Kossdorff | Der glückliche See | E-Book | www.sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 332 Seiten

Kossdorff Der glückliche See


1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-903460-49-2
Verlag: MILENA
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection

E-Book, Deutsch, 332 Seiten

ISBN: 978-3-903460-49-2
Verlag: MILENA
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection



Vier Geschwister, ihre Eltern, die Erinnerung an den Großvater, die Verbundenheit mit einer Stadt: 2022 kommt eine Familie am Ufer des Traunsees zusammen, um ihren Zusammenhalt in unsicheren Zeiten zu feiern. Doch Veränderungen und Turbulenzen kann sie nicht verhindern - und auch nicht, dass manche Dinge sich wiederholen. Sie sind keine durchschnittliche Familie in der Kleinstadt Gmunden im Salzkammergut: Die Kinder tragen Namen wie Jola oder Aino, der Vater war Hausmann, und die Mutter verdiente als Fotografin das Geld. Jeder kennt sie in der Stadt, auch weil der Großvater Professor am Gymnasium und Hobbydichter war. Doch alles ändert sich: Die Geschwister Aino, Valentin, Jola und Leander sind heute zwischen 40 und 50 Jahre alt und leben zwischen den USA und Salzburg, die Eltern sind geschieden. Auch wenn Humor, Herzlichkeit und die Ablehnung von Spießertum immer noch auf dem Familienbanner stehen, zieht der widerständige Geist der Familie in den Kompromissen des Alltags oft den Kürzeren. Die Zeiten werden schwieriger, Träume bleiben manchmal nur Träume, und was anderen zustößt, scheint plötzlich auch einen selbst treffen zu können. Anlässlich des Besuchs der jüngsten Tochter Aino, die in New York lebt, versammeln sich die Geschwister und Eltern an einem Sonntag im Januar im Haus des Vaters am Traunsee. Ein wunderschöner und humorvoller Gegenwartsroman über eine Familie, deren Mitglieder ihre Beziehungsnetze in alle Richtungen auswerfen.

Jan Kossdorff Geb. 1974 in Wien. 2009 lieferte er mit Sunnyboys sein Romandebüt, bei Milena erschienen anschließend die Romane Spam! 2010, Kauft Leute (2013) und zuletzt Horak am Ende der Welt (2021). Zwischen den Büchern Journalist und Werbetexter. Kossdorff ist Vater von zwei Kindern, er ist in Wien und manchmal am Traunsee zuhause.
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25


Valentin stand in Leanders riesigem Vorzimmer vor dem Wandschrank, dessen Türen mit Papierbögen beklebt waren, auf denen seine Therapietermine und der alternativmedizinische Maßnahmenplan aufgezeichnet waren. Jola hatte das Konzept gestaltet, einen Lebenskalender, der Termine, Ernährungsplan und Motivationsgedanken zusammenführte und dem Kranken das Gefühl vermitteln sollte, Kontrolle über seinen Krebs zu besitzen, zumindest aber Kontrolle über seine Therapie.

Valentin vermittelte der Plan aber noch etwas anderes, nämlich einer fast unbewältigbaren Aufgabe gegenüberzustehen. Er hätte lieber auf ihn verzichtet, aber natürlich half er, den Überblick zu behalten. Er trug die neuen Termine ein, die ihm Jola gemailt hatte, und schrieb einen Spruch in die Ecke eines der Papierbögen:

All you ever wanted is on the other side of fear.

Valentin war nicht unbedingt der Kalenderspruchtyp, aber dieses Zitat – von irgendeinem Engländer, den kein Mensch kannte – war definitiv wahr, und hatte ihm schon in manchen Momenten einen Anstoß gegeben. Er hatte keine Lust mehr gehabt, Krypto-Portfolios für BMW-Manager zu betreuen, mit gestylten Männern in rosa Hemden nach Feierabend mit geöffnetem MacBook im Biergarten zu sitzen und Charts herzuzeigen, aber er hatte Angst gehabt abzuspringen. Das, was er wirklich wollte, konnte er aber nur jenseits dieser Angst finden. (Dass dann alles anders wurde, als man sich das vorstellte, nun, das gehörte eben dazu, man konnte seine Angst überwinden, aber niemals die Tatsache, dass einfach alles auch seine abtörnenden Seiten hatte.)

Leander saß im Wohnzimmer auf seinem Thron, einem alten Lederstuhl, der sich wie ein Zahnarztsessel in Liegeposition bringen ließ, jetzt aber aufrecht gestellt war. Er trug einen Morgenmantel, ein Handtuch um den Hals, seine dunklen Haare, stark ausgedünnt inzwischen, waren feucht vom Waschen. Valentin hatte erst am Tag davor die Badewanne geputzt und die Haare entfernt und dabei ein bisschen mit den Tränen gekämpft, vielleicht sollten sie doch jemanden engagieren, der sich das nicht alles zu Herzen nahm …

Monika war in der offenen Küche und schnitt Grünkohl, dann stellte sie sich hinter Leander, versuchte zu erfühlen, ob es zu sehr zog, wenn die Terrassentür geöffnet war, zog die Tür ein Stück zu, während sie einen Blick auf die Stadt in Richtung Kapuzinerberg warf.

Wieder hinter der Küchentheke drehte sie das Radio an, Ö1, ein Feature über Komponistinnen der Wiener Klassik. Sie sagte in Richtung Leander: »Wie geht es dir mit der Speiseröhre, hat dir das Antacidum geholfen?«

»Ein bisschen«, sagte Leander und angelte mit dem Fuß nach dem Hocker. Dabei fielen die Fernbedienungen auf den Boden, Valentin sprang aus dem Vorzimmer herein und sah sich alarmiert um. Als er sah, dass nichts geschehen war, hob er die Sachen vom Boden auf und sagte: »Ich hab heute nach dem Jaguar gesehen.«

»Ja, und?«, fragte Leander.

»Ein Zettel von wem, dass ein Karton unterm Auto keine Dauerlösung für defekte Zylinderkopfdichtungen wäre …«

»Als wäre das jetzt dein größtes Problem …«, sagte Monika und schüttelte den Kopf.

»Es ist bloß die Kurbelwellendichtung«, sagte Leander, »und sobald ich wieder fit bin und die Ukraine den Krieg gewonnen hat, gehe ich zu Danil, meinem Mechaniker aus Odessa, und sage ihm: Alle unsere Probleme sind Geschichte, hurra, jetzt dichte!«

Valentin lachte. Monika fragte: »Du hast einen Mechaniker aus der Ukraine, der sich mit britischen Autos auskennt?«

»Das behauptet er jedenfalls«, sagte Leander.

Valentin sah auf die Fernbedienungen und sagte: »Willst du nicht dein Handy als Fernbedienung verwenden?«

»Geht das denn?«, fragte Leander.

»Mit dem Samsung auf jeden Fall, bei Netflix muss ich schauen …«

»Ach, nein«, sagte Leander, »dann geht mir der Handy-Akku aus, und ich kann nicht mehr telefonieren und nicht mehr fernschauen!«

»Stimmt«, lachte Monika.

Valentin schob Leander den Hocker näher zu seinem Sessel und dachte an das, was Leander am Vormittag gesagt hatte: »Mit Krebs wird man zum Komiker. Ich sage ganz normale Dinge und plötzlich lachen alle, weil sie erwarten, ich könnte nur über mein Leiden und mein Ableben sprechen.«

»Du bist halt witzig, also manchmal«, hatte Valentin gesagt, aber er musste Leander schon zustimmen: Die Angespanntheit und die Sorgen in der Wohnung in Salzburg führten dazu, dass jedes Fünkchen Humor für eine kleine Explosion der Entspannung sorgte – was natürlich allen guttat, aber manchmal fühlte man sich wie im Boulevardtheater.

Monika kam mit einer Kanne Tee, die sie auf einem Beistelltisch abstellte. Valentin holte zwei Sessel und rückte sie zu Leanders Platz. Monika und er setzten sich, Valentin nahm Unterlagen aus seinem Rucksack.

»So sind wir am Sonntag oft zusammengesessen«, sagte Monika. »Theo hat Balladen gelesen, und wir haben Schallplatten gehört – die Burgtheater-Stars, Skoda, Quadflieg, oder Kleinkunstbühne, Bronner und Konsorten … Wer würde das heute noch machen?«

Seit ein paar Wochen, immer an den Tagen, an denen es Leander besser ging, saßen Monika und ihre Söhne zusammen und sammelten ihre Erinnerungen an »Papa« Theo Busch, Schuldirektor in Gmunden, Monikas Vater. Es hatte mit Valentins Plan begonnen, ein Stück über seinen Großvater für das Figurentheater zu schreiben, und dann war es zu einem Familienprojekt geworden, das genau zur richtigen Zeit kam: Es lenkte sie von den Sorgen um Leander ab, es versetzte sie in eine andere Zeit.

Die Geschwister hatten sich getroffen und ihre Erinnerungen aufgeschrieben. Monika hatte mit ihren Schwestern telefoniert. Sie begannen, alte Fotos und Briefe zu scannen, Zeitungsartikel aus Archiven auszuheben, Kommentare von Zeitzeugen zu sammeln. Schritt für Schritt wuchs ihr Wissen, kehrten Erinnerungen zurück, wurden Bilder aus der vergangenen Zeit lebendig.

»Martha hat mir etwas Lustiges geschickt«, sagte Monika, die durch das Projekt nun wieder in regem Kontakt mit der ältesten Schwester in Wien stand, »ein Gedicht, das Theo bei einer Geburtstagsfeier eines gewissen Prof. Speiser auf einen Zettel gekritzelt und anschließend vorgetragen hat!«

Sie las von einem Post-it ab, das sie aus ihrer Handyhülle gezogen hatte: »Es war ein Mann mit Namen Esser, er wurde Doktor und Professor, nahm zu an Alter, wurde weiser, und nannte sich dann nur noch Speiser

Die Söhne lachten. Sie freuten sich wie Monika über solche kleinen Fundstücke, die dem großen Bild ein schillerndes Mosaiksteinchen hinzufügten.

»Er hat solche Sprachspielereien geliebt«, sagte Monika, die sich ihrem Vater nun näher fühlte als in all den Jahren nach seinem Tod, vielleicht sogar zu seinen Lebzeiten. Als Mädchen war sein Humor für sie nicht immer ganz leicht zu begreifen gewesen, zum Beispiel, wenn er zu ihr sagte: »Wir zwei …«, dann innig seufzte, um fortzusetzen »… und zwei sind vier.«

»Ich hab im Café Baumgartner mit einem alten Herrn geplaudert, der Theo gekannt hat«, sagte Valentin, »der hat mir erzählt, Theo hat sich als Gemeinderat für das Kaffeehaus stark gemacht – die Stadt brauche ein Café direkt am See, schließlich wäre Gmunden eine Kurstadt!«

»Das stimmt, er ist oft dort gesessen und hat eine Cremeschnitte gegessen«, sagte Monika, »auch mit dem Thomas Bernhard.«

Leander sagte: »Ich kann mir Theo und den Bernhard nicht gemeinsam vorstellen, das geht bei mir nicht zusammen.«

»Der Opa hatte keine Berührungsängste mit dem Bernhard«, sagte Valentin, »das ging aber nicht allen so: Der Wendelin Schmidt-Dengler, ein Bernhard-Forscher, hat den Bernhard angeblich nur einmal im Bräunerhof in Wien getroffen, und das Einzige, was er zu ihm gesagt hat, war: ›Ist diese FAZ noch frei?‹ …«

»Man sollte am besten gar nicht mit seinen Idolen reden«, sagte Leander, »ich hätte John McEnroe nie bei dieser Party ansprechen sollen!«

Und dann erzählte Leander von seiner Unterhaltung mit der Tennis-Legende. Monika hörte ihm aufmerksam zu, viel aufmerksamer, als sie das unter anderen Umständen getan hätte, noch so eine Seltsamkeit im Umgang mit einem kranken Menschen – dass man alles aufschreiben wollte, was er oder sie sagte.

Valentin dagegen kannte die Geschichte schon, er driftete in Gedanken weg, überlegte, dass es ihm wahrscheinlich nicht gelingen würde, ein Puppenstück über seinen Großvater zu schreiben, einfach weil kein Krokodil in der Geschichte auftauchte, keine Hexe und kein Räuber, oder nur die Krokodile, Hexen und Räuber, die in jeder Lebensgeschichte vorkamen, aber nicht wirklich zum Bösewicht taugten, weil man sie nie besiegte, sondern sich immer nur mit ihnen arrangierte.

Irgendwann, während Monika über die alte Traunbrücke sprach, wie sie war, bevor sie asphaltiert wurde, wie sich die Mädchen fürchteten, sie zu überqueren, das Brüllen der Traun im Frühjahr unter den schiefen Holzbohlen, schlief Leander ein. Monika merkte es nicht gleich und sprach weiter, denn wenn sie im Redefluss war, fiel ihr oft zu einer Geschichte noch eine andere ein, alleine am Schreibtisch wäre ihr vieles nicht mehr in den Sinn gekommen. Valentin stand auf und brachte den Sessel seines Bruders in die Liegeposition. Monika hörte zu sprechen auf und beide betrachteten Leanders Gesicht, wie er atmete, wie seine Stirn im Schlaf Falten schlug.

Monika seufzte und ging in die Küche, um etwas für den Abend herzurichten. Valentin legte die Füße...


Jan Kossdorff
Geb. 1974 in Wien. 2009 lieferte er mit Sunnyboys sein Romandebüt, bei Milena erschienen anschließend die Romane Spam! 2010, Kauft Leute (2013) und zuletzt Horak am Ende der Welt (2021). Zwischen den Büchern Journalist und Werbetexter. Kossdorff ist Vater von zwei Kindern, er ist in Wien und manchmal am Traunsee zuhause.



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