Larson 2/14
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-03734-687-7
Verlag: diaphanes
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ein Dewey-Decimal-Roman
E-Book, Deutsch, 256 Seiten
Reihe: Literatur
ISBN: 978-3-03734-687-7
Verlag: diaphanes
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
14. Februar: Am Valentinstag ist New York durch eine Serie von Anschlägen zerstört worden. Die Bevölkerung ist dezimiert, die Behörden sind korrupt, außer Kontrolle geratene bewaffnete Einheiten haben die Macht übernommen. Dewey Decimal, der letzte Verwalter der New York Public Library, bewahrt Stil und Haltung, auch wenn er bis an die Zähne bewaffnet ist. Er war einmal Soldat, mehr weiß er nicht, denn seine Erinnerung ist manipuliert. Seine Fähigkeiten zu kämpfen und zu töten sind optimiert. Sein Sinn für Gerechtigkeit und seine Neurosen haben System. Und sein Sinn für Sprache und Witz ist ein weiterer Bestandteil seines Waffenarsenals.
Als er von der Stadtverwaltung auf eine osteuropäische Gang angesetzt wird, beginnt ein Trip durch die apokalyptische Stadtlandschaft, bei dem sich mafiöse Verstrickungen bis in höchste Regierungskreise offenbaren. Mit Dewey Decimal werden die Leser in rasantem Tempo durch die Handlung gejagt, als befänden sie sich in einem Ego-Shooter-Szenario, in dem nichts ist, wie es scheint. Eine sprachmächtige, in die Zukunft geworfene Erneuerung des 'Noir'.
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Immer derselbe Traum.
Auf ein Neues. Frisch rasiert und wieder bei Kräften, eine OP-Maske vorm Gesicht, gehe ich Richtung Westen zur Linie C. Steige an der 23rd Street aus. Die Pistole ist dabei, in der Hosentasche stecken das Purell®, die Pillen und natürlich der Schlüssel.
Durch stinkende Schwaden laufe ich ein paar Blocks nach Nordwesten zu Odessa Expedited, Inc., versichere mich, dass sich Shapsko tatsächlich dort aufhält.
Suche seinen Prius, kralle ihn mir.
Fahre raus zu Kew Gardens.
Das Ganze dauert nicht mal bis halb zehn.
Wie unschwer vorzustellen, fühle ich mich ziemlich gut, als ich die Queensboro erreiche, wo ich meine Plastikkarte gegen die Windschutzscheibe halte und von den Army-Pionieren durchgewunken werde. Ich kann das Glas in dieser Dreckskarre ohne Probleme anfassen, ich trage OP-Handschuhe.
Die Brücke an der 59th Street war noch mal davongekommen; nur ein kleiner Teil des am Tag der Begebenheit(en) dort angebrachten Sprengstoffs war detoniert, so dass die Brücke praktisch unbeschädigt ist.
Die Straßenbahn darauf hatte weniger Glück. Ein einzelner Waggon baumelt wie ein vergessenes Spielzeug etwa 80 Meter über dem East River. Angeblich haben sie drei Wochen gebraucht, die Leichen zu bergen. Vielleicht bilde ich mir dieses winzig kleine Detail aber nur ein. Schwer zu sagen.
Ich fahre dem System entsprechend abwechselnd Straßen mit ungeraden und geraden Ziffern, also zuerst auf die 495, dann auf die 678 und dann auf die 13 SW. Systemgemäß biege ich dabei nur nach links ab (zugegeben, das zwingt mich zu einigen Umwegen), bis ich den Mowbray Drive erreiche.
Damit ich wieder links fahren kann, kreuze ich den Mowbray Drive, mache einen U-Turn und fahre zurück … bis ich vor der
Nr. 8 lande, zwei Häuser vor dem der Shapskos.
Es ist 5 vor 10.
Am liebsten würde ich sitzen bleiben und es mir bis nach 11 bequem machen, damit ich nicht zum unvorhergesehenen Rechtsabbiegen gezwungen sein werde, aber ich habe Angst, dass die Frau das Auto entdeckt und denkt, ihr Mann sei nach Hause gekommen.
Ich zieh die OP-Handschuhe aus und werf sie auf den Boden. Nehm die Maske ab. Reinige die Hände mit Purell®, sicherheitshalber die doppelte Menge. Schluck die zweite Morgenpille und bin bereit.
Heute habe ich einen durch und durch systemgerechten Plan, brutal einfach.
Ich steige aus (links), stelle fest, dass es ein mörderisch heißer Tag wird, wieder der beschissene Gestank, kein Mensch auf der Straße, gehe auf dem Bürgersteig am Haus der Shapskos vorbei und mach auf dem Absatz kehrt (links), zurück auf dem Weg zur Nr. 12 (links), von dort auf die niedrige Veranda, betätige zweimal den Türklopfer, bemerke die fehlende Schraube, weswegen die 2 der 12 schief hängt.
Ich warte. Ich höre, wie sich im Haus etwas bewegt. Ich halte meine Beretta gegen die linke Arschbacke gepresst. Meine Rechte ist frei.
Der Vorhang an dem Fenster links bewegt sich. Ich halte den Kopf gesenkt, den Hut in die Stirn gedrückt. Ich höre jemanden auf der anderen Seite atmen. Dann: „Was wollen Sie?“ Eine Frauenstimme, wahrscheinlich Iveta. Der Akzent.
Im Tonfall eines besorgten Weißen sage ich auf Ukrainisch: „Mrs. Shapsko, es tut mir sehr leid, aber Ihr Mann hatte einen Arbeitsunfall. Sie haben ihn ins Armory gebracht, er hat mich gebeten, Sie zu holen.“
Schweigen hinter der Tür.
„Es tut mir wirklich leid, aber wir müssen uns beeilen. Ihr Mann ist verletzt.“
Ist mein Ukrainisch so schlecht? Man hat mir gesagt, dass ich wie ein Muttersprachler klinge. Sogar wie ein Muttersprachler aus der Kiewer Gegend und nicht aus dem Süden.
Nutten sagen einem allerdings alles, was man hören will.
„Von wo kennen Sie meinen Mann?“
Erleichterung breitet sich in mir aus; ihr Ukrainisch ist schlechter als meins.
„Ich bin Anwalt bei Odessa Expedited, der Cousin eines Kollegen Ihres Mannes. Bitte, es ist wirklich eilig.“
Ich warte. Reagieren alle Ehefrauen so? Oder ist das irgendwie lettisch? Aus diesem elenden Winkel stammen viele taffe Weiber. Ich glaube fast, sie denken zu hören.
Dann: „Sie können liebem Ehemann sagen“, sie spuckt die Worte fast aus, oh-oh, „dass er sich selbst kümmern kann um sich. Ich kümmere mich schon um Kind, das ihn ja nicht interessiert, oder, sonst hätte er sich letzte vier Monate mehr als zweimal hier blicken lassen. Das sagen Sie ihm, Herr Anwalt.“
Schnell umdenken. Okay, sie haben sich getrennt und ich bin Anwalt. Also: „Mrs. Shapsko“, ich trete näher an die Tür und senke meine Stimme ein wenig, „der zweite Grund für meinen Besuch ist folgender: wenn sich seine Verletzungen als schwer erweisen sollten oder sogar tödlich, was wir alle nicht hoffen wollen, sind Sie von Rechts wegen Mitbegünstigte an sämtlichen Schadenersatzansprüchen, die wir gegen den Auftraggeber von Odessa Expedited vor Gericht erheben wollen. Darüber sollten wir uns unterhalten, der Status Ihrer Beziehung oder mögliche Eheprobleme gehen mich selbstverständlich nichts an und sind von keinerlei Belang für etwaige Gespräche zwischen uns.“
Das kam doch ziemlich flüssig raus. Jedenfalls scheint sie jetzt tatsächlich nachzudenken.
Ich frage mich, welchen Einfluss diese Entwicklung auf meinen Gesamtplan hat. Ich ergänze: „Aber ich brauche Ihre Einverständniserklärung für mögliche Rechtsstreitigkeiten, da er Sie als diejenige Person angegeben hat, die im Notfall zu kontaktieren ist, und Sie im Moment also die De-facto-Prozessvollmacht besitzen.“
Weiteres Atmen. Ich versuche, im selben Takt wie sie zu atmen. Scheiße. Damit hab ich nicht gerechnet. Das Paar lebt getrennt. Könnte ein größeres Problem sein.
Eine Stimme in mir findet allerdings, dass das eine gute Nachricht ist. Ich würge sie ab, das tut jetzt nichts zur Sache. Jedenfalls beschließe ich, den Plan weiterzuverfolgen.
Ich höre, wie die Kette abgenommen wird, und die Tür geht auf. Mit der langen Nase eine fast schon aristokratische Erscheinung, Sweatshirt und Jeans hin oder her. Tiefgrüne Augen, deren kurzes Blinzeln das unwillkürliche mentale Zusammenzucken vieler Weißer beim Anblick eines Farbigen verrät. Ich kenn diese Reaktion seit meiner Kindheit und nehm sie nicht persönlich.
Iveta fasst sich. „Der Junge schläft …“ Im Blick Bedauern, dass sie geöffnet hat, aber ich habe schon einen Fuß in der Tür.
Mit einem Gesichtsausdruck, der gleichzeitig beruhigend und besorgt wirken soll, trete ich ein, dränge Iveta einen Schritt zurück.
Ich strecke meine rechte Hand aus. „Charles Bartosch. Tut mir leid, ich dachte, Sie wären Ukrainerin“, sage ich auf Englisch.
Sie schüttelt mir die Hand, ihre Hand ist kalt und rau, dabei sieht sie an mir vorbei auf die Straße, macht einen Schritt nach vorn, damit ich wieder zurücktrete, sagt: „Nein, ich …“
Rasch packe ich ihre Hand, biege sie um und drehe ihren Arm nach oben; sie schreit nicht, braves Mädchen, schnappt nur laut nach Luft. Mit einem Tritt schließe ich die Tür, drehe Iveta um, zwinge sie auf die Knie und lege ihr die Beretta quer über den Nacken. Sie hat die Haare mit einem blauen Tuch hochgebunden, reizender Nacken. Ich bemerke ein mittelgroßes Mal knapp unterhalb des Haaransatzes.
„Ganz ruhig. Es ist alles in Ordnung. Keine Angst“, sage ich.
Die Nähe der Frau macht mich einen Moment lang schwindlig, aber diese Art von Gedankenaussetzer hat schon mehr als einen Mann ins Grab gebracht, und ich regle mein emotionales/empathisches Ich sofort wieder runter, schwapp kaltes Wasser drüber.
Sie sagt ein paar Worte auf Lettisch, schätz ich mal – ich verstehe die Sprache nicht –, dann auf Englisch: „Verdammt, was wollen Sie? Wie blöd kann man sein? Ich wusste, Sie sind nicht aus Ukraine, mit diesem SCHEISS Akzent.“
„Da hat man mir schon was anderes gesagt. Aber ich geb zu, dass ich auf Einwanderer in der zweiten, dritten Generation machen wollte.“
„Arschlöcher. Sie, Yakiv, alles Arschlöcher, Kriminelle, was wollen Sie? Sie sind nicht ukrainisch, aus Ukraine kommen keine Schwarzen.“
„Ja, da haben Sie wahrscheinlich recht.“
„Cousin von mir, er kommt in fünf Minuten – wenn er Sie hier sieht, haben Sie großes Problem.“
Fällt eigentlich noch irgendjemand auf dieses Märchen rein?
„Das glaube ich nicht, Mrs. Shapsko. Ich glaube nicht, dass Sie jemanden erwarten. Stimmt’s?“
Sie fängt an zu zittern, das ist nicht gut, auch wenn die Waffe gesichert ist. Ich will nicht, dass ein Unfall passiert, nur weil sie die Flatter kriegt.
Unfälle gibt’s. Ich bin der lebende Beweis.
Ich sage: „Wo ist Ihr Kind, Lady?“
Iveta stöhnt leise. „Nein, nein, Junge ist nicht da. Bitte. Er ist bei Freund. Bitte.“
Ich stupse sie mit der Waffe an. „Ich will niemandem wehtun, ja? Sie haben gerade gesagt, dass der Junge schläft, also erzählen Sie keinen Unsinn. Wo ist er?“
„Nein. Nein.“ Iveta gibt nicht nach. Hält dem Druck der Pistole stand. „Sie sind wegen mir hier, das weiß ich, ich wusste, dass es so kommt, Yakiv hat Sie geschickt, mich umzubringen, verdammter Feigling, weil er es selbst nicht kann. Ich weiß, was passiert. Ich werde mich nicht wehren. Ich werde mich nicht wehren. Bitte.“
Verdammt tapfer, das Mädchen.
„Ich werde niemandem was...