E-Book, Deutsch, 464 Seiten
Laestadius Die Rückkehr der Rentiere
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-455-02021-2
Verlag: Hoffmann und Campe
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 464 Seiten
ISBN: 978-3-455-02021-2
Verlag: Hoffmann und Campe
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ann-Helén Laestadius, geboren 1971, ist eine schwedische Journalistin, preisgekrönte Autorin und gebürtige Sámi. Ihr internationaler Bestseller Das Leuchten der Rentiere wurde von Netflix verfilmt. Zuletzt erschien von ihr bei Hoffmann und Campe der Roman Die Zeit im Sommerlicht (2024). Ann-Helén Laestadius lebt in der Nähe von Stockholm.
Weitere Infos & Material
Cover
Titelseite
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Kapitel 46
Kapitel 47
Kapitel 48
Kapitel 49
Kapitel 50
Kapitel 51
Kapitel 52
Kapitel 53
Dank der Autorin
GLossar
Über Ann-Helén Laestadius
Impressum
Kapitel 1
1998
Sie zog ihr weißes Huivi fest, sodass der Stoff straff um ihren Kopf lag, ihr Haar verbarg und ihr den Schweiß aus der Stirn hielt. Ihre Fingerspitzen glitten die Stoffkante entlang, und sie schob ein paar einzelne Haare an den Schläfen unter das Tuch. war ein Wort, das ihr nicht leicht über die Lippen kam. Nur Ritva und Jaana sagten ganz selbstverständlich »Huivi«. Doch die eine hielt sich für etwas Besseres als die andere, denn Jaana sprach Finnisch, richtiges Finnisch, wie sie betonte, kein Mischmasch wie das Tornedalfinnisch. Sie versetzte Ritva einen Stups mit der Hüfte, und beide grinsten einander an.
Zweifelsohne war Marina hier an zwei starke, zupackende Frauen geraten. Mit kräftigen Oberarmen, über denen sich die Arbeitsjacke spannte, und stabilen Oberschenkeln, die sie vom frühen Morgen an trugen, wenn es draußen noch dunkel war, bis sie in der gleichen Dunkelheit wieder nach Hause gingen. Um auch dort mit Kochen fortzufahren. Sie beklagten sich über Männer, die das Essen schneller verschlangen als ihr Hund, und mäkelige, fast erwachsene Teenager, die niemals danke sagten.
Marina fiel aus dem Rahmen. Mit beinahe dreißig und ohne Mann und Kinder. Mit schmalen Armen, und Beinen so mager wie die eines Rentierkalbs. Sie hatte sich im Spiegel über dem Handwaschbecken in der Küche gesehen und war zusammengezuckt, als Mama zurückgeguckt hatte.
Am vergangenen Freitag war sie nach Kiruna zurückgekehrt, und heute war der dritte Tag ihrer ersten Arbeitswoche.
Ihre Kolleginnen hatten sie gleich am ersten Tag ausgefragt, als sie an einem der Tische im Speisesaal saßen und sich einen schnellen Kaffee genehmigten, bevor die Kinder kamen. Ritvas Augen waren schmal geworden. Bestimmt hatten sie schon über sie geredet, als klar war, dass sie den Job bekommen hatte. Bestimmt waren sie sofort misstrauisch gewesen. Die Leute glaubten immer, sie wüssten bereits alles, sobald sie nur ihren Nachnamen hörten. Onkel Sture und seinesgleichen hatten einen gewissen Ruf. Einige Namen in der Stadt und den umliegenden Dörfern verleiteten die Leute zu Schlussfolgerungen. Doch es war schwierig, sich Gewissheit über Verwandtschaftsverhältnisse zu verschaffen, ohne geradeheraus danach zu fragen, und die meisten verzichteten darauf. Ritva hätte aber schon gern gewusst, ob Marina war.
Kein Wunder, dass Marina oft nur ungern ihren Namen nannte. Und Mamas Mädchenname half ihr auch nicht weiter, weil er durch seine Vorgeschichte noch stärker belastet war.
Ihre dritte Kollegin, Camilla, war nicht angestellt, sondern über irgendeine Arbeitsmarktmaßnahme in Teilzeit eingeschleust worden. Camilla sah Marina nicht schief an, sondern freute sich offensichtlich über die beinahe gleichaltrige Arbeitskollegin und hatte ihr angeboten, sie herumzuführen. Da musste Marina dann damit herausrücken, dass sie hier zur Schule gegangen war. Camilla wollte Erinnerungen mit ihr austauschen, an Menschen von früher, aber sie war eben doch jünger, und die fünf Jahre Altersunterschied waren zu viel. Marina war erleichtert.
Besonders peinlich war es, als Ritva Marina mitten im Satz ins Wort gefallen war.
»Hallo? Du bist jetzt in Kiruna, du brauchst nicht so zu sprechen.«
Beschämt hatte Marina die anderen angesehen. Es war ja nicht so, dass sie absichtlich so sprach wie jemand aus dem Süden, doch ihr rutschten immer noch die versnobten I’s heraus, und das war es wohl, was Ritva am meisten störte.
Ihr eigener Ton und ihre Sprachmelodie waren ihr abhandengekommen. Sie erklärte, dass sie es nicht bewusst mache und dass sie sich bedauerlicherweise schnell Dialekte aneigne.
Heute gab es Oxjärpar. Die Kinder liebten die kleinen goldbraunen Hackröllchen mit brauner Soße. Mit den Kartoffeln war nicht viel Staat zu machen, aber Marina ließ diejenigen, deren Schale eindeutig zu blau war, heimlich verschwinden. Ritva überwachte die Essensausgabe und sorgte dafür, dass sich niemand zu viel oder zu wenig nahm, ohne den unglücklichen Kinderaugen Beachtung zu schenken.
Servicekraft in der Schulkantine. Als die Sachbearbeiterin im Arbeitsamt der Großstadt gesagt hatte, es gebe tatsächlich eine freie Stelle in einer Schulkantine zu Hause, hatte Marina nicht gezögert.
»Kantinenfrau? Den Job will ich haben.«
Die Frau – sie hatte eine Dauerwelle und brüchige Haarspitzen, die an ihre Schultern stießen – scherzte:
»Ihnen ist aber klar, dass sich Hunderte auf diese Stelle bewerben werden.«
»Vielleicht auch nicht. Wir sind ja alle in den Süden gezogen.«
Darüber hatten sie beide gelächelt, als wären sie alte Bekannte. Aber man wurde in der Großstadt mit niemandem bekannt. Nicht einmal, wenn man dort schon ziemlich genau ein Jahr wohnte. Mehr Zeit wollte sie Stockholm nicht geben. Sie war in einem regnerischen Winter hier eingetroffen, der von einem Frühling abgelöst wurde, in dem das Grün schon spross, als man zu Hause noch eisangeln konnte, dann folgten ein viel zu warmer Sommer und ein Herbst, der noch lange die Blätter an den Bäumen festhielt und nicht die kleinste Spur Schnee zeigte, als der Oktober bereits in den November überging.
Als sie im vergangenen Winter Kiruna verlassen hatte und gen Süden gefahren war, hatte sie das alles nicht wirklich durchdacht. Bei der Arbeitsvermittlung war es schnell gegangen. Eine Arbeitsstelle und ein Umzugskostenbeitrag. Eine Wohnung besorgte sie sich selbst. In der Anzeige schrieb sie, sie sei eine zuverlässige Frau aus Norrbotten, was zu einem Zimmer mit eigener Küche und Bad bei einer älteren Dame in Sollentuna führte, die allein in ihrem Haus wohnte, nachdem ihre Kinder ins Ausland gezogen und ihr Mann dorthin verschwunden war, »wo Rosen niemals sterben«, wie sie sich ausdrückte. Marina hatte der Atem gestockt. Es erinnerte sie an das Lied aus ihrer Kindheit, das ihre Mormor, ihre Großmutter mütterlicherseits, bei einem wilden Tanz auf dem Küchenfußboden im Dorf zu ihrem gemeinsamen Lied erklärt hatte.
Keiner aus ihrer Familie war zum Bahnhof gekommen, um sie zu verabschieden. Sie waren wie gelähmt von dem, was sie getan hatte. Marina hatte auf dem Bahnsteig nach ihnen Ausschau gehalten und dann die Augen zugekniffen, als der Zug an den Mietshäusern in der Bromsgatan vorüberfuhr.
Sie war überstürzt geflohen, in dem Glauben, es sei für immer, aber ein Jahr später wandte sie sich wieder gen Norden. Da war so ein Gefühl im Körper. Wie bei den Rentieren, hatte sie gedacht. Die wussten ebenfalls, wann es an der Zeit war, sich in Bewegung zu setzen. Wenn eine Jahreszeit in die nächste überging.
Und wieder war alles genauso schnell entschieden. Sie ließ graunasse Bürgersteige hinter sich und stieg aus dem Zug in den schallschluckenden Schnee. Auch diesmal stand niemand auf dem Bahnsteig.
Sie hatte die Stelle in der Schule bekommen. Zwar wusste sie, dass man zu Hause bestimmte Strippen ziehen konnte, um Dinge zu regeln. Leute wurden bevorzugt behandelt, weil sie zur Verwandtschaft gehörten, gemeinsam jagten oder freitags zusammen in der Sauna saßen – dass es aber auch Strippen gab, an denen eine Frau ziehen konnte, die einen Kantinenjob haben wollte, damit hatte sie nicht gerechnet.
Sie hatte die Anzeige Torbjörn gezeigt, der in dem Restaurant, in dem sie angestellt war, als Koch arbeitete, und er überraschte sie, als er sagte, er komme aus Pajala, habe in Kiruna gewohnt, und nicht nur das, er war außerdem der Cousin des Ansprechpartners in der Kommune, der damit beauftragt war, Fragen zu der Stelle zu beantworten. Also rief er dort an und empfahl Marina auf das Wärmste. Nach einer Minute wandte sich das Gespräch anderen Dingen zu.
»Ja, das war ein richtiger Lachssommer …«; »Allerdings, zur Elchjagd mit dem alten Herrn, wie immer …«; »Du hast doch sicher gehört, dass Jocke verkaufen will. Natürlich kommst du zurück nach Pajala«; »Klar, ich komme natürlich auch … haha … irgendwann«.
Ihr wurde ganz schwindlig, während sie Torbjörn zuhörte, der vor ihren Augen ein anderer wurde, als er übergangslos in den heimischen Dialekt wechselte.
»Ich hatte ja keine Ahnung«, sagte sie hinterher matt. »Dass du auch von da oben bist. Du klingst nicht so.«
»Ich bin schon vor langer Zeit dort weggezogen. Aber natürlich kann ich auch so sprechen wie normale Menschen.«
»Aber warum hast du nichts gesagt?«
Fast hätte sie ihren Entschluss bereut, vielleicht hätte Tor-björn ein Bekannter hier in der Großstadt werden können. Wenn sie nur gewusst hätte, dass sie vom gleichen Schlag waren.
Er hatte dunkle Ringe unter den Augen, immer ein Zeichen von Müdigkeit. Sie hätte ihn gern gefragt, ob es ihm ebenso erging wie ihr, ob Stockholm auch ihm die Seele aussaugte. Kannte auch er die Sehnsucht nach zu Hause? Sie hatte sie so deutlich in seiner Stimme gehört.
»Was zieht dich denn zurück nach Kiruna, Marina?«
»Ich gehöre einfach nicht hierher.«
Torbjörn zuckte die Schultern und sagte, sie werde die Stelle bekommen.
»Das kannst du doch nicht wissen.«
»Doch.«
Er sollte recht behalten. »Grüß zu Hause«, sagte er, und sie reiste ab.
Die ersten Klassen der Unterstufe waren jetzt da und standen Schlange. Einige spähten schon jetzt ängstlich zu Ritva hinüber. Würde sie heute am Abfallbehälter Wache stehen? Ein Junge in einem grünen Rollkragenpulli machte einen Freudensprung, als er sah, was es gab. Im Flüsterton wurde die Botschaft weitergegeben, und die Kinder rückten in kleinen Schritten vor, wobei sie sich bemühten, nicht zu drängeln. Sie...




