E-Book, Deutsch, 293 Seiten
Kumar / Howarth Lebendiges Lernen
1. Auflage 2024
ISBN: 978-3-89060-487-9
Verlag: Neue Erde
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Bildung für Mensch und Erde
E-Book, Deutsch, 293 Seiten
ISBN: 978-3-89060-487-9
Verlag: Neue Erde
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Bildung, die fit macht für die Zukunft »Lebendiges Lernen« ist ein bahnbrechender und dringender Aufruf an uns alle, die überkommene Fortschrittsperspektive aufzugeben, die den Menschen an die Spitze der Evolution stellt, um alles darunter auszubeuten und zu zerstören. Vielmehr müssen wir sie durch eine neue Ethik- und Umwelterziehung ersetzen, die uns das Verantwortungsbewusstsein lehrt, das wir brauchen, um im Gleichgewicht mit der übrigen Natur zu leben, und es uns ermöglicht, zu überleben und zu gedeihen. Dieses Buch wurde veröffentlicht anlässlich des 30-jährigen Bestehens des Schumacher College, das auf eine reiche Geschichte als Vorreiter für ökologisches Lernen zurückblicken kann und Studenten aus der ganzen Welt auf seinen Campus im englischen Devon lockt. Das College konzentriert sich auf eine interaktive, erlebnisorientierte Ausbildung, um praktische Fähigkeiten und vorausschauendes Denken zu entwickeln, die für die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts erforderlich sind. Seine Gründer wurden von Mahatma Gandhis Ashrams sowie von Shantiniketan beeinflusst, dem Lernumfeld, das von Rabindranath Tagore, dem ersten indischen Nobelpreis- träger, geschaffen wurde. Wenn wir uns auf ein ganzheitliches Bildungsparadigma konzentrieren, werden wir Ökologie und Ökonomie, Liebe und Vernunft, Wissenschaft und Spiritualität zusammenbringen. Auf diese Weise schaffen wir Bildung für die kommenden Generationen. Wir freuen uns, diese Sammlung radikaler und tiefgründiger Essays allen Eltern, Lehrern, Dozenten, Professoren und politischen Entscheidungsträgern darbringen zu können, in der Hoffnung, dass sie sich davon inspirieren lassen, die Bildungssysteme zu verändern und sie zukunftsfähig zu machen.
Satish Kumar, geboren 1936, trat in seinem neunten Lebensjahr dem Jain-Orden bei. Er lebte als Bettelmönch - mit einer Mahlzeit am Tag und nur zu Fuß unterwegs - in absoluter Einfachheit. Mit 18 schloss er sich einem Aschram der Gandhianer an und entschloss sich 1962 zu einem Friedensmarsch zu Fuß in die Hauptstädte der Atommächte. Er gründete das Schumacher-College und war von 1973 bis 2016 Herausgeber des führenden Ökomagazins »Resurgence«. Er lebt mit seiner Familie in einer kleinen Gemeinschaft in Devon und ist bis heute ein gefragter Vortragsredner. Lorna Howarth ist Schriftstellerin, Herausgeberin und Verlegerin.
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Zweiter Preis
WIR SIND BÄUME
Förderung einer Bildung, die es uns ermöglicht, auf der Erde wirklich zu Hause zu sein Dheepa R. Maturi Kinder über die Natur zu unterrichten, ist eines der wichtigsten Ereignisse in ihrem Leben. THOMAS BERRY Das kleine Geschöpf lag seitlich auf dem Boden, sein Bein war offensichtlich gebrochen. Meine Hand verschmierte das Fenster, als ich meinem Sohn dabei zusah, wie er das Laub mit den Fingern beiseiteschob und den verängstigten Vogel behutsam in eine Schachtel steckte, die er mit Luftlöchern und einer weichen Unterlage versehen hatte. Als er zur Vogelschutzwarte fuhr, dachte ich an ihn und seinen Bruder als kleine Kinder, wie sie mit ihren Fingern im Laub wühlten, durch das Gras strichen und sich an den Ästen festhielten. Ich dachte an ihre nackten Füße, wie sie über die Erde liefen, durch Laubhaufen schlurften und in Pfützen planschten. Ich erinnerte mich an zwei kleine Gestalten, die mit Stöcken in der Hand auf und ab sprangen und riefen: »Schaut her, wir sind Bäume! Wir sind Bäume!« Und ich erinnerte mich auch an mich, wie ich, bewaffnet mit Feuchttüchern und antibakteriellem Gel, möglichst lange ausharrte, bevor ich mich hinausstürzte, um ihnen Finger und Füße zu säubern. Ich erinnerte mich, wie ich mir sagte, ich solle mir keine Sorgen machen, sie könnten später ein richtiges Bad nehmen. Wenn ich jetzt zurückblicke, bin ich froh, dass ich meine zwanghaften Neigungen zumindest vorübergehend unterdrücken konnte und dass ich so klug war, die Verbrüderung, die sich vor mir abspielte, nicht zu unterbrechen. Ich denke über alle meine Abspaltungen nach – wie ich das Leben durch das Fenster beobachte und die Welt, die sich auf den Bildschirmen der modernen Technik ausbreitet. Von Natur aus bin ich eine Stubenhockerin und definiere mein Zuhause als die vier Wände um mich herum. Ich habe eine Abneigung gegen Schmutz und Ungeziefer, ziehe es vor, Schuhe zu tragen und auf Stühlen zu sitzen. Ich merke, wie weit ich von meinem kulturellen Erbe entfernt bin, insbesondere von dem tiefen Respekt für den Boden unter mir. Als Sechsjährige war ich dabei, als eine anmutige Dame mir meine erste klassische Tanzstunde erteilte: Ich ging in die Knie und berührte den Boden, um mich für das bevorstehende Auftreten meiner Füße zu entschuldigen. Das Morgenmantra in der Familie war eine ähnliche Entschuldigung, bevor jemand aus dem Bett aufstand und auch nur eine Zehe auf den Boden setzte. Das Mantra, das vor dem Essen gesprochen wurde, drückte eine tiefe Dankbarkeit gegenüber Mutter Erde aus, die nicht nur die Quelle der Nahrung ist, sondern auch die Menschen trägt, die die Nahrung ernten und sie zubereiten. Eingebettet in diese kulturellen Gepflogenheiten war den ganzen Tag lang der ständige Kontakt mit dem Erdboden: barfuß gehen, im Schneidersitz sitzen, sich in die Übungen des Yoga vertiefen. Die moderne Wissenschaft bestätigt, dass der wiederholte und direkte physische Kontakt mit dem endlosen Elektronenvorrat der Erde eine erdende Wirkung hat und zur bioelektrischen Stabilität der Körpersysteme beiträgt. Und aus psychologischer oder sogar spiritueller Sicht vermute ich, dass all diese Handlungen auch ein ständiges Bewusstsein für die Erde unter den Füßen erzeugen und den eigenen Bewusstseinsbereich auf diese Erde ausweiten. Ich bedaure, dass so viele alte Weisheiten wie diese verlorengegangen sind, von der Zeit weggedrückt wurden, vom Globalismus verseucht und durch Aneignung plattgemacht. So vieles wurde von denjenigen, die damit geboren wurden, abgelegt: aufgrund der Selbstzweifel und des Selbsthasses, die der Kolonialismus vorsätzlich kultiviert hat und die nun als schädliches Erbe fortbestehen. Ich bedaure, dass solche Einflüsse zu einer weiteren Abspaltung führen, die ich in meinem Leben zugelassen habe, obwohl ich mich immer sehr bemüht habe. Glücklicherweise muss diese uralte Weisheit jedoch immer noch in meinen genetischen und karmischen Strukturen eingebettet sein, denn sie ist in meine Kinder übergesprungen und hat sich dort manifestiert. Trotz meiner Unzulänglichkeiten haben sie ihr Erbe mit offenen Händen empfangen und es von ganzem Herzen angenommen. Ich erkenne, dass sich die Weisheit zwischen den Generationen nicht nur in eine Richtung bewegt. In der Tat habe ich von meinen Kindern Lektionen von größerem und dauerhafterem Wert gelernt. Glücklicherweise muss diese uralte Weisheit jedoch immer noch in meinen genetischen und karmischen Strukturen eingebettet sein, denn sie ist in meine Kinder übergesprungen und hat sich dort manifestiert. Schließlich waren es ihre Sehnsüchte, ihre Neigungen, die mich in die Stadtparks zogen, als sie klein waren, und dann, als sie älter wurden, in das Blättermeer der Staatswälder und die Felsformationen der Nationalparks. Sie waren es, die mich dazu brachten, mit meinen Fingern und Füßen die lebendige Erde zu berühren. Sie sind das Vorbild, dem ich nachzufolgen versuche, denn ihre Freizeit verbringen sie nie in den eigenen vier Wänden, sondern sie wandern auf Pfaden, klettern über Felsen und lagern unter den Sternen. Für sie bedeutet Luft die Brise der Berge und Wasser die Wellen des Ozeans. Urlaub bedeutet für sie Tage, an denen sie die Welt um sich herum erleben und einatmen. Der Unterschied zwischen uns besteht einfach darin, dass ihre Definition von Zuhause viel reichhaltiger und umfassender ist als meine. Ich bin in meinem Haus zu Hause, und sie sind auf der Erde zu Hause. Für sie gibt es keine Trennungen, nur ein Einbeziehen. Diese Jungen sind naturwissenschaftlich und mathematisch veranlagt. Sie sind typische junge Menschen mit Smartphones und Bildschirmen, genau wie ihre Altersgenossen. Bei der Arbeit und in der Schule analysieren und sezieren sie, beschriften und programmieren. Wenn ich sie beobachte, sehe ich jedoch Wurzeln wachsen, die sich in alle Richtungen ausbreiten. Ich sehe sie als Teil eines Systems, dessen Fasern und Äste sich mit Orten und Menschen verflechten. All ihre Analyse und Sezierung, ihre Etikettierung und Programmierung geschieht im Rahmen dieser Verwurzelung. Aufgrund ihrer weit gefassten Definition von Heimat sind sie unfähig, in einem Vakuum zu lernen und zu handeln, unfähig, ihr Wissen von der Welt zu trennen. Deshalb bauen sie mit dem Bewusstsein für das Land, auf dem sie ihre Bauten errichten, und mit dem Bewusstsein für die Menschen, für die sie bauen. Die Heimat ist die weite Erde, und damit sind auch die Menschen dort eine Familie, und alle sind eng miteinander verwoben. Ich vermute, dass eine Bildung, die den Menschen und den Planeten in den Mittelpunkt stellt, eine bestimmte Art der Erweiterung erfordert. Es bedeutet, dass Vorlesungen und Unterricht in taktile Interaktionen mit dem Land und der Gemeinschaft ausgedehnt werden müssen. Es bedeutet, die Definition von Heimat nach außen zu erweitern, so dass sie zur Grundlage und zum Kontext für jede Lektion wird, von der Mathematik bis zur Computerprogrammierung. Es bedeutet zu zeigen, wie jedes theoretische Konzept die Welt in irgendeiner Weise berührt. Einige Jahre lang leitete ich ein Stipendienprogramm für Lehrer, das den Lehrplänen einen größeren Zusammenhang verleihen sollte. Mit dieser finanziellen Unterstützung lernten Biologiestudenten etwas über die schwindende Population der Monarchfalter, indem sie einen Bestäubergarten in einem örtlichen Park anlegten. Grundschüler lernten die Gefahren invasiver Arten kennen, indem sie massenhaft Unkraut jäteten und sich beim Ministerium für natürliche Ressourcen für den Schutz einheimischer Pflanzen einsetzten. Ziel des Programms war es, den Schülern zu zeigen, dass ihre Ausbildung eng mit dem Leben um sie herum verbunden ist. Bei dieser Arbeit überraschte mich jedoch am meisten, dass die Schüler nicht überrascht waren. Für sie war es kein revolutionäres Konzept – sie kannten die Lektion bereits, sie war ihnen in Fleisch und Blut übergegangen. Ich habe den Eindruck, dass wir Erwachsenen die Kinder von ihrem angeborenen Verständnis abbringen, dass wir sie zum Vergessen zwingen. Wir machen ihr natürliches Verständnis von Heimat und Familie immer kleiner und schrumpfen es vom Planeten zum Land zum Haushalt und in immer kleinere Einheiten. Diese Kinder sind dabei, sich zu befreien, und keinen Augenblick zu früh. So viele der nächsten Generation sind entschlossen, ihr Geburtsrecht auf eine saubere Erde und eine verbundene Gemeinschaft zu wahren. So viele sind zu Kämpfern für diese Sache geworden, pflanzen Bäume, um die Wälder wieder aufzubauen, entwickeln Technologien, um die Ozeane zu filtern, setzen sich bei Regierungen für Gesetzesänderungen ein. Sie sind entschlossen, das uralte Wissen zu bewahren, dass jedes Lebewesen, ob groß oder klein, mit dem nächsten verwoben ist. Sie weigern sich, sich abzuspalten. Ich denke oft an den kleinen Vogel mit dem gebrochenen Bein, der taumelnd und sich abmühend auf...