E-Book, Deutsch, 294 Seiten
Köhler Politische Bildung der doppelten Geburt
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-7799-8805-2
Verlag: Beltz Verlagsgruppe
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Hannah Arendts pädagogische Figur der Natalität
E-Book, Deutsch, 294 Seiten
ISBN: 978-3-7799-8805-2
Verlag: Beltz Verlagsgruppe
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Dr. Lena Köhler lehrt und forscht an der Fakultät für Erziehungswissenschaften an der Technischen Universität Dresden zu Theorien der Bildung und Erziehung mit eine Schwerpunkt auf Pädagogischer Anthropologie sowie der politischen Philosophie Hannah Arendts.
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Einleitung
Ein Sprechen über die pädagogische Bedeutung der Geburt ist ein Sprechen, das von Spannungen durchzogen ist. Es vereint die relative Gewissheit eines jeden Menschen geboren worden zu sein mit einer wohl nie gänzlich zu klärenden Frage danach, was dies für die Menschen und ihre Lebensläufe bedeutet. Dabei markiert die Geburt eine Schnittstelle: Sie symbolisiert den Beginn eines neuen Lebens, den Wechsel der Generationen sowie Veränderung und Einschnitt für all jene, die gebären oder das neue Leben verantworten und willkommen heißen. Metaphorisch ist die Geburt spätestens mit Hannah Arendt mit dem Sprechen über Anfänge verbunden. Sie markiert den Anfang des Lebens, steht am Beginn der eigenen biografischen Erzählung und verortet in ein Generationenverhältnis. Zugleich verweist sie die Menschen auf ihre Ursprünge und Herkünfte und eröffnet ihnen den Horizont für das Neue und Unerwartete. Die Geburt symbolisiert nicht nur den Anfang, sondern macht Anfänge erst möglich: Nur weil wir geboren werden, meint Hannah Arendt, können wir Neues in der Welt beginnen. Der Mensch ist selbst ein Anfang qua Geburt und darum befähigt, selbst Neuanfänge in der Welt zu vollziehen (vgl. VA, S. 18). Arendts Werk ist geprägt von einem Denken über eben diese Bedeutung von Natalität oder – wie Arendt ins Deutsche überträgt – von Gebürtlichkeit (vgl. ebd., S. 217, vgl. Marchart 2022, S. 376). Sie zählt zu denjenigen Personen der philosophischen Tradition, die, wie niemand sonst, die Gebürtlichkeit des Menschen und seine Fähigkeit neu anfangen zu können ins Zentrum ihres Denkens gestellt hat (vgl. Marchart 2005, S. 17). Sie gilt als die „Philosophin der Natalität“ (Meints 2014, S. 15) und „Denkerin des Anfangs“ (Brumlik 2018a, S. 678). Mit ihrem Fokus auf der Bedeutung der Natalität wendet sich Arendt dabei gegen eine – sogar die – westliche philosophische Tradition, die ins Zentrum ihrer Reflexion die Auseinandersetzung mit der Sterblichkeit stellt. Besonders Martin Heideggers Philosophie und die damit verbundene Bestimmung des menschlichen Daseins als ein „Sein zum Tode“ (Heidegger 1977, S. 235) markiert den Höhepunkt einer traditionsreichen philosophischen Auseinandersetzung mit der Mortalität (vgl. Gerlach 1991, S. 1240). Weil der Tod stets bevorsteht, die Geburt hingegen immer schon geschehen ist, nimmt die Auseinandersetzung mit der eigenen Vergänglichkeit im Leben meist einen größeren Stellenwert ein. Nicht die Gebürtlichkeit, sondern die Sterblichkeit wird zur drängenden Sorge (vgl. Banks 2023, S. 3). Das Leben steht, so Emil Angehrn, somit immer auch im Lichte des Sterben-Lernens, in dem es darum geht, einen Umgang mit der eigenen Endlichkeit zu finden, sich die eigene Lebenszeit einzuteilen und das Leben vom Tod aus gedacht sinnvoll zu strukturieren (vgl. Angehrn 2020, S. 175). Auch für die Pädagogik gilt: Das Sterben-Lernen nimmt einen hohen Stellenwert in pädagogischen Bemühungen ein (vgl. Zirfas 2008a, S. 87).
Dass die Geburt und ihre Bedeutung für den Menschen verstärkt ins Zentrum des philosophischen Denkens rückt, ist besonders Hannah Arendt zu verdanken. So „hat der Umstand, daß sie die menschliche Geburt in den Mittelpunkt ihres Denkens rückt, gegenüber der patriarchalischen Tradition der Philosophie […] eine perspektivistische Erschütterung und Umwälzung in Szene gesetzt“ (Cavarero 1997, S. 16). Die Gestaltung des individuellen Lebens wird – mit Arendt gedacht – nicht mehr von seinem Ende her bestimmt, sondern vom Anfang, das heißt von der anthropologischen Grundbedingung der Natalität aus. Für Arendt wird die Natalität für den Menschen zur „existentiale[n] Struktur seines Daseins“ (Lütkehaus 2006, S. 28). Im Hintergrund ihrer Auseinandersetzung steht dabei ein Vorwurf, den Arendt an die gesamte philosophische Tradition richtet:
„Es ist, als haben die Menschen seit Plato das Faktum des Geborenseins nicht ernst nehmen können, sondern nur das des Sterbens. Im Geborensein etabliert sich das Menschliche als ein irdisches Reich, auf das hin sich ein Jeder bezieht, in dem er seinen Platz sucht und findet, ohne jeden Gedanken daran, dass er selbst eines Tages wieder weggeht“ (DT, S. 463).
Es zeigt sich eine „Geburtsblindheit der Philosophie“ (Sloterdijk 1988, S. 60), die Peter Sloterdijk noch in seinen Frankfurter Poetik-Vorlesungen des Sommersemesters 1988 dem philosophischen Denken diagnostizierte und die bis heute von vielen geteilt wird (vgl. Stone 2019, S. 1; vgl. Angehrn 2020, S. 27; vgl. Banks 2023, S. 1). So rückt die Auseinandersetzung mit der Bedeutung der Geburt für das menschliche Selbst- und Weltverhältnis erst seit einiger Zeit verstärkt in den Fokus. Alison Stone verweist darauf: „Philosophers have asked whether death is bad; how one might die well; how our existence is shaped by our mortality […]. In contrast, philosophers have said little about being born and how that shapes our existence“ (Stone 2019, S. 1, Hervorhebung i.?O.). Jennifer Banks bezeichnet die Natalität sogar als größtes unerforschtes Thema der Menschheit (vgl. Banks 2023, S. 1). Dabei konfrontiert die Geburt den Menschen mit existentiellen anthropologischen und pädagogischen Grundfragen und verweist auf Ambivalenzen der menschlichen Grundsituation, denen sich nicht entzogen werden kann. Stone geht davon aus: „Taking natality into account transforms our view of human existence“ (Stone 2019, S. 1).
In der Welt sind wir, weil wir geboren wurden – eine selbstverständliche, fast schon banale Tatsache, an die jedoch weitreichende Konsequenzen gebunden sind. Neben der Verbindung der Gebürtlichkeit des Menschen mit seiner Fähigkeit des Anfangenkönnens, auf die Arendt immer wieder verweist, geht mit der Geburt auch eine Positionierung einher. Die Geburt situiert den Menschen nicht nur an einen spezifischen Ort und in eine spezifische Zeit, sondern auch in einen spezifischen kulturellen und sozialen Kontext: Wir sind, wo wir sind, weil wir dort und nicht anderswo zur Welt gekommen sind. Die Geburt ist damit nicht nur ein Ereignis, das das Leben des einzelnen Menschen beginnen lässt, sondern auch ein Geschehen, das den Menschen an soziale Gefüge bindet. Sie verweist den Menschen auf seine Eingebundenheit, die der individuellen Existenz vorausgeht und ihr eine vorstrukturierte Ausgangssituation verleiht. Der Offenheit des Neuanfangs, die Arendt an die Gebürtlichkeit des Menschen knüpft, lässt sich folglich eine radikale Fremdbestimmung und Passivität des Eintritts in das Leben gegenüberstellen. Wir können uns nicht aussuchen, wem wir geboren werden. Das menschliche Leben von der Geburt her zu verstehen, verändert somit die Sichtweise auf die eigene Existenz, die durch die Geburt stets in Abhängigkeit von anderen Menschen verstanden werden muss (vgl. ebd.). Auf die eigene Geburt zu schauen, verweist auf die eigene Vergangenheit, Situiertheit und Relationalität. In ihr offenbaren sich der Ursprung, die Herkunft und all das, was das eigene Selbst- und Weltverhältnis von Geburt an prägt.
Der Bedeutung der eigenen Geburt auf den Grund zu gehen, ist nicht nur aufgrund der skizzierten Spannungen kein einfaches Unterfangen. Die Geburt als Metaphorik für den Anfang deutet auch auf die Unmöglichkeit hin, „sich hinter diese Anfänge zurückzudenken“ (Schmitz-Emans 2017, S. 30). Ihre Gewissheit ist uns gegeben, ohne dass wir uns ihrer Bedeutung gänzlich vergewissern können. Die Geburt als Startpunkt des eigenen Lebens bleibt den Geborenen unverfügbar. Wir können unsere eigene Geburt nicht bewusst miterleben, blicken immer nur auf sie zurück, niemals auf sie hin. In die Welt sind die Menschen von jemand anderem geboren worden, ohne dass sie darauf einen Einfluss haben können. Die Umstände der eigenen Geburt sind uns nicht nur entzogen, sie wurden bereits für uns gesetzt. Der Anfang geht dem Anfangenkönnen voraus. „Denn auch anfangen kann nur einer, der schon angefangen hat, oder soll ich sagen: der schon angefangen ist?“ (Sloterdijk 1988, S. 10). In dieser Hinsicht muss Anfangen vielmehr als ein Weitermachen oder Anknüpfen an bereits Angefangenes verstanden werden (vgl. ebd., S. 64). In der Geburt sind die Fremdbestimmung des Angefangenseins und die Offenheit des Anfangenkönnens miteinander verwoben. Wir erfahren uns so als an irgendeinem Punkt anfangend, aber immer schon als bereits angefangen (vgl. Schües 2016, S. 414?f.; vgl. Angehrn 2020, S. 47)....




