E-Book, Deutsch, 320 Seiten
Kochai 99 Nächte in Logar
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-641-22920-7
Verlag: btb
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 320 Seiten
ISBN: 978-3-641-22920-7
Verlag: btb
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
'Bevor ich es vergesse, hier sind ein paar Dinge, die ich in Logar sah: Eine Kobra. Sechs Kinder im Alter von vier bis elf, die zu der Kobra liefen. Eine Kobra mit abgezogener Haut, von sechs Kindern totgeschlagen. Eine Drohne (glaube ich?). 1.226 weiße Lilien. Einen wahren Gott. Keinen Budabasch.'
JAMIL JAN KOCHAI wurde in einem afghanischen Flüchtlingscamp in Pakistan geboren, ist aufgewachsen in den USA. Sein Roman '99 Nächte in Logar' stand auf der Shortlist des PEN/Hemingway Award für das beste Debüt und war nominiert für den DSC Prize for South Asian Literature. Mit dem Erzählband 'Die Heimsuchung des Hadschi Hotak' stand er auf der Shortlist des National Book Award und gewann den Aspen Words Literary Prize sowie den Clark Fiction Prize. Kochai lehrt Kreatives Schreiben an der California State University, Sacramento.
Weitere Infos & Material
AM VIERTEN TAG
Drei Tage nachdem Budabasch mir die Spitze meines Zeigefingers abgebissen hatte, kam Ruhollah Maamaa (Moors kleiner Bruder) von der Arbeit, wo immer die auch war, hieß meine Eltern zu Hause willkommen, setzte mich, kaum dass er meine verbundene Hand sah, in seinen Corolla und fuhr mit mir und meinen Brüdern zu den Schwarzmärkten Kabuls, wo er mir sagte, ich solle mir aussuchen, was ich wolle. Kein Witz. Egal, was es kostete.
»Aber keine Frauen!« Er lachte zu laut.
Ich sah nicht viele.
Ich und meine Brüder blieben nahe bei Ruhollah, während er uns durch das Gedränge auf den Basaren führte, an Checkpoints, Schlaglöchern und offenen Abwasserkanälen vorbei, weg von den gepanzerten Stellungen, wo sich die Amerikaner versteckten, und hin zu den inneren Adern der Stadt. Er wies Bettler ab und schmeichelte den Polizisten, lief in seinen Bluejeans und mit seiner Shah-Rukh-Khan-Frisur durch die Straßen, zeigte auf die zerbombten Gebäude (das waren die T, das da Massoud, das Sayyaf, das Hekmatyar), redete die ganze Zeit viel zu schnell, ging zu langsam, übte sein Englisch und fragte uns Sachen über Amerika.
Ruhollah Maamaa hatte große Pläne. Er studierte an einer Technikerschule in Kabul (wenn er nicht in der Basis arbeitete) und träumte von einem Visum für Amerika. Das Problem war, dass er einen Gönner brauchte, um zugelassen zu werden. Einen aufrechten amerikanischen Bürger, der bereit war, für ihn einzutreten. Er fragte mich nach Agha und wollte herausfinden, ob mein Pops ihm womöglich helfen würde. Um ehrlich zu sein, war ich ziemlich sicher, dass Agha ihn nicht sehr mochte, besonders, nachdem Ruhollah angefangen hatte, für die US Army zu dolmetschen, aber ich stellte fest, je mehr ich ihn in dem Gefühl bestärkte, dass Agha ihm helfen könnte, desto bereitwilliger zückte er sein Portemonnaie. Und ich war nicht gegen Bestechung immun. Meine Brüder ebenfalls nicht.
Mirwais, mein jüngerer Bruder, wollte einfach nur einen Big Mac. Von uns dreien machte ihm das Essen in Logar (Shorwa und Tomaten fast jeden Abend) am meisten zu schaffen. Tage und Nächte mit Durchfall. Er hätte sich ein paarmal fast in die Hose geschissen, der arme Kerl. Mich und Gwora, uns erwischte es natürlich auch, aber nicht so schlimm wie Mirwais. Er sehnte sich sehr nach einer Portion Industrie-Hack, und wir nahmen an, wenn es in Afghanistan einen Ort gab, wo es einen vernünftigen Hamburger gab, dann in Kabul. Traurigerweise mussten wir allerdings feststellen, dass die Marines Kabul infiltriert hatten, ohne einen McDonald’s zurückzulassen, und so mussten wir uns mit Ruhollah Maamaas Lieblings-Kebab-Bude zufriedengeben, wo sie das Lamm draußen auf der Straße grillten und den Duft mit Ventilatoren in die Menge bliesen. Ruhollah erklärte uns, dass es den Laden seit siebzig Jahren gebe und dort schon Sklaven und Bedienstete, Hippies und Kommies, Spetsnaze und Dschihadisten versorgt worden seien. Und jetzt drei kleine Logarer aus Amerika.
Gwora verschwand immer wieder in eine der Buchhandlungen, kaufte nichts, sondern sah sich nur um und schnüffelte an den Seiten. Am Ende suchte er sich an irgendeinem Stand am Kabul, dem Fluss, etwas aus, das er für eine goldene Uhr hielt, was sich jedoch als Messingkompass entpuppte, den Ruhollah zurückgeben wollte, aber Gwora gefiel er noch besser als die ursprünglich anvisierte Uhr.
Ich hatte eine umfangreiche Liste vorbereitet. Zuerst gingen ich und Ruhollah und meine Brüder ins Bekleidungsviertel, und er stattete uns mit afghanischen Sachen aus: Kamiz, Partug und Waskat. Dann ging es weiter von Laden zu Laden, auf der Suche nach den von mir gewünschten Dingen: einem silbernen Allah, einem Taschenmesser und einem Basketball, und die ganze Zeit fügte ich mich so super in die Leute ein, dass mich keiner, solange ich nichts sagte, für einen Fremden hielt.
Das ging so weiter, bis wir zur Zeit des Asr einem kleinen Rudel streunender Hunde begegneten, fast ohne Haare und halb verhungert, und plötzlich fing ich an komisch zu atmen, wurde ganz wirr im Kopf, und mein Fingerstummel fing an zu kribbeln. Je näher die Hunde kamen, desto schlimmer wurde das Kribbeln. Bis zu dem Punkt, dass mich ein Schmerz erfasste, als würde mir der Finger ein weiteres Mal abgebissen, und ich stieß einen Schrei aus wie im Obstgarten, der den Hunden, meinen Brüdern, Ruhollah und den Kabulern um uns herum einen Schreck einjagte.
Eine Weile lang beruhigte sich mein Atem nicht wieder, und Ruhollah geriet in Panik und bot mir an, was immer es in der Nähe gab (Säfte, Sprudel, Zigaretten, Gebetsperlen), bis wir in den Teil des Schwarzmarkts mit den DVDs kamen. Er hielt mir ein paar Filme hin, und mit einem Mal beruhigte sich mein Atem wieder.
Auf dem Weg zurück nach Logar hielt ich meine DVDs an mich gedrückt und sah die kaputten Gebäude und Häuser in den Bergen, auf den Feldern, zwischen den Bäumen und hier und da auch hinter der Mauer eines Anwesens, bis wir an den Checkpoint einer örtlichen Miliz bei Wagh Jan kamen. In Kabul wurde Ruhollah überall durchgewunken, sobald er seinen Militärausweis zeigte, die Milizionäre hier behaupteten jedoch, die T verkleideten sich als Soldaten und fälschten Regierungspapiere. Mich und meine Brüder beachteten sie nicht weiter, befahlen Ruhollah aber auszusteigen, damit sie ihn durchsuchen konnten. Danach fuhr Ruhollah uns durch Wagh Jan, an den kleinen Läden und Ständen vorbei, überquerte den Logar, den Fluss, mied die Straßenarbeiter und bog in die Gassen von Naw’e Kaleh.
Als wir an dem Abend durch das große blaue Tor fuhren, kamen all meine Cousins zu unserem Corolla gelaufen. Es waren vielleicht zwanzig, Knirpse und Teenager, dunkle und helle Gesichter, weit aus Dschalalabad oder ganz nah aus Tangi. Sie umringten unser Auto, hauchten Feuchtigkeit auf die Scheiben und schrieben unsere Namen hinein.
Ich kannte kaum einen von ihren.
Ruhollah Maamaa sprang als Erster aus dem Auto und hätte beinahe ein paar von ihnen geohrfeigt, aber da kam Mirwais, fasste ihn bei den Händen und fragte, ob er auf ihm reiten könnte. Ruhollah stimmte zu, denn niemand schlug Mirwais je etwas ab. Währenddessen schlichen wir, ich und Gwora, meine Cousins und kleinen Onkel, hinüber in den Raum mit den Lehmmauern, ganz am Ende des Wohnbereichs und gleich beim Obstgarten.
Drinnen umringten meine direkten und ferneren Cousins und kleinen Onkel mich und meine Brüder und redeten auf Farsi, Paschto und in bruchstückhaftem Englisch auf uns ein: Sie waren auf eine Weise freundlich, wie sie es in den ersten Tagen nach meiner Ankunft nicht gedurft hatten, war ich doch gleich, nachdem Budabasch mir die Spitze des Zeigefingers abgebissen hatte, von Abo, Baba und Rahmutallah Maamaa ins Gästezimmer gebracht worden, wo ich fast zwei Tage hatte bleiben müssen.
Wieder und wieder verbanden sie meinen Finger neu, verpassten mir eine Infusion und fütterten mich mit Hausmitteln (Sarsar, Kappa und Osh), bis sie mich für fit genug erachteten, Besucher zu empfangen. Gul war der Erste, der sich mir näherte und mit einer Bitte in mein Zimmer schlich.
»Hör zu«, sagte er, »mein großer Bruder kommt heute, und er wird dir Budabaschs Kopf anbieten. Aber hör zu, Marwand: Du musst Erbarmen mit ihm haben, weil Gott das so wollen würde und wir Budabasch brauchen. Verstehst du? Ich meine, er ist der beste Wachhund im Dorf. Vielleicht im ganzen Land. Er ist ohne Furcht und Skrupel. Seine Zähne sind wie Rasierklingen. Ich meine, das weißt du aus eigener Erfahrung, aber hör zu, Marwand: Er hat dich nur gebissen, weil er dich nicht kannte, weil … Er wollte uns schützen, Wallah, Marwand, Budabasch ist ein guter Hund, etwas grob, aber gut, und wir brauchen ihn. Verstehst du, Marwand?«
Ich sagte ihm, ja, das tue ich, aber meine Wunde tat so weh und sah so faulig und eitrig aus, und ich hatte so eine Angst, der Verlust der Fingerspitze könnte meinen Sprungwurf für immer ruinieren, dass ich tief im Herzen auf Rache sann. Gleichzeitig wollte ich es mir mit den Jungs, speziell mit Gul, der Budabasch mehr als alles zu lieben schien, auf keinen Fall verscherzen.
Wie Gul vorausgesagt hatte, kam Rahmutallah Maamaa später in mein Zimmer, allein, und bot mir einen Saft, ein Stück Wassermelone und Budabaschs Leben an.
Ich lehnte alles ab.
Danach stellte mir Gul Dawood, Zia und die übrigen Jungs vor. Zia küsste mich auf beide Wangen und spuckte ein Dua’ direkt in meinen Mund. Dawood umarmte mich wie eine Krabbe, zwickte mir in die Seiten, und ich schob ihn weg. Meine übrigen Cousins hielten nacheinander meine Hand oder meinen kleinen Finger. Ein paar Minuten lang brachte ich es nicht übers Herz, es ihnen zu verweigern.
Wenn die Jungs nicht in der Schule waren, im Garten oder auf dem Feld halfen, spielten wir Fußball oder Stickball, schmissen mit Steinen, wateten durch den Kanal vor dem Haus (ich konnte nicht schwimmen) oder redeten nur. Meist fragten sie mich nach Amerika, wie die Schulen dort waren und besonders die Kinder.
Ich erklärte ihnen, dass die Kinder in Amerika im Prinzip okay waren, nur nicht, wenn sie deinen Namen nicht aussprechen konnten und ihn deswegen änderten, dich Moe statt Marwand nannten, Joe statt Jawed, Bell statt Belqisa, wenn sie deine Herkunft mit der anderer Leute verwechselten und nicht hinhörten, wenn du sie verbessertest, oder wenn sie dachten, Bin Laden wäre dein Opa.
Letzteres haute die Jungs völlig um.
»Wallah«, sagte ich, »sie fragen mich, wo sich mein Opa versteckt,...