E-Book, Deutsch, 240 Seiten
Lavizzari Somerset
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-7296-2014-8
Verlag: Zytglogge
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 240 Seiten
ISBN: 978-3-7296-2014-8
Verlag: Zytglogge
Format: EPUB
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Alexandr a LavizzariGeb. 1953 in Basel, daselbst Studiumder Ethnologie und Islamwissenschaft.Mutter von drei Kindernundals Diplomatengattin ständig ausserLand, von 1980-2008 u.a. in Kathmandu,Islamabad,Bangkok, Rom.Seit 2011 wohnhaft in England.alexandra1108@bluewin.chhttp://alexandralavizzari.magix.net/publicBei Zytglogge erschienen:1999 ?Ein Sommer?, Novelle2001 ?Gwen John - Rodins kleine Muse?, Roman2007 ?Wenn ich wüsste wohin?, Roman2010 ?Flucht aus dem Irisgarten?, Erzählungen2013 ?Somerset?, Roman
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1
Es begann schon zu dunkeln, als Vera das Städtchen Taunton erreichte und sich bei der Ausfahrt in die Kolonne der Pendler reihte, die von der Arbeit in ihre dörfliche Idylle zurückkehrten. Nadja hatte sie gewarnt. «Taunton ist zwar klein, Mama, aber gerade vor Weihnachten ist der Stossverkehr besonders schlimm; abends dauert es eine Ewigkeit bis nach Southcombe. Schau, dass du vor halb fünf ankommst. Oder eben später, gegen acht.»
Die Uhr auf dem Armaturenbrett zeigte elf nach sechs. Vera hatte sich wieder einmal verplant. Statt zielstrebig von Folkstone nach Taunton zu fahren, wie es ursprünglich ihre Absicht gewesen war, hatte sie unterwegs spontan in Wells Halt gemacht und zu lange in der Kathedrale und im Bischofspalast verweilt. Nun hatte sie die Bescherung: Nach Stunden flotten Fahrens kam sie plötzlich nur noch im Schneckentempo vorwärts. Sie schlich an desolaten Häuserzeilen und Gewerbezentren vorbei über eine Brücke, wo der Verkehr dann eine gute Viertelstunde stillstand. Da man sie im B & B von Southcombe jedoch zu keiner genauen Uhrzeit erwartete, nahm sie es gelassen. Sie summte sogar am Steuer, während sie den grünen Ford vor sich anstarrte, und dachte an knusprigen Fish ’n’ Chips in einem Pub.
Was ihr auf dieser letzten Fahrtstrecke sonst noch alles durch den Kopf ging, konnte sie später nicht mehr sagen, aber eines war sicher: Die sogenannten berühmten Vorahnungen hatte sie nicht. Weder verspürte sie plötzlich ein beengendes Gefühl in der Brust noch hörte sie eine innere Stimme, die sie zur Umkehr mahnte, bevor es zu spät sei. Im Gegenteil: Trotz des Staus war sie zufrieden und, ja, zum ersten Mal seit Roberts Tod sogar wieder zuversichtlicher und neugierig aufs Leben. Jedenfalls konnte weder der Regen noch der Wind ihre Laune an diesem Abend trüben. Wenn der Verkehr stockte, legte sie das Kinn aufs Steuer und betrachtete die Herbstblätter und Plastiktüten, die in der Luft herumwirbelten, und am Himmel die sich aufbauschenden und dehnenden Starwolken, und als die letzten Terrassenhäuser endlich hinter ihr lagen und die Strasse sie durch schwach beleuchtetes Land führte, mit Feldern und Weiden, über denen Nebelbänke schwebten, dachte sie ans wärmende Kaminfeuer, mit dem Pubs um diese Jahreszeit ihre Gäste willkommen heissen. Mit etwas Glück würde sie sogar Mrs. Moore in ihrem B & B mit einem solchen verwöhnen. Ihrer Stimme am Telefon nach zu urteilen, war sie eine Dame älteren Jahrgangs, wahrscheinlich etwas taub, denn sie redete ziemlich laut und in jener absurd hohen Tonlage, die blutjungen oder eben betagten Engländerinnen eigen ist. Ihre Anweisungen hatten auf Vera etwas routiniert gewirkt, doch erwiesen sie sich jetzt als hilfreich; ohne Probleme fand sie die Abzweigung, die beim Postamt von Southcombe in die High Street mündete, und von dort die Mulberry Lane, an deren Nummer 57 sie kurz nach sieben mit einem Seufzer der Erleichterung den Wagen anhielt.
Unter dem ‹Birch Cottage› hatte sie sich ein schmuckes, weiss verkleidetes Häuschen vorgestellt, womöglich mit Rieddach und von Rosenstauden umrankten Fenstern, mit einem Garten voller Birken, woher sonst der Name? Nun war sie verblüfft, ein Backsteinhaus vorzufinden, und zwar in jenem unverkennbaren englischen Stil, in dem im ausgehenden 19. Jahrhundert skurrile Viktorianer ihre Fantasien zu verwirklichen pflegten. Düster stand das Haus am Ende eines Kieswegs, eingerahmt von Buchen. Es hatte eindeutig schon bessere Zeiten erlebt. Im Licht der Gartenleuchte, die bei Veras Betreten des Grundstücks automatisch anging, erkannte sie ein paar Risse im Gemäuer, und die Eingangstür mitsamt Rahmen hätte dringend einer neuer Malschicht bedurft. Aber mit seinen Erkern, Türmchen, Giebelfenstern und Bündelpfeilern wirkte das Haus wiederum verspielt und lebendig. Licht brannte im Erdgeschoss, und als Vera klingelte, ertönte aus dem Innern ein fröhliches «Come in», gefolgt von einem Japsen und Hecheln.
Zwei Terriers sprangen an ihr hoch, die Mrs. Moore alsgleich mit einem barschen «Stop it» wegjagte, während sie ihrem Gast den Koffer abnahm und durch den Korridor vorausging. «Sam und Maisy sind noch jung und etwas unerzogen. Ich hoffe, Sie haben nichts gegen Hunde, sonst sperre ich sie bis morgen in der Garage ein.»
«Aber nein, das ist nicht nötig. Ich selbst habe zwar keine Hunde, doch sie stören mich nicht im Geringsten.»
Mrs. Moore nickte wohlwollend und führte Vera ins Wohnzimmer. Sie war jünger, als Vera geschätzt hatte, knappe fünfzig vielleicht, und auffallend hochgewachsen und mager. Vera fand jedoch, dass ihre Eleganz nicht so recht in diesen hintersten Winkel von Somerset passte. Oder täuschte sie sich? Von den Samtpantoffeln bis zum Seidenfoulard war Mrs. Moore ganz in Weinrot gekleidet, und über den sonst ungeschminkten Augen hatte sie einen entsprechenden Lidschatten aufgetragen. Ein grosser, in Gold gefasster Feueropal zog Veras Aufmerksamkeit auf sich, und dabei fiel ihr Blick auf den Ehering, der aus zwei aneindergeschweissten Ringen bestand. Mrs. Moore ist also verwitwet, dachte sie, genau wie ich.
Im Vergleich kam sich Vera in ihren Jeans ziemlich schäbig vor, auch der Pullover und die Sportschuhe waren nicht mehr die neusten, doch Mrs. Moore schien dies alles nicht zu beachten. Sie kramte in einer Schublade nach Prospekten über die Sehenswürdigkeiten der Gegend und empfahl ihr eine Reihe von Restaurants und Pubs, die entweder zu Fuss oder mit einer kurzen Fahrt zu erreichen waren. Obwohl kein Feuer im Kamin knisterte, strahlte das Zimmer mit seinen Beige- und Rosatönen Wärme aus. Porzellanfigürchen und sonstige Nippes überstellten die Fenstersimse, und auf einer Kommode, zwischen Familienfotos und Vasen, reihten sich die ersten Weihnachtskarten. Aus einem Nebenzimmer drangen Gelächter und Dialoge einer Sitcom herüber; Vera hatte Mrs. Moore offenbar beim Fernsehen unterbrochen. Sie wollte sich schon dafür entschuldigen, als Mrs. Moore ihr mit der Frage zuvorkam, ob sie gut gereist sei.
«Ja, danke. Drei Tage am Steuer sind zwar recht lang, und der Linksverkehr ist für uns ‹Continentals› gewöhnungsbedürftig, aber alles in allem habe ich die Reise gut überstanden.»
«Das freut mich. Soviel ich verstanden habe, sind Sie aber nicht zum ersten Mal hier, nicht wahr?»
«Nein, ich bin schon einmal in Southcombe gewesen. Vor anderthalb Jahren etwa. Damals wohnte ich jedoch bei meiner Tochter; ihr Haus ist das letzte von Church Street, gleich neben dem Friedhof.»
«Ja, ich kenne das Haus. Ihre Tochter ist übrigens persönlich vorbeigekommen, um Ihr Zimmer zu reservieren. Eine sehr nette junge Frau.»
«Sie ist es auch, die mir von Station House erzählt hat. Und zwar in den höchsten Tönen.»
«Station House, ach ja. Sie werden sehen, es wird Ihnen gefallen. Bis jetzt ist es allen meinen Mietern so ergangen.»
«Kann ich es morgen schon beziehen?»
«Aber natürlich, so haben wir es doch vereinbart. Letzte Woche habe ich Heizung, Kochherd und Waschmaschine kontrollieren lassen, und gestern hat meine Putzfrau geputzt. Lucy ist eine Perle. Sie ist sehr gefragt im Dorf, aber falls Sie ihre Dienste in Anspruch nehmen möchten, könnte ich bestimmt ein Wort für Sie einlegen.»
«Das ist sehr lieb von Ihnen, aber ich werde erst mal sehen, ob ich nicht auch allein zurechtkomme.»
«Wie Sie wollen, Sie können ja immer noch zu einem späteren Zeitpunkt auf mein Angebot zurückkommen. Ich dachte, wir könnten morgen so gegen zehn hingehen, passt Ihnen das? Den Mietvertrag können wir dann vor Ort durchsehen.»
«Wunderbar. Danach bleibt genügend Zeit, damit ich im Dorf das Nötigste für die kommenden Tage einkaufen kann.»
Nachdem Mrs. Moore Vera den Zimmerschlüssel ausgehändigt und ihre Wünsche fürs Frühstück entgegengenommen hatte, bezog Vera ihr Zimmer und legte sich nach einer oberflächlichen Inspektion des edlen, von den Fliesen bis zum Badetuch mintgrünen Badzimmers bäuchlings aufs Bett und schickte Nadja eine SMS: «Eben angekommen, B & B bestens. Sehen uns morgen.» Am liebsten wäre sie gleich liegen geblieben, doch sie war hungrig und hatte das Bedürfnis, sich nach der Fahrt die Beine zu vertreten.
Vor anderthalb Jahren hatte Vera ein verlängertes Wochenende mit Robert hier verbracht, aber da war er schon sehr krank gewesen und hatte kaum mehr Kraft für Spaziergänge gehabt. Sie hatten sich hauptsächlich in Nadjas und Toms Haus aufgehalten, und wenn die Temperatur es erlaubte, gelegentlich auch im Garten; weiter als bis zum Ende des Friedhofs waren sie nie gekommen. So hatte Vera von Southcombe nur gerade ein paar Strassen und den Coop-Laden gesehen, in den sie mit Nadja manchmal einkaufen ging.
Eine kalte Brise blies ihr entgegen, als sie das B & B verliess. Die Strassen waren menschenleer, nur vor dem ‹Kings Arms› standen ein paar Jugendliche, schlotternd und still in ihren...




