rauskommen sollte. Die Resonanz fiel positiv aus und langsam, aber sicher hatten wir auch Spaß daran. Der ein oder andere kam noch dazu und so schrieben, illustrierten und druckten wir die erste »Pola-Post«. Treffer versenkt, es lief, Woche für Woche erschien eine neue und bei mir eine Gänsehaut nach der anderen. Erfolg! Wir besuchten Therapien und andere Einrichtungen, auch in Berlin, um darüber zu schreiben. Ich dachte zum ersten Mal überhaupt ernsthaft über ein cleanes Leben nach und stellte mir dieses vor, dachte aber auch gleichzeitig schon daran, zu bescheißen. Nach einer Besichtigung in Bokholt, im Rahmen der Recherchearbeiten, verwarf ich diese Gedanken sofort wieder. Mit der Pola-Post lief es gut, wir steigerten die Auflage und verteilten sie eigenhändig, zuerst umsonst und dann für fünfzig Pfennig. Jeder bekam seinen eigenen Computer und Thomas brachte uns das Arbeiten an den Geräten Schritt für Schritt bei. Wir mussten uns hart konzentrieren, um mitzukommen. Wir rauchten kein Rauschgift mehr und wenn das doch mal passierte, lief alles schief. Es hat gedauert, bis ich mich entschließen konnte, eine Therapie zu machen. Erstmal musste ich begreifen, dass es um mich ging. Ich versuchte, einen Kollegen mit reinzuziehen, aber der wollte einfach nicht. Damals dachte man in der Szene ja noch, dass man bei der Psychotherapie im Kopf operiert und so lange weichgeklopft wird, bis man für die Gesellschaft tragbar ist. Ich hatte tierische Angst davor, bloß weil ich nichts darüber wusste. Ich kannte Bilder aus Filmen, von Menschen mit Schraubzwingen am Kopf, durch die Elektrostöße gejagt wurden. Das waren die gängigen Vorurteile über Psychotherapie. Der Knastdruck war mir bei dieser Aussicht auch egal. Ich dachte, dass ich im Knast besser klarkam. Ich wollte nie ein normaler Mensch sein oder werden. Ein Spießer oder was weiß ich, eben einer, der nach den Vorschriften lebt. Im Heim dachte ich, ich sei schlauer als die Autoritäten. Die Erzieher zu verarschen, gab mir innere Genugtuung. Ich musste also erstmal schlucken, dass das Gangster Dasein vorbei ist, sobald ich diesen Schritt mache. Norbert sagte mal: »Versuch doch mal, die tausend Türen, die du dir an allen Seiten offenlässt, zu schließen, dann wirst du sehen, dass neue Türen aufgehen.« Ich hatte Glück, dass ich Norbert konstant im Rücken hatte. Es war immer einer da. Norbert war immer da. Er konnte mich schließlich davon überzeugen, dass es das Beste für mich war. Ich trat die Therapie im Oktober 1998 an. Ich hatte Angst. Ich wusste, dass die Einrichtung außer chinesischer Heilkunst keinerlei Hilfs- und Ersatzmittel für den Entzug bereitstellte und erlaubte, höchstens mal eine Valium zur Entgiftung. Thomas besuchte mich und schenkte mir ein großes, blaues Notizbuch, damit ich alles für die Pola-Post festhalten konnte. Ich dokumentierte die Entgiftung, doch die Pola-Post überlebte nicht lange. Die Gelder wurden gestrichen und die Leute, die noch dabei waren, schafften es nicht, die Arbeit am Laufen zu halten. Dafür hatte ich nun ein Notizbuch und eine wirklich gute Idee. Mit Postkarten fing es an. Jeden Tag verschickte ich eine und jeden Tag bekam ich Post zurück. Das machte mir Mut, ein richtiges Buch zu schreiben. Mit der Absicht, dass es eines Tages auch gelesen wird. 17. 11. 1998 Dienstag Gestern kam ich in die Reha und musste gleich ein Aufnahmegespräch vor der Gruppe absolvieren. Ziemlich entspannt. Ich sollte in Zeitabschnitten mein Leben erzählen. Damit keiner unterbrochen wird, heben die Leute bei Fragen die Hand, das wird festgehalten und die Fragen werden hinterher gestellt. Ich hatte meinen Lebenslauf nach dreißig Minuten erzählt und ganz zum Schluss kam dann die Frage: »Was willst du hier für dich erreichen?« Da Therapien auf Ehrlichkeit und Struktur aufbauen, kommen da plötzlich so Fragen, was ich in meinem Leben ändern und was ich in der Therapie dafür tun will. Darauf war ich nicht gefasst. Viele machen die Therapie ja nur, damit sie nicht in den Knast müssen, wie ich ja auch. Die meisten sagen dann einfach: »Clean leben.« Doch ich wusste erstmal gar nicht, wie die Frage gemeint war, beziehungsweise worauf das gemünzt ist. Auf die Drogen, auf den Knast oder allgemein auf das Leben? Ich wollte die Frage vorsichtig beantworten, um keine zu hohen Erwartungen an mich zu verursachen. Deshalb sagte ich, dass ich erstmal nur ohne Schmerzen am Leben sein will. Ich will natürlich irgendwann mal clean leben, aber ich will erstmal überhaupt leben. Ich bin ja schon tot, emotional, das ist doch alles nur noch ‘ne Qual! Dem Umstand allein, dass Norbert mich zu dieser Therapie überredet hat, verdanke ich doch, dass immerhin mein Körper noch läuft. Ich muss jetzt erstmal leben lernen. Heute bin ich um 5:00 Uhr aufgestanden, machte einen Spaziergang und um 8:00 Uhr gab es Frühstück. Um 9:00 Uhr Morgenrunde, eine kurze Pause und dann ging es weiter in Kleingruppen. Das waren sehr interessante Gespräche, ich erkenne mich oft selbst in den inneren Konflikten der anderen wieder und das finde ich nicht schlecht. Jedenfalls habe ich mir einen guten Tag zum Wechseln ausgesucht, denn eine Klientin hatte heute Geburtstag. Dementsprechend war das Essen sehr gut. Es gab...


Koch, Ulrich
Ulrich Koch, 1959 in Marne geboren, ist gelernter Bäcker und lebt seit 1981 in Hamburg. Früh begab er sich in kriminelle Kreise und verbrachte infolgedessen viel Zeit im Gefängnis und auf harten Drogen. Seine erste Therapie war ein echter Wendepunkt und ermutigte ihn schließlich sogar, ein Buch über sein Leben zu schreiben.

Reis, Daniela
Daniela Reis, 1988 in Tettnang geboren, studierte klassische Musik, bevor sie anfing, explizite Poesie zu schreiben. Seit 2013 lebt sie in Hamburg und war Teil der Band »Schnipo Schranke«. Nachdem diese sich 2018 auflöste, gründete sie mit ihrem Lebensgefährten Ente Schulz die Band »Ducks On Drugs«. Er war es auch, der ihr Ulrich Koch vorstellte, mit dem sie das Buch »Ulli, illegal« veröffentlichte.


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