Kucher / Thum / Urbansky | Stille Revolutionen | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 250 Seiten

Kucher / Thum / Urbansky Stille Revolutionen

Die Neuformierung der Welt seit 1989

E-Book, Deutsch, 250 Seiten

ISBN: 978-3-593-42019-6
Verlag: Campus
Format: PDF
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



Der Zusammenbruch der kommunistischen Regime 1989 hat nicht nur im östlichen Europa tief greifende Veränderungen in Gang gesetzt. Ein ganzer Kontinent ist in Bewegung geraten, mit Auswirkungen, die sich auch in Irkutsk, Shanghai oder Chicago spüren lassen. Wie weitreichend dieser Wandel ist, schildern die Autorinnen und Autoren in 21 farbigen Essays. Welche neuen Räume und Identitäten entstehen? Wie ändert sich der Blick der Menschen auf die Geschichte? Und wie rasch entgleiten uns die Erinnerungen an die Zeit des Kalten Krieges und der Teilung, die unser Denken und Handeln so lange bestimmt haben? Die Essays ergeben ein Mosaik von Beobachtungen und Reflexionen über eine sich seit 1989 auf faszinierende Weise neu formierende Welt.

Mit Beiträgen von Markus Ackeret, Felix Ackermann, Hans Magnus Enzensberger, José Maria Faraldo, Sheila Fitzpatrick, Klaus Gestwa, Julian Hans, Helga Hirsch, Gangolf Hübinger, Gerd Koenen, Katharina Kucher, Ruth Leiserowitz, Claudio Magris, Jan Musekamp, Norman M. Naimark, Jan Plamper, Gábor T. Rittersporn, Dirk Sager, Rosalinde Sartorti, Susanne Schattenberg, Gregor Thum und Sören Urbansky.
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Weitere Infos & Material


Inhalt

Der Geschichtsschreiber 11
Hans Magnus Enzensberger

Die Welt formiert sich neu: Eine Einleitung 13
Katharina Kucher, Gregor Thum und Sören Urbansky

Aufbrüche in eine neue Ordnung

Das Ende der Utopien und die Vereinigung Europas 21
Gregor Thum

Frieden im Weltall: Mir + Shuttle = ISS 33
Susanne Schattenberg

»Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst«:
Caritas und Philanthropie
im neuen Russland 45
Rosalinde Sartorti

Katastrojka und Super-GAU: Die Nuklearmoderne in Zeiten
von Tschernobyl und Fukushima 57
Klaus Gestwa

Entstehung neuer Räume

Ein Wartburg auf Sachalin 73
Sören Urbansky

Interbabuschka: Eine Hommage 83
Jan Plamper

Hinter dem Westen: Sibiriens Blick auf Europa 89
Markus Ackeret

Stilbrüche

Ukropia: Empire of Dill 101
Julian Hans

Postsowjetischer Sinneswandel? Geschmack und Konsum
im neuen Russland 109
Katharina Kucher

Die Schrift an der Wand der Moskauer Metro:
Zukunft ohne Eigenschaften 119
Gábor T. Rittersporn

Begleitende Gesänge: Anmerkungen zu einem sehr
deutschen Disput über das Putinische Russland 127
Dirk Sager

Die Neuvermessung der historischen Landschaft

History City Berlin 143
Norman M. Naimark

Promenade in Frankfurt an der Oder:
Die Stadt, die Grenze, die Universität 155
Gangolf Hübinger

Der Tod des Subjekts und seine Folgen 165
Sheila Fitzpatrick

Mehr als eine Packung »Belomorkanal«:
Solovki und die Erinnerung an den GULag 173
Felix Ackermann

Atlantis »Kalter Krieg«

DX-Nr. 7150 und der Waffenstillstand im Äther 189
Jan Musekamp

Das Phänomen der Langeweile:
Skizzen aus dem sowjetischen Kaunas 199
Ruth Leiserowitz

Wie der Osten in den Süden kam: Gorbatschow in Madrid 207
José M. Faraldo

Der Charme der Alten Welt
Identität im Plural 221
Claudio Magris

Gewalt – so nah 229
Helga Hirsch

Merry Old Europe: Ein Blick zurück von China auf Europa 239
Gerd Koenen

Kurzbiographien 249


Die Welt formiert sich neu: Eine Einleitung


Katharina Kucher, Gregor Thum und Sören Urbansky


Das Jahr 1989 steht für den Zusammenbruch der kommunistischen Regime in Osteuropa und die beginnende Auflösung des Ostblocks. Was in jenem Jahr mit dem Verzicht der ungarischen Kommunisten auf ihre in der Verfassung garantierte Führungsrolle, mit dem Sieg der Solidarno bei den polnischen Parlamentswahlen, der Öffnung der ungarischen Grenze zu Österreich und schließlich dem Fall der Berliner Mauer begann, endete zwei Jahre später mit der Auflösung der Sowjetunion, des Warschauer Pakts und des Rats für Gegenseitige Wirtschaftshilfe. Innerhalb von zwei Jahren verschwanden die charakteristischen politischen Strukturen und Institutionen des Ostblocks. Sie hatten nicht nur das östliche Europa für ein halbes Jahrhundert geprägt, sondern waren auch für das übrige Europa und die Welt als Ganzes ein fester Bezugspunkt. Sie repräsentierten die eine der beiden Seiten in einer bipolaren Weltordnung.


Bis 1989 waren zwei Generationen im Schatten des Kalten Krieges aufgewachsen. Zwei Generationen hatten sich mit der Teilung Deutschlands, Europas und der Welt abgefunden. Für zwei Generationen war die Berliner Mauer zum Symbol einer wenn auch nicht endgültigen, so doch festen politischen Ordnung geworden, deren Veränderung man sich allenfalls in kleinen, zähen Schritten vorstellen konnte. Ein großer Teil der Weltbevölkerung hatte sich entweder im kommunistischen oder kapitalistischen Lager eingerichtet, oder gehörte zu jener fiktiven Welt der blockfreien Staaten, die ungeachtet ihrer Neutralität keinen Zweifel daran ließen, welcher Seite sie näherstanden. Ost und West waren zu den wesentlichen Bestimmungsmerkmalen von Zugehörigkeit und Identität geworden. Das Leben in einer bipolaren Welt hatte zwei Menschenschläge hervorgebracht, die sich im Kern zwar wenig unterschieden haben mochten, aber sich nach außen hin doch anders gaben. Durch Kleidung, Brille, Haarschnitt, Haltung und Gesten gab man willentlich oder unwillentlich zu erkennen, welcher Welt man angehörte (oder auch angehören wollte). Man sprach anders, trank anders und lachte über andere Witze. Ja, der Humor war vielleicht überhaupt der herausstechende Unterschied, war er doch im Ostblock ein von den Menschen zäh verteidigtes Refugium der Freiheit. Im Westen lachte man vornehmlich über andere, im Osten dagegen über sich selbst, was bekanntlich die höchste Form des Humors ist. Der Witz des Ostblocks war ein zur Vollkommenheit gebrachter Galgenhumor.


Wäre der Ostblock mit den Witzen seiner Bürger zum Wettstreit der Systeme angetreten, er hätte ihn spielend gewonnen. Aber dieser Wettstreit war relativ humorlos. Es ging um wirtschaftliche Leistungskraft und die Fähigkeit zur permanenten technologischen Innovation. Es ging um die Aufrechterhaltung einer glaubhaften militärischen Abschreckung, aber auch um ökologische Nachhaltigkeit und die Befriedigung materieller Bedürfnisse. Und nicht zuletzt ging es um das Maß an Freiheit und Selbstbestimmung, das der Staat seinen Bürgern zu gewähren vermochte, ohne das eigene politische System zur Disposition zu stellen. Auf all diesen Feldern gerieten die Staaten des Ostblocks immer mehr ins Hintertreffen, was ihren Bürgern trotz weitgehender Abschottung von der westlichen Welt immer weniger verborgen blieb. Da die Kommunisten ihre Herrschaft mit dem Versprechen angetreten hatten, nicht nur mehr Gerechtigkeit, sondern auch größeren Wohlstand zu schaffen als im Kapitalismus möglich, geriet der Staatssozialismus sowjetischer Prägung in den Strudel einer Legitimationskrise, aus der er am Ende nicht mehr herausfand. Als sich die gealterten Führer der kommunistischen Parteien von Prag bis Moskau und von Tallinn bis Sofia schließlich weder in der Lage sahen, die Wut der Bürger mit neuen Reformversprechen zu besänftigen, noch bereit waren, dem chinesischen Modell zu folgen und die Rebellionen des Jahres 1989 mit Panzern niederzuwalzen, war die Erosion des Ostblocks nicht mehr aufzuhalten.


In den sich überstürzenden Ereignissen der Jahre 1989 bis 1991 brach eine Ordnung zusammen, die das Leben der Menschen zwischen Elbe und Pazifik über Generationen bestimmt hatte. Ein politisches und wirtschaftliches System, aus dem es kein Zurück mehr geben konnte, weil es nach eigenem Selbstverständnis den Fortschritt der Weltgeschichte repräsentierte, wurde innerhalb nur eines einzigen historischen Augenblickes abgewickelt. Es kam nicht zum befürchteten Blutvergießen. Der Zusammenbruch verlief fast überall gewaltlos, weil die alten Eliten bereitwillig den Rückzug antraten oder einfach die Seiten wechselten. Er ging nahtlos über in jenen Transformationsprozess, in dem das, was den Ostblock ausgemacht hatte, durch den Import westlicher politischer, wirtschaftlicher und sozialer Institutionen ersetzt wurde – getragen von der Hoffnung, dass die rasche Verwestlichung der schnellste und sicherste Weg zur wirtschaftlichen Gesundung und politischen Stabilität sein würde.


Jene Verwestlichung des Ostens war die auffälligste Veränderung: Parlamentarisierung, Wahlkampf, Marktwirtschaft. Prada und Gucci, Mercedes und Landrover avancierten zu den Insignien politischer Macht und wirtschaftlichen Erfolgs in Kiew, Moskau, Prag oder Bukarest. Durch das Emporwachsen gläserner Bürotürme, die Revitalisierung restaurierter Altstädte, die Ausbreitung von Cafés, Restaurants und Kneipen, durch die Schaffung verkehrsberuhigter Zonen und die Aufstellung bequemer Parkbänke glichen sich die Städte des Ostens denen des Westens an. Freundlicher Service in Hotels und Restaurants, ein überbordendes Warenangebot, saubere öffentliche Toiletten und müheloses Reisen hielten Einzug im östlichen Europa, aber auch die weniger schönen Charakteristika der westlichen Welt wie der Verkehrsstau zur rush hour, Arbeitslosigkeit als Dauerthema sowie die Ängste der Menschen vor der Kriminalität. Durch die offensichtliche Ausweitung des Westens nach Osten haben die Bezeichnungen »Ost« und »West« ihren Sinn verloren. Sie taugen nicht mehr als Beschreibung einer gegenwärtigen Situation. Wo sie nach wie vor in Gebrauch sind, bezeugen sie nur mehr die Beharrungskräfte einer in Jahrzehnten etablierten mentalen Ordnung, der die dazugehörige Realität abhanden gekommen ist.


Die Verwestlichung des Ostens beschreibt jedoch lediglich die eine Seite der Veränderung. Europa als Ganzes ist seit 1989 in Bewegung geraten, mit Auswirkungen, die auch in Irkutsk, Shanghai oder Chicago zu spüren sind. Mit dem Verschwinden »des Ostens« begann sich auch »der Westen« aufzulösen. Die transatlantische Gemeinschaft ist in ihre tiefste Krise seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs geraten. Dies hat zum einen mit der Verschiebung der Gewichte in der Weltwirtschaft – allen voran der wachsenden Bedeutung des pazifischen Raums zu tun, – zum anderen aber mit dem Umstand, dass das Ende des Kalten Krieges, die Expansion der Europäischen Union und die in ihrer Führungsrolle so offensichtlich aus dem Tritt geratenen Vereinigten Staaten ein Fortschreiben der alten Ordnung des Westens unmöglich machten. Die Welt als Ganzes ist in einem fundamentalen Wandel begriffen. Dieser ist zwar nicht ausschließlich auf die Ereignisse von 1989 zurückzuführen, wurde aber doch in erheblichen Maße von ihnen mitverursacht und weiter beschleunigt.
Die Autoren dieses Bandes beleuchten in 21 Essays Aspekte dieses weitreichenden, mannigfaltigen und in vieler Hinsicht noch unverstandenen Wandels. Sie erheben keinen Anspruch auf Vollständigkeit oder Endgültigkeit im Urteil. Ihre Essays sind Fühler in die sich seit 1989 auf faszinierende Weise verändernde Welt. Sie beschreiben die Aufbrüche in eine neue politische Ordnung und die Entstehung neuer geographischer Räume nach dem Zusammenbruch der staatssozialistischen Systeme und dem Ende der Ost-West-Spaltung. Sie gehen den Stilbrüchen nach, die die Suche nach den der neuen Zeit angemessenen Ausdrucksformen begleiten, und führen vor Augen, wie die europäische Erinnerungslandschaft seit 1989 neu vermessen und neu kodiert wird. Sie betätigen sich als die Archäologen des Kalten Krieges, dessen Zeugnisse schon heute wie die bizarren Relikte einer versunkenen Zeit anmuten. Und schließlich fragen sie nach dem Platz, den Europa in einer sich stürmisch verwandelten Welt einnimmt. Ihre Essays dokumentieren gerade die kleinen, oft unbemerkten und doch bedeutsamen Veränderungen, in denen die Neuformierung der Welt seit 1989 ihren Ausdruck findet.
Die Autoren widmen dieses Buch Karl Schlögel, der die stillen Revolutionen im östlichen Europa und darüber hinaus immer wieder eindrucksvoll und mit dem Blick für das sprechende Detail beschrieben hat.


Katharina Kucher lehrt russische und sowjetische Geschichte am Institut für Osteuropäische Geschichte und Landeskunde der Universität
Tübingen. Gregor Thum lehrt deutsche und ostmitteleuropäische Geschichte an der University of Pittsburgh. Sören Urbansky lehrt
Geschichte Ostasiens an der Universität Freiburg.


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