E-Book, Deutsch, 192 Seiten
Kurbjuweit Der Ausflug
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-641-27087-2
Verlag: Penguin
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 192 Seiten
ISBN: 978-3-641-27087-2
Verlag: Penguin
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Amalia, Josef, Gero und Bodo, Freunde seit Kindheitstagen, haben sich zu einer sommerlichen Kanutour verabredet. Kaum sind sie an ihrem Ausflugsziel angekommen, verdichten sich die Anzeichen, dass sie hier nicht willkommen sind. Vor allem Josef, der Schwarz ist, bekommt die Ablehnung von Menschen zu spüren, die aus Prinzip gegen alles Fremd-Aussehende sind. Doch soll man sich von ein paar ewiggestrigen Provinzlern einschüchtern lassen? Einfach klein beigeben? – Amalia, Josef, Gero und Bodo entscheiden sich dafür, zu bleiben, und ab da gibt es kein Zurück mehr. Jeder Schritt weiter ist einer auf den Abgrund zu. Alle ahnen, dass dieser Ausflug kein gutes Ende nehmen wird. Doch keiner will es wahrhaben. Schon bald geht es nicht mehr um ein sommerliches Abenteuer, sondern nur noch darum, mit heiler Haut davonzukommen.
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II
Es dämmerte, als sie vor dem Gasthof hielten, in dem sie Zimmer gebucht hatten. Er stand einsam an der Straße, umgeben von Bäumen, ein längliches Haus, zwei Stockwerke, ein spitzer Giebel in der Mitte. Blätternde Fassade, gelbliche Gardinen. Trunkenes Gejohle drang bis zum Parkplatz, der nahezu voll besetzt war.
»Feiern wir mit«, sagte Josef.
Sie holten ihre Taschen aus dem Kofferraum, gingen ins Haus. Holz an den Wänden, auf dem Boden Linoleum, das sich sanft wellte. Die Rezeption war nicht besetzt, Amalia drückte die Klingel. Sie warteten. Niemand kam. Das Gejohle aus der Gaststube, die hinter einer Tür lag, schwoll an, ebbte ab.
Bodo öffnete die Tür, verschwand, kam kurz darauf wieder.
»Lustig«, sagte er.
Sie warteten schweigend, bis endlich ein schmaler, kleiner Mann kam und sie einbuchte, ohne ein Wort zu sagen. Er schob ihnen Anmeldeformulare zu, drehte sich dann um zu dem kleinen Regal, wo die Zimmerschlüssel hingen, nahm einen Schlüssel, hängte ihn zurück, nahm einen anderen, machte eine Weile so weiter, als müsse er ein kompliziertes Rätsel lösen, dachte Amalia. Sie malte eine runde 5 und eine eckige 3, als sie ihre Adresse in das Formular eintrug, und ärgerte sich darüber. Bodo und Amalia teilten sich das eine Zimmer, Josef und Gero das andere. Die Bäder waren auf dem Flur.
Amalia war als Erste in der Gaststube. In einer Ecke stand ein großer Ofen mit grünen Kacheln, die Wände getäfelt, braunes Holz, das nach oben hin dunkler wurde, an der Decke fast schwarz war, gefärbt von Zigarettenqualm aus Jahrzehnten. Auf dem Boden lag auch hier Linoleum, das die Zeit gewellt hatte. Auf jedem Tisch eine Topfblume, die nach Plastik aussah. Hinter der Theke stand der Mann, der sie eingebucht hatte, und zapfte Bier, wobei er den Hahn nie abstellte, sondern mit flinken Händen eine große Zahl Gläser hin und her schob wie ein Hütchenspieler. Er ließ kurz Bier einlaufen, bis der Schaum fast über den Rand quoll, fegte das Glas mit einer schnellen Handbewegung weg, zog ein anderes herbei.
Es war voll, es war laut. Fast nur Männer, stille Tische, lebhafte Tische, gut gefüllte Aschenbecher, dicke Luft. Neben der Tür saßen junge Leute, darunter Mädchen, und machten paarweise ein Trinkspiel. Sie stellten je ein Glas an die Längsseiten der Tische und warfen dann mit einem Tischtennisball nach dem Glas auf der anderen Seite. Wenn jemand ins Glas traf, musste es der Kontrahent in einem Zug leeren. Sie lachten und riefen sich Ermunterungen zu.
Amalia steuerte einen Tisch am Fenster an, sich der Blicke bewusst, die an ihren Beinen und ihrem Hintern klebten. Es war leiser geworden. »Be my guest«, dachte sie und setzte sich. Nach und nach kamen die anderen, Josef zuletzt. Plötzlich Stille, als würden alle Geräusche abgesaugt.
Amalia lächelte ihn an, lächelte, als wolle sie ihn damit an den Tisch lotsen.
»Dein Heimatlächeln« hatte er es einmal genannt. Was das heiße, hatte sie wissen wollen.
»Du willst mir zeigen, dass ich dazugehöre.«
»Tust du ja auch.«
»Sowieso«, hatte er gesagt, ein bisschen patzig, wie ihr schien.
Er setzte sich, Gemurmel, als müsse sich eine Ratsversammlung über die neue Lage austauschen, dann der alte Geräuschpegel.
Eine ganze Weile wurden sie nicht bedient, merkten es zunächst nicht, weil sie sich belustigt darüber austauschten, wie heruntergekommen ihre Zimmer waren, wie laut die Dielen knarzten.
Der Wirt stoppte den Bierfluss und stellte die vollen Gläser auf ein Tablett, mit dem er von Tisch zu Tisch ging. Nachdem er das Bier verteilt hatte, stellte er sich wieder hinter den Tresen, setzte sein virtuoses Zapfspiel fort.
»Entschuldigung, können wir etwas bestellen?«, rief Amalia.
Plötzlich war es still. Die Männer sahen zu ihnen herüber, harte, abschätzige Blicke. Der Wirt zapfte weiter, hatte Augen nur für seine Arbeit. Schaum stieg weiß die Gläser hinauf, als würde er von der nachfolgenden gelben Flüssigkeit gejagt. Manchmal blieb nur die Flucht über die Ränder.
»Wir haben Durst, wir haben Hunger«, sagte Amalia.
Noch ein Glas, noch eins, noch eins. Sie klirrten gegeneinander, der Lieblingssound der Durstigen, dachte Amalia, während sie sich ärgerte. Schließlich drückte der Wirt den Hebel hoch, ganz langsam, betrachtete nachdenklich den dünner werdenden Strahl, die langen Tropfen, die kurzen, bis er sich losriss, einen Stift nahm und einen kleinen Kellnerblock. Damit trat er an den Tisch der vier, sagte nichts, ließ aber als Zeichen seiner Bereitschaft die Spitze seines Kugelschreibers über dem feuchten Block schweben.
»Schön, dass Sie sich die Zeit nehmen«, sagte Amalia.
Der Wirt sah sie ausdruckslos an.
»Haben Sie Rotwein?«, fragte sie.
»Ungarischen.«
»Gut, dann bringen Sie uns bitte eine Flasche von dem ungarischen Rotwein, eine große Flasche Mineralwasser und die Speisekarte.«
»Gibt es nicht.«
»Den ungarischen Rotwein, das Mineralwasser oder eine Speisekarte?«
»Speisekarte.«
»Aber es gibt etwas zu essen?«
»Bratkartoffeln mit Sülze oder mit Wienern.«
»Mehr nicht?«
»Mehr nicht.«
Sie sah resigniert in die Runde.
»Ich nehme Sülze«, sagte Bodo.
Sie bestellten zweimal Sülze, einmal Wiener, einmal nur Bratkartoffeln.
Den Rotwein fanden sie ungenießbar, hatten aber vorgesorgt. In Amalias Tasche steckten zwei Flaschen von dem Blauburgunder, den sie mitgebracht hatten. Sie öffnete eine davon verstohlen unter dem Tisch, schenkte allen ein, stellte die Flasche unter ihren Stuhl. Die vier machten dazu harmlose Gesichter wie bei einem Schülerstreich. Dann prosteten sie einander zu.
»Auf die Kanutour.«
Die Gläser klirrten.
»Seit wann können N… paddeln?«
Amalia stellte ihr Glas zurück auf den Tisch. »Wer hat das gesagt?«, rief sie.
Niemand schaute sie an. Gespräche, Gejohle, als wäre nichts geschehen.
»Wir gehen«, sagte Amalia und stand auf.
Josef zog sie am Arm zurück. Sie tauschten Blicke aus, die sie voneinander kannten. Sie wollte nicht hinnehmen, dass er beleidigt wurde, er wollte nicht der Grund dafür sein, dass ein Abend platzte. Amalia setzte sich wieder.
»Es ist in Ordnung«, sagte Josef, »das kennen wir ja.«
»Es ist nicht in Ordnung«, sagte Amalia, »sei nicht immer so defensiv.«
Josef hob sein Glas. Sie stießen noch einmal an und tranken.
Wie immer zu Beginn ihrer Ausflüge musste Josef erzählen, was sich in den vergangenen zwölf Monaten in ihrer Heimatstadt ereignet hatte, weil er der Letzte von ihnen war, der dort noch lebte.
»Jens ist tot«, sagte er.
Jens hatte in der Oberstufe einen Unfall mit seinem kleinen Motorrad gehabt. Er war abends im Podium gewesen, der Bar, wo sie alle hingingen, hatte getrunken und war weit nach Mitternacht mit Ralph auf dem Rücksitz nach Hause gefahren. An der großen Kreuzung bog er nach links ab, das Stoppschild missachtend, wie der Fahrer eines Lastwagens später berichtete. Dieser Mann war auf dem Weg zur Möbelfabrik, hupte, bremste, konnte die Kollision aber nicht vermeiden. So stand es in der Zeitung. Ralph war sofort tot, Jens überlebte mit schweren Verletzungen, an deren Spätfolgen er nun gestorben war.
»Er war ständig bei mir, weil er ohne seine vielen Medikamente nicht lebensfähig war. Ohne Milz hast du auf Dauer ein Problem.«
Josef erklärte, aber Amalia hörte nicht mehr zu, war in eigene Gedanken vertieft. Jens war ihr fremd gewesen, sie hatte kaum etwas mit ihm zu tun gehabt, aber nun wurde sie von dem Gefühl beherrscht, dass Jens und sie Teil einer Reihe waren, in der jeder drankam: der Todesreihe. Da steht man in vielen Reihen, mit Freunden, Geschwistern, Studienkollegen und so weiter, das war ihr klar, aber jetzt war es die Schulreihe, die sie beschäftigte. Es hatte schon am Ende der Mittelstufe angefangen, Platz eins, die Eröffnung der Reihe, für Svenja, die sich eine Überdosis gespritzt hatte, eher aus Unkenntnis als aus Lebensmüdigkeit, dann Ralph, jetzt, auf Platz drei, Jens. Welche Nummer würde sie ziehen? Und Bodo? Und Josef? Und Gero? Plötzlich war sie so traurig, dass ihr Tränen die Wangen herunterliefen.
Bodo, der neben ihr saß, legte einen Arm um sie, zog sie zu sich heran.
»Hast du ihn so gemocht?«
Sie musste nicht antworten, weil das Essen kam. Sie aßen die öligen Bratkartoffeln, dazu die Wiener oder die Sülze. Amalia schenkte unter dem Tisch Blauburgunder nach, sie wurden fröhlicher, lauter. Einmal kam der Wirt und fragte, ob sie noch eine Flasche von dem ungarischen Wein haben wollten, aber Amalia sagte nein, sie würden nicht viel trinken, weil sie morgen einen Kanuausflug machen wollten. Als er weg war, prusteten sie, lachten und kicherten.
Bodo ging zur Toilette, stellte sich danach an den Tisch neben der Tür und schaute beim Bier-Pingpong zu. Nach einer Weile fragte er, ob er mitspielen dürfe, und wurde nach kurzer Irritation akzeptiert. Er warf den Ball, traf nicht, verlor die Runde. Er trank sein Glas aus, gewann ein zweites Spiel, kehrte zuru¨ck zu seinen Freunden.
Sie löcherten Josef mit Fragen, wer bei ihm welche Medikamente holte, waren vor allem an den ehemaligen Mitschülern interessiert. Er zierte sich, berief sich auf seine Schweigepflicht, sie fragten und fragten, setzten Preise aus, nicht abwaschen müssen auf ihrem Ausflug, nicht die Zelte aufbauen. Keine Chance. Sie bohrten weiter.
»Okay, ohne Namen:...