E-Book, Deutsch, 496 Seiten, eBook
Lalami Der verbotene Bericht
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-0369-9616-5
Verlag: Kein & Aber
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 496 Seiten, eBook
ISBN: 978-3-0369-9616-5
Verlag: Kein & Aber
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Das Jahr 1527: Als der marokkanische Sklave, von seinem Besitzer Estebanico genannt, gemeinsam mit der spanischen Flotte in Florida ankommt, kann er nur staunen, mit welcher Selbstverständlichkeit sich seine spanischen Herren ein Land nehmen, das offensichtlich anderen gehört – und zwar nur, indem sie diese Tatsache aussprechen, ganz egal, ob die Eingeborenen dies nun hören oder nicht. Nach dieser ersten, vermeintlich einfachen Eroberung stehen der spanischen Flotte jedoch Krankheit, Widerstand und Hunger bevor – und nur vier der Männer schaffen es, das Abenteuer zu überleben und darüber zu berichten. Einer von ihnen ist Estebanico. Denn warum sollten die spanischen Herren die Einzigen sein, die berichten dürfen? Als freier Mann und rückblickend setzt sich Estebanico an seinen eigenen Bericht und schildert die Begebenheiten der legendären Narvaez-Expedition im Jahr 1527 so, wie sie waren – oder zumindest so, wie er sich daran erinnern kann.
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1
Die Geschichte von La Florida
Im Jahr 934 nach der Hedschra, meinem dreißigsten Lebensjahr und dem fünften meiner Gefangenschaft, hatte es mich an den Rand der bekannten Welt verschlagen. Ich ging hinter Señor Dorantes, während wir durch eine dicht bewachsene Gegend marschierten, die er und die anderen Kastilier La Florida nannten. Wie es von meinem Volk genannt wird, weiß ich nicht, denn bis zu meiner Abreise aus Azemmur fanden Nachrichten aus jenem Land nur selten die Beachtung unserer Stadtschreier. Diese berichteten lieber von der Hungersnot, dem kurz zurückliegenden Erdbeben oder den Aufständen im Süden der Berberei. Ich denke aber, dass es in meinem Volk gemäß unseren Regeln der Namensgebung schlicht das Indianerland hieße. Die Indianer hatten sicherlich auch einen Namen dafür, doch den kannte weder Señor Dorantes noch ein anderer Teilnehmer der Expedition.
Señor Dorantes hatte mir gesagt, dass La Florida eine große Insel sei, größer als ganz Kastilien, und sich von der Küste, an der wir angelandet waren, bis zum Stillen Ozean erstrecke. Von einem Meer zum anderen, so hatte er es beschrieben. Das ganze Gebiet würde nunmehr von Gouverneur Pánfilo de Narváez regiert werden, dem Befehlshaber der Armada. Ich fand es unverständlich oder doch zumindest seltsam, dass der König von Spanien einen Untertan über ein Land herrschen ließ, das größer als sein eigenes war, doch diese Ansicht behielt ich natürlich für mich.
Wir marschierten nach Norden, auf das Reich Apalache zu. Indianer, die er gefangen genommen hatte, nachdem die Armada an der Küste von La Florida angelangt war, hatten Señor Narváez davon erzählt. Obwohl es nie mein Wunsch gewesen war, dorthin zu kommen, war ich erleichtert, als wir von Bord gehen konnten, denn die Fahrt über das Meer des Nebels und der Dunkelheit hatte jede Unannehmlichkeit bereitgehalten, die man von einer solchen Reise erwarten musste: bröseligen Schiffszwieback, trübes Trinkwasser und verdreckte Latrinen. Besonders die engen Schlafunterkünfte hatten Passagiere und Mannschaft reizbar gemacht, und fast täglich war es zu Streit gekommen. Doch das Schlimmste war der Gestank gewesen – der alles durchdringende Geruch ungewaschener Männer vermengt mit dem Rauch aus den Kohlenbecken und den Ausdünstungen von Pferdemist und Hühnerkot, die trotz täglicher Reinigung nicht aus den Ställen weichen wollten. Ein Gemisch wie ein Pesthauch, der jedem unter Deck entgegenschlug.
Ich war neugierig auf das Land, denn ich hatte von meinem Herrn und seinen Freunden viele Geschichten über die Indianer gehört, oder besser erlauscht. Ihre Haut sei rot und sie hätten keine Augenlider. Heiden seien sie, die Menschen opferten, zu böse aussehenden Göttern beteten und geheimnisvolle Tränke brauten, die ihnen Visionen machten, und sie gingen herum, wie Gott sie geschaffen habe, sogar die Frauen. Diese Behauptung war mir so unglaubwürdig erschienen, dass ich sie rundweg als Lüge abtat. Dennoch hatte mich das Land in seinen Bann geschlagen und war bald mehr als nur ein Reiseziel: ein fantastischer Ort, wie er nur dem Einfallsreichtum der Wandererzähler in den Suks der Berberei entsprungen sein konnte. Während der Fahrt über das Meer des Nebels und der Dunkelheit keimten solche Gedanken in einem auf, selbst wenn man die Reise nicht freiwillig unternahm. Die Bestrebungen der anderen färbten nach und nach unweigerlich ab.
Pro Schiff durfte nur eine kleine, aus Offizieren und Soldaten bestehende Gruppe landen. Als Kapitän der Gracia de Dios hatte Señor Dorantes zwanzig Männer ausgewählt, darunter diesen Diener Gottes, Mustafa ibn Muhammad, die in Ruderbooten an den Strand gebracht wurden. Mein Herr stand am Bug und hatte die eine Hand in die Hüfte gestemmt, die andere um den Knauf seines Schwerts gelegt, als posierte er für einen unsichtbaren Bildhauer. Keine Haltung hätte den Eifer besser zum Ausdruck gebracht, mit dem er Anspruch auf die Schätze der Neuen Welt erhob.
Der Himmel war gleichmäßig blau an diesem schönen Frühlingstag, das Wasser klar. Nachdem wir den Strand erreicht hatten, gingen wir langsam in Richtung eines Fischerdorfs, das von einem Matrosen auf dem Fockmast gesichtet worden war und etwa einen Armbrustschuss weit von der Küste entfernt lag. Was mir zunächst auffiel, war die Stille. Nein, das Wort trifft es nicht. Immerhin waren die Wellen zu hören, ein leichter Wind ließ die Palmwedel rauschen, und es kamen Möwen herbei, betrachteten uns voller Neugier und flogen flügelflatternd wieder davon. Und doch verspürte ich eine große Abwesenheit.
Das Dorf bestand aus zwölf in einem weiten Kreis angeordneten Hütten, die aus Holzpfählen gebaut und mit Dächern aus Palmblättern bedeckt waren. Die Abstände zwischen den Hütten waren breit genug, um zum Kochen und zur Lagerung von Nahrung genutzt zu werden. Rings um die Lichtung gab es mit frischen Scheiten bestückte Feuerstellen, und an einer Stange hingen drei gehäutete Hirsche, deren Blut noch tropfte. Doch das Dorf war verwaist. Trotzdem gab der Gouverneur den Befehl, die Siedlung gründlich zu durchsuchen. In den Hütten fanden sich Utensilien zum Kochen und Putzen, Tierhäute und Felle, getrockneter Fisch und Dörrfleisch sowie große Mengen Sonnenblumenkerne, Nüsse und Früchte. Die Soldaten nahmen sofort an sich, so viel sie nur konnten, umklammerten eifersüchtig ihre Beute und tauschten sie gegen anderes, das ihnen lieber war. Obwohl ich nichts nahm und deshalb auch nichts zu tauschen hatte, schämte ich mich, zum Zeugen des Diebstahls geworden zu sein und, unfähig, sie aufzuhalten, auch zum Komplizen der Leute.
Als ich mit meinem Herrn vor den Hütten stand, fiel mein Blick auf einen Haufen Fischernetze. Um mir die seltsame Knüpfung genauer anzusehen, hob ich eines hoch und entdeckte einen merkwürdigen kleinen Kiesel, den ich zunächst für ein Gewicht hielt. Doch die glatten Steinanker, die an jedem Netz hingen, sahen ganz anders aus als der gelbe, scharfkantige Kiesel. Ich überlegte, ob er ein Spielzeug sein könnte – eine Murmel oder Teil einer Rassel –, das versehentlich auf den Netzen liegen geblieben war. Ich hielt ihn ins Licht, um ihn besser zu betrachten, was Señor Dorantes natürlich bemerkte.
Hast du etwas gefunden, Estebanico?, fragte mein Herr.
Diesen Namen hatten mir die Kastilier gegeben, nachdem sie mich portugiesischen Händlern abgekauft hatten. Estebanico – eine Klangfolge, deren Fremdartigkeit mir nach wie vor in den Ohren knirschte. In Sklaverei geraten hatte ich nicht nur meine Freiheit aufgeben müssen, sondern auch den Namen, den meine Eltern für mich gewählt hatten. Ein Name ist etwas Kostbares, denn er enthält eine ganze Sprache, eine Geschichte, Traditionen und eine bestimmte Sicht auf die Welt. Verliert man ihn, verliert man auch all diese Dinge. Und das Gefühl, dass der Estebanico, den die Kastilier vor sich hatten, ein ganz anderer war als der Mensch, der ich wirklich war, hatte mich nie verlassen. Mein Herr riss mir den Kieselstein aus der Hand und fragte: Was ist das?
Das ist nichts, Señor.
Nichts?
Nur ein Kiesel.
Lass mich sehen. Er kratzte mit dem Fingernagel daran, und unter der dünnen Schmutzschicht kam ein helles Gelb zum Vorschein. Mein Herr war ein wissbegieriger Mensch, der ständig Fragen stellte. Vielleicht hatte er deshalb beschlossen, auf die Annehmlichkeiten seines stattlichen Hauses in Béjar del Castañar zu verzichten und sein Glück im Unbekannten zu machen. Seine Neugier auf die Neue Welt störte mich nicht, doch wenn er von seiner Heimatstadt sprach, wurde ich neidisch, denn dann schwang immer die Erwartung einer ruhmreichen Rückkehr mit.
Das ist nichts, sagte ich noch einmal.
Da bin ich mir nicht so sicher.
Das ist bestimmt nur Katzengold.
Es könnte auch echtes Gold sein. Unschlüssig drehte er den Stein zwischen den Fingern. Dann fasste er einen Entschluss und lief zu Señor Narváez, der auf dem Dorfplatz darauf wartete, dass seine Männer die Suche beendeten. Don Pánfilo, rief mein Herr. Don Pánfilo.
Lasst mich Euch den Gouverneur beschreiben. Das Auffälligste an seinem Gesicht war die schwarze Klappe über dem rechten Auge. Sie ließ ihn furchterregend wirken, doch seine eingefallenen Wangen und das kleine Kinn glichen diesen Eindruck aus. Er trug fast immer, auch wenn es gar nicht nötig war, einen mit Straußenfedern geschmückten Helm aus Stahl. Über dem Brustharnisch spannte sich eine blaue Schärpe von der Schulter bis zum Schenkel, die an der Hüfte kunstvoll gebunden war. Obwohl er große Mühe auf sein Äußeres verwandte, war er manchmal so derb wie die niedrigsten seiner Soldaten. Einmal hatte ich gesehen, wie er sich ein Nasenloch mit dem Finger zustopfte und aus dem anderen einen langen Schleimstrahl in die Luft schnäuzte, während er mit einem seiner Kapitäne über die Schiffsvorräte sprach.
Señor Narváez nahm den Kieselstein mit gierigen Fingern entgegen. Wieder wurde das kleine Ding in die Sonne gehalten, und wieder wurde daran gekratzt. Das ist Gold, sagte er feierlich, und hielt den Stein wie eine Opfergabe auf dem Handteller. Als er weitersprach, klang seine Stimme heiser. Gut gemacht, Capitán Dorantes. Gut gemacht.
Aufgeregt umringten die Offiziere den Gouverneur, und ein Soldat lief zum Strand zurück, um seinen Kameraden von dem Goldfund zu berichten. Ich stand hinter Señor Dorantes, von seinem Schatten vor der Sonne geschützt, und obwohl ich sein Gesicht nicht sah, wusste ich, dass er vor Stolz strahlte. Ein Jahr zuvor hatte man mich in Sevilla an ihn verkauft; seitdem hatte ich ihn zu deuten gelernt und erkannte, ob er glücklich oder nur zufrieden, wütend oder leicht verärgert, besorgt oder...