E-Book, Deutsch, 464 Seiten
Krasznahorkai Seiobo auf Erden
1. Auflage 2010
ISBN: 978-3-10-400708-3
Verlag: S.Fischer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Erzählungen
E-Book, Deutsch, 464 Seiten
ISBN: 978-3-10-400708-3
Verlag: S.Fischer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
»Jedes meiner Bücher soll die literarische Landkarte verschieben«, sagt László Krasznahorkai, dem 2015 der International Man Booker Prize verliehen wurde. 1954 in Gyula/Ungarn geboren, gilt er als einer der innovativsten Schriftsteller Europas, dessen Romane »Satanstango« und »Melancholie des Widerstands« überall auf der Welt begeistert aufgenommen werden. Die internationale Beachtung begann jedoch 1993 in Deutschland mit dem SWR-Bestenliste-Preis für »Melancholie des Widerstands«. In den letzten Jahren erschienen die Erzählbände »Seiobo auf Erden« (Brücke-Berlin-Preis und Literaturpreis Leuk 2010) sowie »Die Welt voran« (2014). Für seinen Roman »Baron Wenckheims Rückkehr« (2018) wurde er mit dem National Book Award 2019 for Translated Literature ausgezeichnet. 2021 erhielt er den Österreichischen Staatspreis für Europäische Literatur sowie 2024 den spanischen Literaturpreis Prix Formentor. Zuletzt erschienen der Roman »Herscht 07769« und der Erzählband »Im Wahn der Anderen«. Heute lebt László Krasznahorkai in Triest, Italien.
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1. Kamojäger
Um ihn herum bewegt sich alles, als wäre aus weltweiter Ferne ein einziges Mal und allen unvorstellbaren Hindernissen zum Trotz mit einer Art von Tiefenströmung Heraklits Botschaft angekommen, denn es bewegt sich, es fließt das Wasser, es kommt und rauscht fort, hier und dort bläht sich die Seide des Winds, die Berge schwanken in der Hitze, ja, die Hitze selbst bewegt sich, zittert und flimmert in der Landschaft, so auch die hohen Halmbüschel auf den Gestrüppinseln im Flussbett und jede einzelne flache Welle, wenn sie stolpernd über die niedrige Schwelle fällt, so auch jedes ungreifbare, wegstrebende Element dieser weiterrennenden Welle und jeder einzelne Lichtblitz auf der Oberfläche dieses wegstrebenden Elements, so auch die mit Worten nicht zu fassenden, wegsprühenden, auseinanderspritzenden Lichttropfen dieser auftauchenden, gleich wieder zerfallenden Oberfläche, so auch die quellenden Wolken, der nervös zitternde blaue Himmel in der Höhe und das mit schauerlicher Kraft konzentrierte, dennoch nicht zu umreißende, auf die gesamte augenblickliche Schöpfung ausgedehnte, wahnwitzig funkelnde, blendende, strahlende Wesen der Sonne, so auch die Fische und Frösche und Käfer und kleinen Reptilien im Fluss und die sich auf den beidseits parallel zum Ufer dahinziehenden, dampfenden Asphaltstreifen unerbittlich vorwärtsschiebenden Autos und Busse, von der Nummer Drei aus dem Norden über die Zweiunddreißig zur Achtunddreißig, dann die rasch schwirrenden Fahrräder unterhalb der breiten Schutzdämme und die am Fluss entlang auf in den Staub gezeichneten oder ausgebauten Pfaden marschierenden Männer und Frauen, sogar die unter der dahinhuschenden Wassermasse befindlichen, künstlich und asymmetrisch platzierten Bremsblöcke, alles spielt oder erlebt, dass mit ihm etwas geschieht, dass es abläuft und rast und fortschreitet und geht und sinkt und auftaucht und verschwindet und wieder zum Vorschein kommt, dass es rennt, dass es fließt und irgendwohin weitersirrt, nur er rührt sich nicht, der Ooshirosagi, der mächtige, schneeweiße Vogel, dieser von allen Seiten angreifbare, seine Schutzlosigkeit hier nicht einmal verbergende Jäger – neigt sich jetzt vor, streckt seinen zur S-Form gekneteten Hals und damit auf der gleichen Linie auch seinen Kopf und seinen langen harten Schnabel aus und spannt das Ganze an, spannt es gleichzeitig nach unten, während er die Flügel eng an den Körper drückt und für die dünnen Beine unter dem Wasser je einen sicheren Halt sucht und die Augen auf die wegströmende Wasseroberfläche richtet, auf die Oberfläche, ja, wobei er natürlich kristallklar sieht, was sich da in der Lichtbrechung unter der Oberfläche befindet, da unten, und auch wenn es sehr rasch kommt, wenn es kommt und dahingetrieben und weitergerissen wird, wenn ein Fisch, ein Frosch, ein Käfer oder ein kleines Reptil zusammen mit dem rauschenden, zuweilen gebremsten und da sogleich schäumenden Wasser ankommt, dann wird er mit einer einzigen, haargenauen Bewegung seines Schnabels zuschlagen und etwas herausholen, was genau sieht man gar nicht recht, so blitzschnell geschieht alles, sehen nicht, aber wissen kann man, dass es ein Fisch ist, ein amago, ein ayu, ein huna, ein kamotsuka, ein mugitsuku oder ein unagi oder sonst etwas, dass er deshalb da im seichten Wasser gegen die Mitte des Kamo steht, und zwar in einer nicht mit ihrem Vergehen zu messenden, aber ohne jeden Zweifel eindeutig existierenden, einer weder vor noch zurück, sondern einfach so brodelnd nirgendshin fortschreitenden, als unbegreiflich kompliziertes Netz ausgeworfenen Zeit, und seine Reglosigkeit muss gegen eine so riesige Kraft entstehen und fortbestehen, dass sie nur in ihrer Gleichzeitigkeit zu fassen wäre, während doch genau das, das gleichzeitige Fassen, nicht zu verwirklichen ist, und so bleibt er ungesagt, nicht einmal das Gesamt der ihn beschreiben wollenden Wörter kommt an ihn heran, und schon gar nicht die Wörter je einzeln, während er sich doch in einem Mal, in einem einzigen Augenblick jeglicher Bewegung entgegenstemmen und sie aufhalten und ganz allein, ganz für sich inmitten einer lärmenden, wimmelnden Welt des Ereigniswahnsinns dort bleiben muss in diesem ausgegrenzten Augenblick, damit dann der Augenblick gewissermaßen um ihn herum zugehe, der Augenblick abgeschlossen sei, er muss also seinen schneeweißen Körper inmitten der tobenden Bewegung anhalten, seine Reglosigkeit der ihn von allen Seiten überfallenden entsetzlichen Kraft entgegenstemmen, denn das kommt viel später, dass er am totalen Wahnsinn der tobenden Bewegung wieder teilnehmen wird, dass auch er sich, zusammen mit allem, bewegen wird, in einem blitzschnellen Zuschlagen, während er jetzt erst beim sich um ihn schließenden Augenblick ist, beim Anfang der Jagd.
Er kommt aus einer Welt, die vom ewigen Hunger beherrscht wird, und so bedeutet in seinem Fall das Jagen die Teilnahme an der allgemeinen, endlosen Jagd, denn alles Lebendige um ihn herum lauert auf seine je für es bestimmte Beute, fällt über sie her, fährt auf sie herunter, schleicht sich an und schnappt sie, packt sie am Hals, bricht ihr das Rückgrat, bricht sie entzwei, grast sie ab, saugt sie aus, schleckt sie auf, sticht hinein und schlürft sie, knabbert sie an, zerbeißt sie, schluckt sie ganz, und noch etliches mehr, auch er steht also in der Unermesslichkeit der Jagd, auch ihm ist sie aufgezwungen, denn nur so, nur auf diese Art kommt er im ewigen Hunger zu Nahrung, nur in der universellen, sich auf alle erstreckenden, obligatorischen Jagd, die aber in seinem ausschließlichen, das heißt persönlichen Fall um eine Bedeutung reicher wird, wenn er seinen Platz einnimmt, also die Beine im Wasser verankert und sich gewissermaßen versteift, reicher, als was uns das Wort im Allgemeinen bietet, so dass Al-Zahad-il-Shahibs berühmter Dreisatz – Ein Vogel fliegt am Himmel heimwärts. Er sieht müde aus, er hatte einen anstrengenden Tag. Er kommt von der Jagd: von der Jagd auf ihn – einen komplexeren Sinn erhält, denn im Fall dieses Vogels müssen wir das so abwandeln, den Akzent so verschieben, dass er zwar in einem unmittelbaren, nicht aber in einem größeren, Kausalzusammenhang steht, dass er also in einem Raum existiert, in welchem jedes entferntere Ziel und jeder entferntere Beweggrund von vornherein unmöglich sind, wohingegen das Geflecht der unmittelbaren Ziele und Beweggründe umso dichter ist, das Geflecht, in welchem er geworden und in welchem er dann sterben muss.
Sein einziger natürlicher Feind hingegen, der Mensch, im täglichen Bann träger Bosheit befangen, beachtet ihn jetzt nicht, während er am Ufer auf in den Staub gezeichneten Pfaden marschiert, läuft, radelt, nach Hause oder von dort weg, beziehungsweise während er auf einer Bank sitzt und dort seine Mittagspause mit dem im örtlichen SEVEN ELEVEN-Laden gekauften, in ein Algenblatt gewickelten, nigiri genannten Reisdreieck verbringt, jetzt nicht, heute nicht, vielleicht morgen, oder später einmal, wenn es dafür einen Anlass gibt, aber auch wenn da Leute wären, die ihn beachteten, würde er sich kaum um sie kümmern, er ist an sie gewöhnt, so wie auch sie an den großen, mitten im seichten Wasser stehenden Vogelkörper gewöhnt sind, wobei das heute weder hier noch dort eine Rolle spielt, keiner nimmt den anderen zur Kenntnis, obwohl es durchaus Zeugen geben könnte dafür, dass er dort steht, in dem ungefähr knietiefen, also tatsächlich recht seichten, mit Grasinseln vollgestreuten, also tatsächlich recht merkwürdigen, wenn auch nicht gerade bizarrsten Fluss der Erde, inmitten des Kamo, dass er einfach dort steht, ohne die geringste Bewegung, mit dem nach vorn gespannten Körper, in Erwartung der Beute des Tags, während verblüffend langer Minuten, die jetzt schon fast zehn Minuten sind, bis schon fast eine halbe Stunde vergeht und also in diesem Warten und Aufpassen und Unbewegtsein die Zeit ungeheuer lang wird und er sich immer noch nicht rührt, er immer noch ganz genauso steht, in derselben Pose, ohne dass auch nur eine einzige Feder zuckt, genauso steht, vorgeneigt, den Schnabel in scharfem Winkel über der wegsprudelnden Wasseroberfläche, niemand beachtet ihn, niemand sieht ihn, und wenn heute nicht, dann auch eigentlich in Ewigkeit nicht, die unaussprechliche Schönheit seines Stehens bleibt verborgen, bleibt unbeachtet der außerordentliche Zauber seiner erhabenen Reglosigkeit, und so bleibt verborgen und unbeachtet, geht verloren, noch bevor es in dieser seiner Reglosigkeit, hier, inmitten des Kamo, noch bevor es in dieser seiner schneeweißen Anspannung manifest würde, geht verloren und bleibt ohne Zeugen die Erkenntnis, dass er es ist, der allem, was ihn umgibt, den Sinn verleiht, den Sinn verleiht der in tobender Bewegung wirbelnden Welt, der trockenen Hitze, dem Flimmern, den durcheinanderflirrenden Stimmen, Düften, Bildern, weil er in dieser Landschaft ein ganz außergewöhnlicher Fall ist, weil er der unanfechtbare Künstler dieses Landschaftsbildes ist, der mit der beispiellosen Ästhetik vollkommener Reglosigkeit, als künstlerischer Verwirklicher unerschütterlicher Aufmerksamkeit, sich ein für allemal über die Dinge erhebt, denen er im Übrigen den Sinn gibt, sich erhebt, heraussteht aus der ihn umgebenden irrwitzigen Kavalkade und eine Art von Ziellosigkeit einführt … nämlich indem er noch zusätzlich schön ist –, über den lokalen Sinn all der Dinge hinaus, auch über den lokalen Sinn seiner eigenen aktuellen Tätigkeit hinaus, denn warum ist er schön noch zusätzlich dazu, dass er einfach ein weißer Vogel ist, der steht und wartet, ausgerichtet auf die Strömung des Flusses Kamo in Kyoto darauf wartet, dass unter der Wasseroberfläche endlich erscheint, was er mit unerbittlich zielsicherem...