Kurzeck / Deuble / Losse | Der vorige Sommer und der Sommer davor | E-Book | www.sack.de
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E-Book, Deutsch, 656 Seiten

Kurzeck / Deuble / Losse Der vorige Sommer und der Sommer davor

Das alte Jahrhundert 7
1. Auflage 2019
ISBN: 978-3-7317-6169-3
Verlag: Schöffling
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Das alte Jahrhundert 7

E-Book, Deutsch, 656 Seiten

ISBN: 978-3-7317-6169-3
Verlag: Schöffling
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



'Im siebten Band der autobiographisch-poetischen Chronik 'Das alte Jahrhundert' führt uns Peter Kurzeck in einer großen Rückblende in den Sommer 1983 und den Sommer davor. Früh im Juni trampen der Erzähler, Freundin Sibylle und Tochter Carina nach Barjac in Südfrankreich. Sein Freund Jürgen hat dort zusammen mit Pascale ein kleines Restaurant aufgemacht. Sie bleiben ein paar Tage, und weiter geht es per Autostopp nach Saintes-Maries-de-la-Mer. Ein Buch über den Süden, über Arles, die Camargue mit ihren Pferden, Stieren, Flamingos, den Markt und das Meer. Ein Buch über das Trampen und dann den Restsommer in Frankfurt, den griechischen Biergarten in Bockenheim, den Ausflug ins Mainfränkische. Ein Buch über fragiles Glück, eingefangen im Blick auf das Alltägliche, das Kurzeck durch seinen einzigartigen Ton zum Leuchten bringt.'

Peter Kurzeck geboren 1943 in Böhmen, aufgewachsen in Staufenberg bei Gießen. Später lebte er in Frankfurt am Main und Uzès (Südfrankreich). Von dieser Anfangszeit in Frankfurt und der Arbeit an seinem ersten Roman handelt das Parisbuch. Ab 1992 schrieb er an der autobiografischen Romanfolge Das alte Jahrhundert. Er erhielt zahlreiche Literaturpreise, u. a. den Alfred-Döblin- und den Robert Gernhardt-Preis. Peter Kurzeck starb 2013 in Frankfurt am Main.
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2

Er blieb diesen ersten Tag und dann noch zwei Tage. Immer hat man ein Zimmer zuwenig. Nicht genug Luft, die Zeit rationiert und die Wände zu dünn. Könnten gut noch einen Haustürschlüssel brauchen. Er kam am Abend zum Essen und blieb, bis Carina im Bett war. Er hat sich Wein mitgebracht und muß Sibylle und mir eine erneut revidierte, vorläufig gültige, erheblich gekürzte Version von sich und Pascale und der Trennung und von ihren letzten gemeinsamen Tagen. Und wird noch viel Arbeit damit für die Zukunft. Kramt in seiner übermüdeten Reisetasche, die immer spielt, daß sie ein großer geduldiger Hund ist. Ein Hund, der oft schnauft und viel Schlaf braucht. Kramt, sucht, murmelt und muß dann nochmal weg. In die Nacht hinein. Kurz vor elf. Ich ging ein paar Schritte mit. Der Tannenbaum zu. Der Wirt verschläft manchmal einen Tag und weiß dann am nächsten Tag nicht, ob der gestrige Tag nicht gewesen oder hat er ihn bloß wieder zwischen Küche, Bad, Bett, Gedächtnis und Theke verlegt? Verlegt und verkramt und vergessen? Wo suchen? Herbst geworden! Im Oktober um elf Uhr abends an einem normalen Werktag ist es still bei uns in der Straße. Stille Fenster. Leise die Katzen. Sogar die Straßenlampen sind still und mild und verschwiegen ihr Licht auf dem alten Pflaster. Nur höchstens nach Mitternacht ein paar wenige späte Gäste noch aus den Kneipen heim. Haben das Ende des Sommers verpaßt. Müd ihre Schritte und Stimmen. Fenster zu. Rolläden in der Nachbarschaft. Einzeln ein spätes Auto. In einem Buch müßte so ein spätes einzelnes Auto etwas bedeuten. Schritte, die Straßenlampen, das alte Pflaster. Vorwurfsvoll eine Haustür, die schon den ganzen Abend gewartet hat. Noch vom Sommer her ein verwehtes Gelächter. Der Wind. Einmal ist dir, als ob du schon länger dich selbst reden hörst unterm Fenster. Erst unterm Fenster, dann zwei Häuser weiter. Schritte, Stimmen, der Wind. Und danach dann die Stille noch stiller. Besonders im letzten Abschnitt. Hier nach der Kreuzung, wo die Straße zur Sackgasse wird. Wie ein großer Hof. Nachmittags spielen Kinder. Ball, Fahrrad, Rollschuhe, Totschießen, Federball, Hüpfseil und Balancieren. Hell ihre Stimmen zwischen den Häusern. Und solang es geht, in den Abend hinein. Schulkinder! sagt Carina. Still wie ein großer Hof wird die Straße am Ende. Ein Hof, der den Katzen und Tauben und Amseln und Kindern, ein Hof, der keinem und allen gehört. Zwischen den Steinen wächst Gras. Am Ende der Straße zwei Torbögen. Der eine zur Schloß-, der andre zur Adalbertstraße. Durchgang für Fußgänger. Auf die Torbögen zu. Siehst du, jetzt ist er weg! Lang ein Mercedes-Kleinbus. Campingeinrichtung. Dachgepäckträger. Und stand hier und war zu verkaufen. Letzten Herbst, dann im Frühling und auch schon den Sommer davor. Erst dreitausendvierhundert und das war schon billig! Mit Kühlschrank, Klapptisch, Gasherd und Bett. Wandschränke. Mehrere Betten. Sommerreifen, Winterreifen, Dachgepäckträger. TÜV neu. Neuer Austauschmotor. Sogar Vorhänge an den Fenstern. Gardinen mit Bändchen und Schleifchen. Ein Karomuster. Standheizung. Kardanwelle. Alles komplett. Zum darin wohnen. Sogar für immer. Auf Wunsch mit Wassertank. Warum nicht einen Türkei-Import anfangen? Eine Wohnung mit Warenlager in Frankfurt und eine in Istanbul und immer hin und her. In der Türkei sind türkische Nachttischlämpchen spottbillig. Außer uns weiß das keiner. Schon in Griechenland sind sie billig, aber in der Türkei noch billiger. Was noch? Fragten Sibylle und Pascale, weil sie dachten, sie sind Realisten. Wir standen am Straßenrand neben dem Bus. Ein Abend im Sommer vor einem Jahr. Alles, sagte ich, in Gedanken schon unterwegs. Teppiche, Türgriffe, türkische Schraubenzieher. Morgen mache ich eine Liste. Man kauft Ingwer und verkauft ihn als Ginseng. Wahrscheinlich geht es sogar mit Fenchel auch schon. Fenchel ist auch gesund. Den Fenchel als Ingwer. Und Ingwer als Ginseng. So geht es. Natürlich nur, wenn man reich werden will! In keinem Land sind türkische Fähnchen so billig wie in der Türkei. Tee, Teegläser und Untersetzer und Tabletts für diese Teegläser. Teelöffel, Besteck, Säbel, Taschenmesser und Küchenmesser, bei denen Rustferi Sulungen in die Klinge eingraviert ist. Auf dem ganzen Balkan wissen sie, daß auf einem guten Messer jedenfalls Rustferi Sulungen oder so ähnlich draufstehen muß. Und vielleicht bis nach Indien und Afrika. Noch von Bismarck her und aus der Kaiserzeit. Einmal fast ja ein Weltreich gewesen. Dosenöffner und Vogelstimmenpfeifchen kann man auch importieren. In Ungarn sind tschechische Bleistifte billig. Hirschgeweihe und Mantelknöpfe aus Büffelhorn. Holzschalen und Schöpfkellen aus poliertem Olivenholz, das immerfort lächelt. Dämonen und preiswerte kleine Teufel aus Rebholzwurzeln. Serviettenringe als Armreifen und Armreifen als Serviettenringe. Sonnenuntergänge. Perlen. Eine Gerte aus Isfahan. Sandalen, Samtwesten, Luftspiegelungen. Türkischen, russischen und chinesischen Tee. Feigensirup, Feigengelee, Feigenpaste, Feigenmarmelade, Feigenhonig und eingelegte und getrocknete Feigen. Nur auf frische Feigen darf man sich für den Import gar nicht erst einlassen. Die ißt man gleich. Nougat, Sesammus, Halwa und türkischen Honig. Carina lernt spielend türkisch, sagte ich. Als erste von uns. Sie steht ein paar Schritte weiter und studiert das Ballspiel und die Mienen der Schulkinder. Wir standen neben dem alten Kleinbus zum Wohnen. Jürgen auch dabei. Und ich wußte, daß ich sie jederzeit überzeugen kann. Alle drei. Zumindest solang sie neben mir stehen. Von allem, besonders von fernen Ländern. Kennen uns aus und dann weiter nach Indien, sagte ich. Und importieren aus Indien indische Sachen in die Türkei. Gewürze, Holzelefanten, indische Kleider. Vielleicht würde ich mir in Indien vom Betriebskapital einen lebendigen Elefanten kaufen. Und dann echten Ginseng. In Korea, in China, in der Mongolei. Nur erst noch das Buch zuende, das nächste! Der vorige Sommer. Mein zweites Buch eben im Druck. Als Kind einmal einen ganzen verregneten Vorfrühlingstag von Staufenberg aus mit zwei Elefanten mit Elefantentreibern und Vorreitern durch die versinkenden Dörfer der ganzen Umgegend. Erst diesen einen, dann auch noch den nächsten Tag. Die Lumdadörfer, die Lahndörfer. Bis nach Nordeck und Buseck und Wißmar. Eine Karawane im schrägen grauen Märzregen und die Zirkusplakate ausgehängt. Selbst wie ein Zirkusplakat bunt und wild und unwiderstehlich, wenn es nicht geregnet hätte. Die Vorreiter mit goldenen Trompeten und die Elefantentreiber mit Dudelsack, Flöten und Trommeln. Zwei Tage lang bis in die Nacht hinein mit ihnen mit. Ich war acht. Nie, niemals wieder werden lebendige Elefanten aus der Nähe so groß für mich sein! Wir waren zu dritt, drei mutige Kinder aus Staufenberg und die Elefanten fingen schon an, uns zu kennen. Erst noch eben als Kind mit den Elefanten, dann als Vater mit Kind hier neben dem Kleinbus und jetzt ist der Kleinbus auch weg. Schon länger weg. Ein Bus zum Drinwohnen. Und sollte zuletzt nur noch zweitausendeinhundert Mark kosten. Länger als ein Jahr hat er hier gestanden. Ich mußte ihn immer wieder ansehen und Sibylle und Carina und Jürgen und Pascale und jeden der mit mir ging, hinführen. Mit vielen Wörtern. Sooft es mich packt. Es packt mich, sobald ich dran denke. Weiß war der Bus, weiß wie ein Schiff oder Wolkenschiff. Wie ein Segel, wenn es sich entfaltet. Eine Dachklappe zum Auf- und Zumachen. Ein 80-Liter-Wassertank. Länger als ein Jahr hier am Straßenrand zu verkaufen. Am Ende hätten sie ihn auch für eintausendneunhundert hergegeben. Und jetzt ist er weg, siehst du. Der Sommer auch wieder weg. Schon der zweite Sommer, seit er hier stand. Von Anfang an nur ein einziger Baum in der Straße. Und von Gittern umgeben. Fast täglich hier am Zaun an der Rosenhecke vorbei. Die Rosen, die Dornen, jedes Blatt hat mich schon gekannt. Aber seit Carina Ende September krank wurde, die Rosenhecke jetzt doch aus den Augen verloren. Beinah als ob man sich selbst aus den Augen verliert.

Im Torbogen hat der Wind schon seit Tagen und Tagen und Nacht für Nacht das Laub von der Adalbertstraße zusammengeweht. Und da liegt es und ist zur Ruhe gekommen wie eine Schafherde in der Nacht. Nur leise ein Rascheln und auch nicht oft. Beinah wie ein Frösteln und Gänsehaut, so ist für das Laub in seiner Erstarrung jetzt dieses Rascheln. Blatt um Blatt. Müdes Laub. Und liegt und ruht und wartet auf die sprachlosen Ausländer von der städtischen Straßenreinigung. Besser noch ein baldiger Sturm. Immer im Herbst muß das Laub beharrlich und zäh an sich selbst und eine Weile auch an die ewige Wiederkehr glauben. Immer wieder. Und wie hier unter dem Torbogen so seltsam die Stimmen hallen. Hörst du es auch? Besonders so spät noch. Und in die Nacht, in die Stille hinein. Wie in einem tiefen Brunnen. Und riecht auch so. Durch den Torbogen er und ich. Über die Adalbertstraße in die Seestraße, die auch leer ist und still, spät am Abend. Höchstens jede Stunde einmal ein Auto mit überhöhter Geschwindigkeit durch die Seestraße und der Wind kann nicht anders, muß jedesmal mitrennen. Und im Sommer aus offenen Fenstern die Tagesschau und ein Durcheinander von Staatsbesuchen, Bundeskanzler, Hitparaden, Pferdegetrappel, Schreien und Schüssen. Aber nur manchmal und leise und bleibt hinter dir zurück. Unwirklich. Mehr wie ein Echo nur. An so einem Sommerabend ist dir, als ob du alles nur träumst. Träumt sich leicht! Jedes Ding, als ob es sich selbst träumt! Je länger du gehst, umso mehr ist dir so. Der Himmel noch hell. Bleibt noch lang hell. So lang es hell ist, sieht man von hier aus den Taunus. Vom Kurfürstenplatz herüber schläfrig der Brunnen und Tauben und Kinder und die Abendstimmen der alten Männer, die hier im Sommer jeden...


Deuble, Rudi
Rudi Deuble, geb. 1952 in Neuenbürg. Studium der Germanistik und Politikwissenschaft, betreute ab 1990 Peter Kurzeck beim Verlag Stroemfeld/Roter Stern. Verlagsvertreter. Lebt in Frankfurt am Main.

Kurzeck, Peter
Peter Kurzeck geboren 1943 in Böhmen, aufgewachsen in Staufenberg bei Gießen. Später lebte er in Frankfurt am Main und Uzès (Südfrankreich). Von dieser Anfangszeit in Frankfurt und der Arbeit an seinem ersten Roman handelt das Parisbuch. Ab 1992 schrieb er an der autobiografischen Romanfolge Das alte Jahrhundert. Er erhielt zahlreiche Literaturpreise, u. a. den Alfred-Döblin- und den Robert Gernhardt-Preis. Peter Kurzeck starb 2013 in Frankfurt am Main.

Losse, Alexander
Alexander Losse, geb. 1974 in Teheran, Studium der Germanistik und Philosophie in Mainz. Mitarbeiter des Stroemfeld Verlags von 2005 bis 2016. Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Siegen von 2017 bis 2018. Lektor und Layouter. Lebt in Frankfurt am Main.

"Peter Kurzeck, geboren 1943 in Böhmen, aufgewachsen in Staufenberg bei Gießen. Später lebte er in Frankfurt am Main und Uzès (Südfrankreich). Ab 1992 schrieb er an der autobiografischen Romanfolge "Das alte Jahrhundert". Zahlreiche Literaturpreise, u.a. Alfred-Döblin- und Robert Gernhardt-Preis. Peter Kurzeck starb 2013 in Frankfurt am Main.Rudi Deuble, geb. 1952 in Neuenbürg. Studium der Germanistik und Politikwissenschaft, betreute ab 1990 Peter Kurzeck beim Verlag Stroemfeld/Roter Stern. Verlagsvertreter. Lebt in Frankfurt am Main.Alexander Losse, geb. 1974 in Teheran, Studium der Germanistik und Philosophie in Mainz. Mitarbeiter des Stroemfeld Verlags von 2005 bis 2016. Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Siegen von 2017 bis 2018. Lektor und Layouter. Lebt in Frankfurt am Main."



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