Krätschell | Herr Schlau-Schlau wird erwachsen | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 178 Seiten

Reihe: Edition Periplaneta

Krätschell Herr Schlau-Schlau wird erwachsen

Roman
1. Auflage 2017
ISBN: 978-3-95996-031-1
Verlag: Periplaneta
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 178 Seiten

Reihe: Edition Periplaneta

ISBN: 978-3-95996-031-1
Verlag: Periplaneta
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Hannes ist fassungslos: Seine Eltern setzen ihn einfach so vor die Tür. Nach 35 Jahren unter einem Dach. Dabei hat er doch nie gestört. Im Gegenteil: Er zahlt pünktlich seinen Mietanteil, wäscht seine Unterhosen selbst und hat nur ein Mal eine Frau mit nach Hause gebracht. Zwischen seinen viertausend Büchern, dem trockenen Rotwein aus Apulien und einem Sofa voller Kindheitserinnerungen war seine Welt bisher übersichtlich und in Ordnung. So unsanft aus dem Nest gestoßen versucht er, voller Selbstmitleid, die abgetragenen Mauern seines Lebens an anderer Stelle wieder aufzubauen. Doch schon am ersten Abend in seiner neuen Wohnung klingelt es an der Tür. Mit einem Begrüßungstropfen und einer Kiste Weinbrandbohnen in den Händen stellt sich sein Nachbar aus dem Erdgeschoss vor. Außerdem hat er ein völlig anderes Lebenskonzept im Gepäck. Johannes Krätschells mitreißender Roman erzählt charmant und aberwitzig Episoden einer verspäteten Menschwerdung. Ein Plädoyer gegen die Angst vor Veränderung und eine Laudatio auf das Leben, wie es eben ist: trostlos, köstlich, tragisch, fabelhaft und vor allem unvorhersehbar.

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Die Vertreibung
Auch wenn sich meine Eltern Sorgen machten, bei mir war alles in Ordnung. Ich war einfach nur ein ernstes Kind. Ernst und neugierig. Ein Kind eben. Ein weißes Blatt, das beschrieben werden wollte. Meine Neugier war wahrscheinlich nicht typisch kindlicher Natur. Deshalb sorgten sich meine Eltern. Aber mit der Zeit gewöhnten sie sich daran. Ich interessierte mich von Anfang an vor allem für Bücher. Für Worte, Geschichten und Figuren. Bilderbücher gefielen mir zwar, aber mein Herz gehörte den Buchstaben. Leider verstand ich sie nicht sofort und so war ich glücklich, wenn mir vorgelesen wurde. Meine Eltern lasen mir vor, so oft und so lange sie konnten. Damit das ernste Kind glücklich war. Auf dem alten Erkersofa in unserer eigenen Bibliothek. Ich ließ mir bald alle Buchstaben erklären, wiederholte ihren Klang und merkte mir ihre Form. Mit vier Jahren konnte ich selbstständig lesen. Das entlastete meine Eltern und beruhigte sie, da ich ja nicht um des Lesens willen las, sondern eben aus Neugier. Aus dem Grund, der ein Kind zu einem Kind macht. Seiner blanken Neugier wegen. Das Meiste, das ich mit vier Jahren las, konnte ich nicht begreifen und fragte nach den Hintergründen. Ich fragte nach vergangenen Zeiten, danach, wo Städte und Länder lagen, warum man einen Brief schrieb und wie man kochte. Mit den Jahren erfuhr ich dabei, wie man lebt. Ich erfuhr, wie Freundschaften entstehen, und konnte ganz leicht selbst welche eingehen. Ich kannte das Gefühl, verliebt zu sein, bevor ich mich das erste Mal selbst verliebte. Die Welt vor der Tür war nicht uninteressant, aber nicht die meine. Meine Welt war die, die sich zwischen zwei Buchdeckeln verbarg. Sie überraschte mich jeden Tag aufs Neue. Hier geschah alles schon, bevor es da draußen passierte. Und so war ich draußen stets auf alles vorbereitet. Meine Freunde waren der Meinung, ich sei schon erwachsen auf die Welt gekommen. Das empfand ich als Kompliment und lebte mein Leben auch weiterhin mehr drinnen in den Büchern als draußen unter Menschen. Es funktionierte und so wollte ich alt werden. Doch ohne jede Vorahnung zog ein Schatten auf, der alles zerstören würde. Es war ein lichter Sommertag und ich saß ohne jede Vorahnung auf dem Lesesofa. Meine Eltern betraten den Raum, nickten mir freundlich zu und baten mich um ein Gespräch im Wohnzimmer. Ich konnte ihren Gesichtern ansehen, dass mich etwas Furchtbares erwartete. Ohne Umschweife kam meine Mutter auf den Punkt: „Lieber Hannes, dein Vater und ich wollen uns zur Ruhe setzen. Wir haben ein Haus in der Uckermark gekauft und ziehen im Herbst dort ein. Wir wollen näher bei deiner Schwester und den Enkeln sein. Die Wohnung haben wir zu Ende Oktober gekündigt. Das heißt, wir müssen alle bis Ende Oktober ausziehen.“ „Mama, was soll ich in der Uckermark? Ich bin ja gern bei Sarah und meinen Neffen, aber ich will mich nicht zur Ruhe setzen.“ „Nein, das kannst du auch gar nicht. Wie willst du dich zur Ruhe setzen, wenn du noch nie aufgestanden bist?“ „Noch nie aufgestanden? Was soll das heißen? Ich habe studiert, ich habe einen Job, ich zahle hier die Hälfte der Miete …“ „Du bewohnst ja auch die Hälfte der Wohnung.“ „Was heißt die Hälfte bewohnen? Ich habe ein kleines Zimmer, wir teilen Küche und Bad und die Bibliothek steht euch immer offen.“ „Nun, manchmal will man vielleicht auch alleine dort sein, ein Buch aussuchen und auf dem Sofa lesen. Aber ein Raum, in dem du an fünf von sieben Tagen nach Feierabend sitzt und in dem du zwanzig von deinen dreißig Urlaubstagen im Jahr verbringst, steht einem nicht wirklich offen.“ „Wirfst du mir gerade vor, dass ich lese? Ihr wart es doch, die mir Literatur ans Herz gelegt habt. Ihr habt mich lesen lassen. Ihr habt diese Saat gestreut und jetzt beschwerst du dich, dass sie aufgegangen ist?“ „Ich bin glücklich, dass du so eine Freude an Literatur hast und auch dein Beruf damit zu tun hat …“ „Mama, was hat mein Beruf mit Literatur zu tun? Ich schreibe Anleitungen für Kinderspiele für Sechs- bis Neunjährige und Dialoge für Apps und Computerspiele. Mein größter literarischer Erfolg sind die Texte von Prinz Tausendzahl in einer App für Mathe in der ersten Klasse. Das kann ich nicht, weil ich Walter Kempowski gelesen habe, sondern weil ich Mathematik nicht verstehe und mich deshalb vielleicht besser in Kinder hineinversetzen kann. Machst du dich über mich lustig?“ „Nein, das mache ich nicht. Ich glaube, du machst eine gute Arbeit und sie hat mit Sprache zu tun –“ „Ich mache keine gute Arbeit, ich habe einen Job. In einer mittelmäßigen Textagentur. Ich helfe einem egomanischen Zwerg dabei, sich zu bereichern. Einem Zwerg, dem ich nur mangels schlechter Kinderstube nicht längst eins auf die Fresse gehauen habe. Der seine fadenscheinigen Kontakte in Aufträge ummünzt und uns Fußvolk alles Notwendige bis zur Bezahlung zusammenschreiben lässt. Das hat mit Literatur gar nichts zu tun. Und trotzdem brauche ich das Geld, zum Beispiel für die Miete hier. Und wie soll ich aus der Uckermark überhaupt jeden Morgen nach Berlin pendeln? Mein alter Saab hält das nicht lange durch.“ Und plötzlich, in dem Moment, als der erregte letzte Ton meiner Stimme zwischen den Nolde-Drucken meiner Mutter und dem Ölgemälde der Westminster-Abbey meines Vaters an den Wänden verhallte, wurde mir bewusst: Sie dachten nicht im Traum daran, mich mitzunehmen. Sie wollten mich nicht mehr dabei haben, sich ohne mich zur Ruhe setzen. Nach fünfunddreißig Jahren unter einem Dach stellten sie mir den Stuhl vor die Tür. Als hätte ich hier im Hotel Mama gewohnt und es wäre Zeit, mich rauszuschmeißen. Aber so war es keineswegs. Ich habe meine Wäsche stets selbst und oft genug auch die meiner Eltern gewaschen. Ich habe meine Boxer Größe M neben die Feinripp-Unterhosen mit Linkseingriff meines Vaters auf die gleiche Leine gehängt. Meine Kochkünste stellen jedes Restaurant in den Schatten, das meine Eltern in ihrem Leben besucht haben. Und ich habe sie geduldig ins digitale Zeitalter begleitet. Egal wie vertieft ich in ein Buch war – wenn mein Vater mich zum sechsten Mal in einer Woche bat, ihm zu zeigen, wie man einer E-Mail einen Anhang hinzufügt, habe ich nicht mal mit den Augen gerollt. Auch wenn die Woche gerade zwei Tage alt war. Ich habe seinen Ordnungssinn übernommen und meine Jacke immer in den Schrank gehängt und meine Schuhe immer ins Schuhregal gestellt, wenn ich nach Hause kam. Aber ich wusste sofort, woher der Wind plötzlich wehte. Vor drei Wochen, da war ich sicher, hätten sie mich noch mitgenommen, aber dann kam die Geschichte mit Katharina dazwischen. Und daran war eigentlich nur Milan Kundera schuld. Und weil seine Bücher seit 1984 in der Bibliothek standen und meine Eltern sie selbst dorthin gestellt hatten, waren sie im Grunde selbst schuld, dass das passiert war. Ich habe Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins und Das Buch der lächerlichen Liebe von Kundera jeweils etwa zwanzig Mal gelesen. Einige seiner Helden gehen rein erotische Verhältnisse ein. Nie so sehr, dass sie sich über das Erotische hinaus binden müssen. Nach dem vollzogenen Beischlaf verlassen seine Helden die Wohnung der Frau. Und melden sich erst dann wieder, wenn ihnen nach dieser Frau ist. Oder nie wieder. Sie haben durchaus ein Zuhause, aber dieses teilen sie nicht. Es bleibt ihr unberührtes Reich. Ein solcher Held war auch ich. Ein solcher Held wollte ich immer sein. Für mich war dieses Reich ein Heim voller Bücher und voller Zeit zum Lesen. Dazwischen ein paar Stunden mit meinen Freunden und ein paar ernstgemeinte Abenteuer. Bis ich Katharina traf, habe ich es immer so gehalten: Gespräche im Park, im Café oder im Auto, Sex bei ihr und gleich danach zurück in mein stilles Zuhause. Zurück auf das Lesesofa, das nicht dem Raum zugewandt, sondern seit allen Zeiten vor dem Fenster mit dem Blick nach draußen stand. Doch bei Katharina war es dieses eine Mal anders gewesen. Wir hatten uns bei einer T. C. Boyle Lesung kennengelernt. Es war schnell klar, dass wir danach weiterreden würden. Als wir damit fertig und am nächsten Punkt waren, erklärte Katharina, sie sei neu in Berlin. Ihre Wohnung würde sie erst im nächsten Monat beziehen. Bis dahin schlief sie auf dem Sofa einer alleinerziehenden Freundin mit drei Kindern. Allen Gesetzen zum Trotz gingen wir zu mir. Meine Mutter war in der Schweiz und mein Vater zur Kinderbetreuung bei meiner Schwester in der Uckermark. Ich hatte also nur das Problem, eine Sechszimmerwohnung glaubwürdig als die meine verkaufen zu müssen. „Das ist ja riesig hier. Wohnst du allein?“ Da dies eine Ausnahmesituation war, erfand ich einfach ein neues Familienmitglied. „Nein, ich teile mir die Wohnung mit meinem Bruder Thomas, der ist aber fast nie in Berlin.“ Immerhin benutzte ich den Vornamen meines Vaters. Ich schob Ka­­tharina in mein Zimmer, das, seit ich lebte, mein Zimmer war. In dem ich noch nie mit einer Frau geschlafen hatte. Tief in der Nacht wurde ich halbwach und spürte, dass mein Bett zum ersten Mal nicht nur von mir warm war. Sie musste gerade erst gegangen sein. Aber an mein müdes Ohr drang immer noch ihre Stimme. Und komischerweise auch die Stimme meines Vaters. Das musste ein absurder Traum sein oder etwas jenseits meiner Vorstellungskraft. Doch es klang ganz real. Ein Zweiundsiebzigjähriger emeritierter Professor für Theologie ging mit nichts am Leib, außer seinen roten...


Krätschell, Johannes
Johannes Krätschell wurde 1976 in Berlin-Pankow geboren. Nach seinem Abitur am Carl-von-Ossietzky-Gymnasium und einem einjährigen Auslandsaufenthalt im Nahen Osten studierte er Geschichte und Politikwissenschaften an der Humboldt-Universität zu Berlin. Nach seinem Studienabschluss zog es Krätschell in die freie Wirtschaft. Hier war er in unterschiedlichen Positionen in der Marktforschung, bei Konferenzanbietern und Agenturen tätig. Heute arbeitet der Berliner Autor für einen Wissenschaftsverlag.

Seit 2012 schreibt er Kurzgeschichten und tritt damit gegen seinen Autorenkollegen Benjamin Kindervatter im Leseduell deutschlandweit an, beispielsweise in Berlin, Leipzig oder Dresden (www.leseduell.com). Laut leicht zu beeinflussenden Quellen liegt Krätschell in diesem lebenslangen Duell in Führung. Neben diesen Auftritten taucht er auch als Gastleser auf verschiedenen Berliner Lesebühnen auf.
Mit "Herr Schlau-Schlau wird erwachsen" legt er nun seinen ersten Roman vor. Johannes Krätschell ist verheiratet und hat zwei Töchter.
https://kraetschell.wordpress.com



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