Kunzru | Red Pill | E-Book | www.sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 352 Seiten

Kunzru Red Pill

Roman
Deutsche Erstausgabe
ISBN: 978-3-95438-138-8
Verlag: Liebeskind
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 352 Seiten

ISBN: 978-3-95438-138-8
Verlag: Liebeskind
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Ein amerikanischer Schriftsteller erhält ein Stipendium für den Aufenthalt an einer Berliner Kulturstiftung. Das renommierte Deuter-Zentrum fühlt sich den Werten von Offenheit und Transparenz verpflichtet, er jedoch empfindet die rigiden Regeln der Akademie als Eingriff in seine Privatsphäre. Er sondert sich ab, unternimmt ausgedehnte Spaziergänge am Wannsee, liest Kleist und streamt sich durch alle Folgen einer ultrabrutalen Fernsehserie namens 'Blue Lives'. Auf einer Gala anlässlich der Berliner Filmfestspiele lernt er den Schöpfer der Serie kennen, einen jungen Amerikaner namens Anton, der sich rasch als reaktionärer Agitator entpuppt und eine unerklärliche Faszination auf ihn ausübt. Sind die konspirativen Codes und Signale, die er in Antons Serie zu erkennen glaubt, geheime Nachrichten an ihn? Ist er der Einzige, der Anton auf seinem Kreuzzug zur Verbreitung identitärer Werte aufhalten kann? Oder bildet er sich das alles nur ein? Nach und nach wird aus seinen quälenden Fragen echte Besessenheit, und er folgt Anton quer durch Europa, um ihn zu stellen ... Mit 'Red Pill' führt uns Hari Kunzru die Selbstvergessenheit liberaler Demokratien vor Augen. Eindringlich schildert er, welchen Gefahren sich unsere Gesellschaft im digitalen Zeitalter aussetzt, wenn sie, von der eigenen Unfehlbarkeit überzeugt, radikale Kräfte gewähren lässt. Denn zum autoritären Staat ist es immer nur ein kleiner Schritt.

Hari Kunzru, 1969 in London geboren, gehört zu den wichtigsten britischen Autoren seiner Generation. Für seinen Debütroman 'The Impressionist' erhielt er 2003 u.a. den Betty Trask Award und den Somerset Maugham Award. Er wurde in die renommierte Granta-Liste aufgenommen und 2005 bei den British Book Awards als Autor des Jahres ausgezeichnet. Seine Werke sind in über zwanzig Sprachen übersetzt worden. Bei Liebeskind erschienen bislang die Romane 'White Tears' und 'Götter ohne Menschen'. 2016 war Hari Kunzru Fellow an der American Academy in Berlin, derzeit lebt und arbeitet er in New York.
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Im Jahr 1801, mit dreiundzwanzig, hatte Kleist eine Krise. Er hatte Kant gelesen, der lehrte, dass auf die menschlichen Sinne kein Verlass ist und wir somit nicht in der Lage sind, die unter der Oberfläche der Dinge liegende Wahrheit zu erfassen, das berühmte . Das war ein schwerer Schlag für Kleist, der plante, während seiner Zeit auf Erden so viel Wahrheit wie nur möglich zusammenzutragen, um seine gesammelte Weisheit an zukünftige, auf anderen Sternen lebende Versionen seiner selbst weiterzugeben und so am Ende den perfekten, vollendeten Menschen zu schaffen. Die Erkenntnis, dass er die Welt wahrscheinlich nicht richtig sah, geschweige denn zu einer kosmischen Gnosis beitragen konnte, führte ihn in eine tiefe Depression. Er versuchte sich mit Alkohol und Theaterbesuchen davon abzulenken und schrieb an eine Teilnehmerin seines rein weiblichen Lesezirkels (er dozierte, sie hörten zu), dass er die unbeschreibliche Sehnsucht habe, sich an ihrer Brust auszuweinen.

Ich hatte Verständnis für den Wunsch nach einem System. Wer wollte nicht eine Antwort auf alle Fragen? Aber dreiundzwanzig ist ein Alter, in dem man akzeptieren können sollte, dass die Welt komplexer ist als das Bild, das man sich bisher von ihr gemacht hat, und dass Systeme, so metaphysisch und abstrakt sie auch sein mögen, niemals unschuldig sind. Sie tun die schmutzige Arbeit, durch die Wissen entsteht, bereiten Taten vor, um die Kontrolle zu übernehmen. Die Wahrheit ist: Die Wilden sollten den Anthropologen fressen. Immer. Sie sollten den Botaniker töten, der auf der Suche nach der blauen Blume in den Dschungel gestolpert kommt, denn nach ihm kommen der Geologe, der Landvermesser, der Bergbauingenieur und die Soldaten, um die Bergleute bei der Arbeit zu schützen.

Das wurde nirgends klarer als in der Art, wie Frau Janowitz die Protokolle des Deuter-Zentrums benutzte. Eines Nachmittags wurde, zusammen mit der üblichen Aufstellung meiner Computernutzung im Arbeitsbereich, ein Brief unter meiner Tür durchgeschoben. Beim Bahnhof gab es ein Café mit schlechtem Kaffee und ein paar fettigen Resopaltischen, wohin ich mit dem Brief ging, um ihn zu lesen. Die Frau hinter der Theke hatte mein Gesicht von Beginn an nicht leiden können. Als ich mich mit meiner Tasse aufgeschäumter Milch fast ohne jedes Koffein ans Fenster setzte und den Umschlag öffnete, wischte sie die Tische in meiner Nähe ab und fegte mit ihrem Besen aggressiv um meine Füße herum. Was da auf dem schweren Briefpapier des Deuter-Zentrums stand, war in juristischem Ton gehalten. Aufgeführt war, wie viele Stunden ich im gemeinsamen Arbeitsbereich verbracht hatte (nicht genug), an wie vielen gemeinsamen Essen ich teilgenommen hatte (nicht sehr vielen) und wie viele Vorträge, Diskussionen und andere Veranstaltungen ich verpasst hatte (alle). Ich zeige, schrieb Frau Janowitz, »Geringschätzung für das Ethos von Herrn Deuter« und verstünde »die Notwendigkeit einer vollen Teilnahme« nicht. Mein fehlender Wille zum »gegenseitigen Austausch« bereite ihr Sorgen. Wenn ich mich nicht in der Lage fühlte, mich »in das Leben im Zentrum einzufügen«, sei es vielleicht besser, meine Abreise vorzubereiten.

Ich fragte mich, ob die Situation tatsächlich nicht mehr zu retten war. Wenn ich Reue zeigte, würden sie mir dann noch eine Chance geben? Die Kellnerin war unmöglich zu ignorieren, der Kaffee noch schlechter als gewöhnlich, und so verließ ich das Café und ging hinaus in den frostigen Wannsee-Morgen. Um fair zu sein, ich hatte nie ein Programm mit den Veranstaltungen des Zentrums gesehen. Es musste Teil des Papierwusts gewesen sein, der das Fach mit meinem Namen unten im Korridor regelmäßig verstopfte. Ich überlegte, ob ich einen Spaziergang am See entlang machen sollte, stand am Ende aber wieder in meinem Zimmer. Obwohl die Vorhänge noch zugezogen waren wie zuvor, als ich mein Zimmer verlassen hatte, waren meine schmutzigen Kleider zusammengelegt und die Imbissschachteln und Bierflaschen verschwunden. Mein Durcheinander war noch da, aber geordnet. Ich betrachtete die Bücher und Papiere auf meinem Tisch, die sorgfältig aufgestapelt und zurechtgerückt worden waren. Es schienen weniger geworden zu sein. Sie sahen eher nach kindlicher Spielerei als der ernsthaften Arbeit eines Erwachsenen aus. Warum hatte ich mich nicht dafür entschieden, Dinge zu tun, die Männer tun? Die Welt ordnen. Meinen Willen umsetzen. Stattdessen hatte ich das hier produziert, ein Rattennest aus Papier.

Ich klappte meinen Laptop auf und rief zu Hause an, wobei ich mich wie immer säuerlich fragte, ob die Verbindung wohl wie die unten im Arbeitsbereich überwacht wurde. Rei antwortete, und auf dem Bildschirm erschien ein Ausschnitt der Küche: ein Hochstuhl, eine Plastikschüssel mit dem zerstückelten Rest eines Rühreis, ein einzelner Winterstiefel auf dem Tisch daneben.

»Hallo, Fremder. Wir machen uns gerade fertig, wir sind zum Spielen verabredet.«

Nina hüpfte ins Bild. Sie trug ein rosa Tutu, das ich hasste, sprang vor dem Laptop auf und ab und kam dann mit dem Gesicht ganz nahe. Ich begriff, dass sie den Bildschirm küsste, was mir die Mundwinkel hochzog und mich unfreiwillig lächeln ließ. Liebe erfüllte mich mit einem fast schon schmerzvollen Stich. Die Küsserei ging in Gekicher über und wurde eklig. Ninas Zunge hinterließ Schlieren und Spucke auf Kamera und Bildschirm. Rei schimpfte, zog sie zurück und wischte grob mit dem Ärmel darüber. Ich sah, dass meine Frau noch im Pyjama war. Das Haar hing ihr ins Gesicht. Sie sah mich durch ihre Brille an und wirkte gehetzt.

»Ich kann nicht wirklich reden. Es ist mal wieder so ein Morgen. Sobald ich sie abgeliefert habe, muss ich hoch in die Upper East Side.«

»Politik oder Zeitvertreib?«

»Haha. Ein Frühstückstreffen mit potenziellen Spendern. Ich muss hin und einen Vortrag halten, gute Stimmung machen.«

»Zaubere ihnen die Scheckbücher aus den teuren Handtaschen.«

»Ist alles okay? Du bist doch nicht bedrückt, oder?«

»Nein, natürlich nicht.«

»Sei nicht bedrückt. Ich liebe dich.«

»Ich dich auch.«

Der Bildschirm leerte sich.

Die kurze Unterhaltung beruhigte mich, und gleichzeitig fühlte ich mich niedergeschlagen. Ich sollte aufgeben und das Deuter-Zentrum verlassen. Ich hasste es hier, keiner mochte mich, und ich tat nichts Vernünftiges, war aber noch nicht bereit, nach Hause zurückzukehren. Ich hatte noch kein Recht dazu, hatte mein Problem noch nicht gelöst. Etwa eine Stunde surfte ich durchs Internet und blieb an allen möglichen Ecken hängen, bis ich etwas fand, wonach ich suchte: die Quelle der merkwürdigen Worte, die Carson beim Foltern seines Opfers in in die Kamera gesprochen hatte. Wie ich vermutet hatte, war es ein Zitat, aber nicht aus einem bekannten »großen Werk«, sondern von einem eigenartigen, schwer verständlichen Autor, Joseph-Marie Comte de Maistre. Insofern man sich überhaupt an ihn erinnert, gilt Maistre für gewöhnlich als eine Fußnote der Geistesgeschichte des achtzehnten Jahrhunderts, ein unbeweglicher mittelalterlicher Geist, den das Zeitalter der Aufklärung schockierte, in das er hineingeboren worden war. Er war ein Zeitgenosse Kleists, ein savoyischer Aristokrat, der von der verhassten Französischen Revolution ins Exil gezwungen wurde, erst in die Schweiz, dann an den rückständigen Hof im sardischen Cagliari und schließlich nach Sankt Petersburg, wo er als Botschafter des Königs von Savoyen unter Zar Alexander I. diente. Er war ein königstreuer Eiferer, der die Jakobiner hasste, genau wie Wissenschaftler, Protestanten, Journalisten, Demokraten, Juden, Freimaurer, Säkulare und noch verschiedene andere Gruppierungen, die er zur »Sekte« zählte, einer satanischen Verschwörung, welche die gottgewollte Macht von König und Papst unterminierte. In seinen Schriften widmete er sich dem Kampf gegen den verderblichen Einfluss von Aufklärung und Libertät, wo immer sie sich zu regen begannen. Carson hatte aus einem Text zitiert, der als bekannt und zu seiner Zeit so skandalös war, dass er erst nach dem Tod des Autors veröffentlicht werden konnte. Drei Männer, ein Ritter, ein Senator und ein Graf, debattieren über Fragen zu Moral und Politik und legen den düsteren Blick des Autors auf die Welt dar – dass die Erde eine Güllegrube der Korruption ist und allein ein demütiger Kniefall vor Gott Rettung bringen kann, vor Gott und den Mächtigen, die er zu Herrschern gemacht hat. Warum wählten die Autoren einer amerikanischen Krimiserie ein so außergewöhnliches Zitat? Ich wusste es nicht.

Ich zog meinen Mantel an, setzte meine Mütze auf und machte einen Spaziergang. Um das Kleistgrab zu vermeiden, ging ich in der anderen Richtung um den See, vorbei an einem Freizeitzentrum und einen sandigen Weg hinunter in ein Waldgebiet. Auf dem holprigen Untergrund zwischen den Bäumen kamen mir vier,...


Hari Kunzru, 1969 in London geboren, gehört zu den wichtigsten britischen Autoren seiner Generation. Für seinen Debütroman "The Impressionist" erhielt er 2003 u.a. den Betty Trask Award und den Somerset Maugham Award. Er wurde in die renommierte Granta-Liste aufgenommen und 2005 bei den British Book Awards als Autor des Jahres ausgezeichnet. Seine Werke sind in über zwanzig Sprachen übersetzt worden. Bei Liebeskind erschienen bislang die Romane "White Tears" und "Götter ohne Menschen". 2016 war Hari Kunzru Fellow an der American Academy in Berlin, derzeit lebt und arbeitet er in New York.



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