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E-Book

E-Book, Deutsch, 276 Seiten

Kurz Ohne Ziel

Für Dich schieße ich auch auf Menschen
1. Auflage 2013
ISBN: 978-3-939239-61-1
Verlag: U-Line UG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Für Dich schieße ich auch auf Menschen

E-Book, Deutsch, 276 Seiten

ISBN: 978-3-939239-61-1
Verlag: U-Line UG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Unschuld verliert man nicht, sie hört einfach irgendwann auf. Simon ist sechzehn und findet auf einem seiner Streifzüge durch den nahen Wald dort versteckte Gewehre. Eines davon nimmt er mit nach Hause. Als er durch Zufall auch noch in den Besitz einer einzelnen Patrone gelangt, ändert sich sein ganzes Leben. Fasziniert vom Gefühl der Macht kreisen seine Gedanken nur noch um die Tatsache, damit jederzeit Schicksal spielen zu können. Als er Blacky kennenlernt, möchte er ihr imponieren und verrät dabei mehr, als gut für ihn ist. Als sich schließlich die Besitzer des Gewehrs auf die Suche nach ihm machen, muss er sich entscheiden, ob er wirklich auf einen anderen Menschen zielen und abdrücken kann ...

Andreas Kurz schrieb er bereits als Schüler, arbeitete begeistert bei der Schülerzeitung mit und fiel mit seinem Zeichentalent nicht nur angenehm auf. Er machte eine Ausbildung zum Grafik-Designer, arbeitete später aber auch als Drehbuchautor und Regisseur. Für seine Kurzgeschichten erhielt er mehrere Auszeichnungen. Heute lebt er als freiberuflicher Zeichner und Autor in München.
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1

Jemand hatte diesen Stein unter das Geländer gelegt, einen Pflasterstein, grau und silbrig glänzend, mit schiefen Kanten. Er starrte ihn immer an, wenn er vorüberging, die Brücke überquerte, über die Autos hinweg, die wie Projektile unter ihm hindurchschossen, als hätte sie irgendwo einer abgefeuert. Hinter der Brücke begann die Pampa, da wohnte sonst keiner, nur er musste dort hin, aus dem Linienbus aussteigen, über dieschmale Brücke gehen, die höchstens mal ein Radfahrer benutzte oder ein Traktor. Für den Autoverkehr war sie gesperrt. Julio, die fette Sau, hatte ihm gerade noch auf die Schulter gehauen und gefragt, ob er jetzt wieder seine Schweine hüten ginge? Halt die Fresse, hatte er geantwortet.

Er hätte sitzen bleiben sollen, als sich die Türen öffneten, besser diese Penner als die Pampa und ein einsamer Nachmittag. Eines der Mädchen hatte ihm Schweinepriester hinterhergerufen und dabei wie blöde gekichert. Die Türen waren zugeklappt, der Luftzug des anfahrenden Busses hatte Staub und Dieselruß in sein Gesicht gewirbelt, jetzt stand er allein vor dem Wartehäuschen mit den Graffitis, ÖSlan du SAU, Fick mir.

Willkommen zu Hause, Bandido.

Er zog eine Dose Bier aus seiner Umhängetasche, riss die Lasche auf, es spritze Schaum heraus, es zischte, er trank. Warme Brühe, aber es gefiel ihm, in so einem Moment die Bierdose rauszuholen, sich was reinzukippen, nicht gleich loszulaufen. Schon nach wenigen Schlucken stieg die watteweiche Woge hoch zum Hirn und trieb ihm den Schweiß aus den Poren. Er rülpste, zündete sich eine Zigarette an, wie immer, bevor er auch nur einen Schritt auf diese verdammte Brücke setzte. Sein Kopf fühlte sich an wie ein zum Platzen gespannter Ballon, in dem die Gedanken wie Klumpen trieben. Nichts passte zusammen, überhaupt nichts, er war verkehrt, alles war zum Kotzen verkehrt, er blinzelte in die Sonne, die sich hinter matten Schlieren versteckte, wollte nicht losgehen, wollte eigentlich nirgends hin, fühlte Wut wie in aufsteigenden Blasen, sinnlos und kaum zu ertragen.

Oben auf der Brücke der Stein. Er lehnte sich an das Geländer, trank weiter, betrachtete die Autos, tippte mit der Fußspitze gegen den Stein. Einen könnte es treffen, hier und jetzt, Stunde des Schicksals, macht euch bereit. Genau in die Windschutzscheibe, quer durch das Wageninnere und zur Heckscheibe heraus.

POW!

Der Gedanke war wie ein Flash, als ob er sich einen runterholte. Er trank, schnitt Grimassen, Bandido hasst euch, schüttete etwas Bier von der Brücke hinunter. Der Luftzug verteilte es, noch bevor es die Fahrbahn erreichen konnte. Vollidiot. Man schüttet doch kein Bier weg. Er sollte es lieber hinunterpissen. Sein Ding aus der Hose holen und auf ihre teure Straße pinkeln. Würden sie sicher gleich ne Streife schicken. Nach ihm suchen, ihn jagen, mit Hundestaffeln, Hubschraubern, der ganzen Armee an Pennern. Bandido fickt euch alle.

Als er weiterging, fühlte er sich wie ein Versager. Mit der Fußspitze gegen den Stein, kick und fertig, nicht mal das brachte er fertig. Hinter der Brücke begann ein Schotterweg, musste er sich an der Gabelung unter den krumm gewachsenen Bäumen rechts halten, parallel zur Autobahn, die hinter einem Damm rauschte und wimmerte und sang. Man hatte sie hier weggesperrt, die paar Arschlöcher, die keiner brauchte, deren flaches Haus mitten in den Feldern stand, als wollte sie keiner in seiner Nähe dulden. Mitten im Gemüse, wie Friedel es nannte, sein Großonkel, der Einzige eigentlich, der ab und zu mal auftauchte.

Er hasste es, bei seiner Oma leben zu müssen. In einem Museum, einem Haus, in dem die Zeit stillstand. In dem alles so aussah wie sonst nur auf gelblich verfärbten Schwarzweiß-Bildern, die andere wegwarfen. Hasenheide hieß die Gegend, man hätte sie genauso gut Niemandsland nennen können, Asshole-Country. Als ob irgendeine ansteckende Krankheit von ihnen ausgehen würde. Nur der Elektrozaun fehlte noch und die Wärter auf Türmen mit Gewehren und Scheinwerfern: Jagt die Mistkerle, knallt sie ab!

Er trank aus, warf die Dose in einem weiten Bogen hinaus ins Feld. Sie verschwand im Futtermais. Bald war Erntezeit, dann rollten hier die gewaltigen Maschinen, fraßen alles ab, furzten die Reste aus, danach war alles wieder kahl. Es gefiel ihm so, wie es jetzt war. Könnte immer so sein. Juli war keine schlechte Jahreszeit. Alles stand, quoll heraus, drängte sich um die besten Plätze und leuchtete in einem selbstgerechten, satten Grün.

Er zog sein Messer heraus, U.S. Army, und warf es gegen den nächsten Baumstamm, es blieb aber nicht wie erhofft in der Rinde stecken, sondern prallte nur ab, fiel zu Boden, lasch und lächerlich. An manchen Tagen war er richtig gut im Zielwerfen, diesmal aber nicht, seine Arme waren Fremdkörper, als hätte er sie sich nur ausgeliehen. Noch bevor das Messer den Boden erreicht hatte, kotzte ihn das Spiel schon wieder an, hätte er alles kurz und klein schlagen können, treten, beißen, kicken. In die Eier.

Ein Auto kam von hinten, nicht sehr schnell, die Steine sprangen von den Reifen, es knirschte, knackte. Nur kurz drehte er sich um. Ein alter Transit, grau, verrostet, eine Scheißkarre für Loser. Zwei Männer hockten drin, deren kalte Blicke ihn streiften wie Ohrfeigen, keine guten Gesichter. Auf dem Wagen stand Tischlerei Wagner in weißer, abblätternder Schrift. Die werden kaum zu seiner Oma wollen. Die hatte noch nie irgendwelche Handwerker ins Haus gelassen, wäre ja noch schöner, kostet schließlich Geld. Seinen Großvater, der das Haus mit eigenen Händen erbaut hatte, Stein für Stein, über Jahre hinweg, hatte er nie kennengelernt. Der war schon gestorben, als seine Mutter noch ziemlich jung war, voll der Crash mit seinem Wagen, nicht sehr weit von hier, er kannte die Einmündung, war oft dort gewesen. Irgendwelche Spuren gab es aber nicht mehr.

Der Lieferwagen hoppelte den Weg weiter, bald war nur noch das Knirschen der Steine zu hören, stand der Staub schwerelos in der Luft. Der Weg führte an ihrem Haus vorbei, hinüber in den Wald, irgendwann auch wieder auf eine Straße. Sicher suchten die Typen nur ein ruhiges Plätzchen, an dem sie sich vor der Arbeit drücken können. Er würde es jedenfalls so machen. Lohnte sich doch eh alles nicht. Was macht ein Tischler schon? Tische? Hat eh jeder. Scheiß Tische. Rennmechaniker könnte er sich vorstellen. Zu den großen Rennen in die USA reisen, Stock Cars, Nascars, all diese geilen Autos, die Aufregung, Fans, Topfrauen natürlich, Riesentitten, das alles. Leider aber war er hier gelandet, es gab Sonnenauf- und untergänge, mehr nicht, das war’s, sei zufrieden damit und freu dich, wenn es nicht regnet.

Ihr Haus verbarg sich fast unsichtbar hinter einem grünen Dickicht aus Haselnusssträuchern, Birken, Efeu und Dornengestrüpp. Der Weg, der von der Schotterstraße zum Haus führte, war zum schmalen Pfad geworden, eingesäumt von hohem Gras, Zweigen, Kraut. Kein Auto konnte hier mehr hinein, kein Traktor, nichts. Wird schwer für den Leichenwagen werden, wenn seine Oma mal nicht mehr aufwacht, das dachte er immer, wenn er hier entlangging. Heute aber war es noch nicht so weit. Sie saß auf der Bank vor dem Haus, die Hände im Schoß und schien ihn zu erwarten. Sie saß oft dort, in völliger Bewegungslosigkeit, mit dem Kiefer mahlend, die alten Augen offen, aber eigentlich wie schlafend. Sie las keine Zeitungen, keine Bücher, sie interessierte sich auch nicht fürs Fernsehen. Sie hörte Radio in der Küche oder hockte strickend im Wohnzimmer, in vollkommener Lautlosigkeit, nur das Ticken einer uralten Uhr im Hintergrund. Er hatte einen Fernseher, aber der stand oben in seinem Zimmer, wo er machen konnte, was er wollte. Sie kam nur ganz selten zu ihm hinauf in den ersten Stock, wo es außer ihm nur Plunder gab, Zeug, Kram, der zurückbleibt, wenn Leute sterben.

Er murmelte einen Gruß und ließ sich so hart neben ihr auf die Bank fallen, dass die alte Frau einen katapultartigen Hopser machte.

«Kommst spät, Simon.» Sie wandte sich ihm nicht zu, starrte weiter geradeaus.

«Ich komm wie immer … Ist schließlich ein Stück zu gehen. Hab ja kein Rad mehr.»

Man hatte ihm sein Rad gestohlen, obwohl es nichts Besonderes war. Er hoffte, sie würde jetzt sagen, geh und kauf dir eins, in die Tasche greifen und Geld herausholen, bisschen was hatte sie schließlich, aber sie sagte nur: «Du riechst nach Bier. Du hast getrunken.»

«Und wenn schon», murmelte er genervt.

«Ist nicht gut, wenn du trinkst. In diesem Haus wird nicht getrunken.»

«In diesem Haus wird so vieles nicht.»

Er könnte sie erschlagen. Nichts wäre leichter als das. Ein bestürzender Gedanke und dabei so reizvoll. Wie dieser Scheißstein auf der Brücke. Du kannst es tun, niemand hält dich ab. Ganz allein deine Entscheidung. Er starrte auf das Stück Rasen vor sich: die Beete, in denen seine Großmutter Kräuter, Salat und Gemüse anbaute, auch Kartoffeln, die Ernten waren...


Andreas Kurz schrieb er bereits als Schüler, arbeitete begeistert bei der Schülerzeitung mit und fiel mit seinem Zeichentalent nicht nur angenehm auf. Er machte eine Ausbildung zum Grafik-Designer, arbeitete später aber auch als Drehbuchautor und Regisseur. Für seine Kurzgeschichten erhielt er mehrere Auszeichnungen. Heute lebt er als freiberuflicher Zeichner und Autor in München.



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