Krausser Deutschlandreisen
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-8321-8780-4
Verlag: DuMont Buchverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 302 Seiten
ISBN: 978-3-8321-8780-4
Verlag: DuMont Buchverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Helmut Krausser, geboren 1964, lebt in Berlin. Bei DuMont erschienen neben dem Gedichtband >Plasma< (2007), >Verstand und Kürzungen< (2014), die Romane >Eros< (2006), >Die kleinen Gärten des Maestro Puccini< (2008), >Einsamkeit und Sex und Mitleid< (2009) >Die letzten schönen Tage< (2011) und >NIcht ganz schlechte Menschen< (2012) sowie die Tagebücher >Substanz< (2010) und >Deutschlandreisen< (2014) und der Kriminalroman >Aussortiert< (DuMont Taschenbuch 2011). Seine Romane >Der große Bagarozy<
Autoren/Hrsg.
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Berlin–München
Seit gestern lebe ich in der siebten Septime. Jetzt also der Abschnitt von 42 bis 48, die Jahre, in denen der römische Mann politikfähig wurde. Reif.
Bei jeder Fahrt nach Tegel treibt mir das baldige Ende des Flughafens Tempelhof Tränen in die Augen. Hochziehen und runterschlucken. Geht bei Tränen nicht? Bei imaginären schon. Fliegen zum Taxipreis. Seltsamer Slogan. Was würde ein Taxi von Berlin nach Athen wohl kosten? Jedenfalls mehr als 29 Euro. Berlin, Athen, auf Wiedersehn.
Was ist an München schön? Einige Freunde, die dort noch wohnen, die Buch- und Weinhandlung Dichtung und Wahrheit und natürlich ein Steckerlfisch im Hirschgarten. Warum brät in Berlin niemand Steckerlfisch? Könnte man gut Geld mit machen. Zweihundertdreißig Seen ringsum. Grillkohle gibts auch zu kaufen. Rendite müßte ganz stattlich sein. München. Diese überzuckerte Stadt. Immerhin ist Peter Jonas endlich weg. Im Flieger sitzen, nebst vielen anderen, der Schauspieler Herbert Knaup und die Literaturpreisempfängerin Herta Müller.
Seit vielen Jahren der erste schröderfreie Sommer – aber auch der erste ohne Gernhardt. Letzterer hat nie den Büchnerpreis bekommen. Daß es ernsthaft Menschen gibt, die glauben, in fünfzig Jahren würde man noch was von (hier die Namen etlicher Büchnerpreisträger einsetzen) lesen, das macht diesen Planeten so schillernd einzigartig im Kosmos.
Stieg vorhin in die U-Bahn, raus trat eben ein älterer Mann, er wandte sich zu drei fünfzehnjährigen Girlies um und rief: »Wie soll man denn da ein Gedicht vortragen, wenn ihr andauernd gakkert!« Das hat mich sehr gerührt. Die pinkigen Girlies eher nicht, die kippten halb von den Sitzen und johlten. Gedanke, daß Mädchen vielleicht gnadenlos überschätzt werden. Gäb es kein Testosteron, Mädchen würden kaum wahrgenommen werden, außer als Belästigung.
Schwere Gewitter über München. Vom Flugzeug aus wunderbar zu beobachten, die Ränder des Sturms sind messerscharf gezogen.
Schnell Mails checken gehen im EasyInternet gegenüber vom Hauptbahnhof. Ich tippe lang erwartete Antworten und hinter mir stehen zwei Männer, unterhalten sich laut, sehen mir über die Schulter. Kann ich nicht ab. Drehe mich um. Ob die beiden bitte einen dezenten Mindestabstand halten möchten? Der eine nickt und dreht ab, der andere geifert mich an.
»Du Scheiß-Rassist!«
»Wie bitte?«
»Du kann dir vorstellen, wie ist, jeden Tag! Jeden Tag!«
Der Mann, vom Teint vielleicht ein Perser, haut mir mit der Handfläche ins Schulterblatt. Geht ja gut los.
»Scheiß- Rassist!« schreit er. »Komm mit raus, du Sau! Jeden Tag! Jeden Tag das!«
Er wirkt wirklich zornig, scheint den Tränen nahe. Irgendwie unverdient, wenn man das so sagen kann.
»Ich will keinen Streit mit Ihnen«, sage ich, »lassen Sie mich einfach hier meine Mails tippen.«
Das ist natürlich der völlig falsche Ton. Ich hätte aufstehen, vor ihm niederknien und seine Hand küssen müssen, um Verzeihung bitten müssen, daß ich ihn mit dem Hinweis auf landesübliche Sitten belästigt habe. Er ist sauer, richtig sauer. Gleich zieht er ein Messer. Er weint. Allen Ernstes. Tausende rassistische Übergriffe müssen sein Hirn mürbe gemacht haben. Er geht einfach nicht weg. Er ballt die Fäuste, reißt sich letzte verbliebene Haare aus, stampft auf und ab. Brüllt mich an.
»Jeden Tag! Jeden Tag!«
Er erinnert mich an den cholerischen Perser aus L. A. Crash, dabei ist er vielleicht Armenier oder aus dem Irak, was weiß ich. Er stürmt aus der Tür, ich atme auf. Er stürmt gleich wieder zur Tür herein, fuchtelt mit den Fäusten. Was ist da zu tun? Es paßt mir nicht, aufzustehen und zu gehen, aber sitzen zu bleiben und weiter lang erwartete Antworten zu tippen, dazu bin ich nicht cool genug. Ein wenig zu furchtsam, vielleicht. Wie gerne würde ich dem Irren sagen, hör mal, es ist mir egal, woher du kommst, wohin du gehst, aber du scheinst mir ein selbstgerechter Versager zu sein, der bei anderen die Schuld findet, die er bei sich selbst suchen sollte. Das geht nun leider nicht, schon wegen des Messers, das der Kerl vielleicht doch bei sich haben könnte. Also verlasse ich den Laden, räume das Feld.
Genügt leider auch nicht, das Arschloch läuft mir hinterher, will sich auf dem Gehsteig mit mir prügeln. Kann ich mir nicht leisten. Will ich nicht. Habe mich mit 19 zum letzten Mal geprügelt, und wenn die Polizei kommt, behauptet der Irre am Ende, ich hätte ihn einen »Scheiß-Kanaken« genannt. Wie steht man da? Also laufe ich los, ab in die U-Bahn, Rolltreppe runter, von meiner Flucht beschämt, nun ist es an mir, vor Zorn beinahe zu platzen, nun kann ich die Gefühle dieses Menschen einigermaßen nachvollziehen, ja. Alles ist ja für irgendwas gut. Wenn man darüber schreiben kann, ist es gut. Viele können das nicht. Welch angestautes Leben müssen jene führen? Kaum vorstellbar. Dem Perser sollte ich vielleicht ein paar Orte in Brandenburg nennen, wo er seine Opferkarriere zum krönenden Abschluß bringen kann. Gut, das ist böse formuliert, aber schließlich bin ich sauer.
Steckerlfisch, endlich. Und eine Radlermaß. Hier bin ich wieder. Unter Freunden. Im Hirschgarten, einem Wohnzimmer meiner Kindheit. Die Gewitterwolken verziehen sich. Ein hübscher, gemütlicher Nachmittag. München, meine Stadt, immer noch. An der Schießbude lege ich die neun Walzen mit drei Schüssen um, das ist mir, glaube ich, nie zuvor geglückt und hat mir einen häßlichen kleinen Stoff-Frosch eingebracht. Die Alternative wäre ein Deutschland-Wimpel gewesen.
Später mit den Freunden auf Zentrumstour. Wir kehren ein im Spatenhaus gegenüber dem Nationaltheater. Ich liebe diesen großen, weiten, herrlich illuminierten Platz, links von mir die Bayerische Akademie der korrupten Künste, rechts die alte Post, die man im Falle einer Revolution als erstes zu besetzen hatte. Was wird in der Oper heute denn gegeben? Königskinder von Humperdinck. Nichts gegen Humperdinck grundsätzlich. Aber seine Königskinder sind einfach nur dröger Mist. Daß Peter Jonas so was seine Lieblingsoper nennt, sagt schon alles. So viele kleine Geschichten fallen mir ein, hier und da und dort erlebt. Es gibt eine innere Haut, die behält jede Schlange subkutan für sich, so oft sie sich auch schält.
Am Nebentisch sitzen fünf Asiaten, die ein Stückchen Emmentaler in fünf winzige Würfel schneiden und diese dann, unter langem Zögern, Drehen und Wenden, verzehren. Ungefähr wie Kugelfisch-Essen für uns.
Augsburg
Soll heute auf der sechsten Radionacht des BR zehn Minuten Lyrik lesen, die irgendwas mit Brecht zu tun hat. All meine Lyrik hat irgendwie mit Brecht zu tun, zum Glück. Ich hasse es, zehn Minuten Lyrik zu lesen.
Eine Stunde, gut, von mir aus auch zwei. Zehn Minuten dagegen – furchtbar. Ich bin von 20:34 bis 20:44 dran. Immerhin, die Kohle stimmt. Plus Übernachtung im Steigenberger. Im Erdgeschoß des Filmpalastes ist für die Mitwirkenden ein Buffet aufgebaut. Nennen wir’s das »Wurst-Käs-Szenario«. Nein, das stimmt nicht ganz, im Kühlschrank gibt es abgepackte Sülze, die ist ungewöhnlich – und versöhnlich schmackhaft. Vorher langer Spaziergang durch diese Stadt, die mit »au« losgeht und mit »urg« aufhört. Brecht konnte sich ein idealeres Sprungbrett nicht wünschen. Die Stadt in Deutschland mit den meisten Feiertagen. Nur – was fragt ein Freiberufler nach Feiertagen? Verlust an Einkaufsmöglichkeiten. Der Bürgermeister empfängt uns Kulturschaffende im goldenen Saal des Rathauses, fuggerische Pracht, die ich mit meiner Wegwerfkamera einzufangen suche, ein ironischer Akt, den niemand versteht, nicht mal ich selbst.
Landsberg/Ulm
Landsberg, schönste Stadt Deutschlands, das heimliche Heidelberg Bayerns. Soviel Idylle war sonst selten wo. Ich plantsche mit den Füßen im Lech, finde zwischen den Zehen uralte Patronenhülsen voller Sand und taumle durch die hängenden Gärten. Schade, daß ich hier niemanden kenne, mit dem das gemeinsam zu genießen wäre. Kaufe an der Tankstelle kühle, abgeflaschte Weinschorle und beneide jedes zweite Häuschen.
Fahre, von Pracht halb erschlagen, am Abend weiter nach Ulm. Dort wohne ich in einem sehr alten, schmalen Haus, inzwischen Hotel, die Mauern stammen aus dem 15. Jahrhundert und liegen hinter Glas. Sie zu berühren, ist verboten, sagt ein Schild. Ist gar nicht möglich, sagt die Physik. Der Fußboden ist schräg, die Zimmerdecke schief. Das Fischerviertel – ein anachronistischer Schaumtraum mit überaus glücklichen Trauerweiden, eine Zeitmaschine, die jederzeit zuschlagen und mich drei Jahrhunderte zurückkatapultieren könnte. Ich laufe, der Gefahr bewußt und um mich davon zu erholen, dreimal um das düstere Monstermünster herum, der Schneider von Ulm war eine erste Lieblingserzählung, viel Kindheit kehrt wieder, als seien die sechziger Jahre nie wirklich vergangen. Gegen die Illusion hilft eine doppelte Dosis Fußgängerzone. Was macht man hier? Man ulmt. Ist das ein Gegen-was-Anulmen oder mehr ein Vor-sich-Hinulmen? Eher ein unpersönliches, großes und gleichgültiges Urulmen, das uns alle zermahlt und zerreibt. Ulm weiß über mich Bescheid. Ulm.
Ich sei einfach eine gute Woche zu früh da, meint die Barkeeperin. Warum ich nicht am Schwörmontag gekommen sei? Am was? Am Schwörmontag, das sei hier der oberste Feiertag. Da gebe es das Fischerstechen, die Lichterserenade, das Nabada und das Hockete. Aha.
Der Schwörmontag ist ein traditioneller Ulmer Feiertag, der jedes Jahr am vorletzten...




