E-Book, Deutsch, 380 Seiten
Lavizzari Vesals Vermächtnis Roman
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-7296-2042-1
Verlag: Zytglogge
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 380 Seiten
ISBN: 978-3-7296-2042-1
Verlag: Zytglogge
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Alexandra Lavizzari Geb. 1953 in Basel, daselbst Studium der Ethnologie und Islamwissenschaft. Mutter von drei Kindern und als Diplomatengattin ständig ausser Land, von 1980-2008 u.a. in Kathmandu, Islamabad, Bangkok, Rom. Seit 2011 wohnhaft in England.
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Venedig
In den botteghini bei der Rialtobrücke begann das Gerücht umzugehen, Girolamo Mazzi sei zurück. Einige behaupteten, aus dem Totenreich, andere, aus dem Gefängnis, was ungefähr auf dasselbe, schwer zu glaubende Wunder hinauslief.
Ein Tuchhändler wollte den Goldschmied jedoch eines Abends tatsächlich beim Besteigen der Fähre auf dem Canal Grande beobachtet und später ein Kürschner ihn im Menschengewühl des Ghettos gestreift haben, jedes Mal in einen schwarzen Karnevalsmantel gehüllt und mit der Larve über den Augen; aber untrüglich er. Schließlich sichtete ihn auch seine Mutter am frühen Morgen des dreiundzwanzigsten Oktobers in der Nähe von San Zanipolo, eben in der calle, wo ihn die berüchtigten Signori della Notte zwei Jahre zuvor in einer buchstäblichen Nacht-und-Nebel-Aktion aus dem Bett gezerrt hatten, um ihn den Inquisitoren auszuliefern.
Bianca Felicin traute ihren Augen nicht. Zuerst schrieb sie die Vision eines Schattens, der wenige Schritte vor ihr aus dem Nichts ins dämmernde Herbstlicht trat, dem Nebelrest zu, der noch in den Gassen hing. Auch die Ausdünstungen der Kräuter in ihrem Korb machte sie für ihre verwirrten Sinne verantwortlich, rief aber doch auf gut Glück «Giò, Giò!», als der Schatten sich von ihr fortzubewegen begann, und wunderte sich kaum, dass ihre Rufe unerwidert in den Gassen hallten. Der Schatten, dünn, behände, lockte sie durch ein Mäander von campi, Stiegen und Brücken; immer wieder verlor sie ihn und erspähte ihn an unerwarteter Stelle wieder.
Eine ganze Weile trieb er dieses Versteckspiel mit ihr, bis sie sich mit einem Mal allein unter Ratten am Ufer des Rio dei Mendicanti fand, schweißgebadet und beschämt, einem Traumgebilde bis an den sumpfigen Rand der Stadt gefolgt zu sein. Je länger sie aber aufs Wasser starrte, das jetzt in der aufgehenden Sonne zu glitzern begann, als erwachte darin eine Brut winziger Fische zum Leben, desto sicherer wurde sie, dass die Vision sie nicht getrügt hatte; diesmal nicht. Deutlich hatte sie unter der Augenlarve das Profil ihres Sohnes erkannt, die auffallend gewölbte Stirn, die spitze Nase, und unverkennbar war doch seine Gangart, federnd wie die eines Jungen, obwohl er die Dreißig überschritten hatte. Ja, wenn die Mutter ihr eigenes Fleisch und Blut nicht erkennt, auch uneheliches, wer dann?
Dass dieses Kind, ihr einziges, sich damals in der Nacht seiner Verhaftung auf dem Weg zum Dogenpalast von den Signori jäh losgerissen und vor deren Augen kopfüber in den Kanal gesprungen war, hatte unter Bianca Felicins Nachbarn für Heiterkeit gesorgt. Man hatte den Goldschmied für diesen Streich bewundert, und sie, die Mutter, zu einem solch mutigen Sohn beglückwünscht.
Bianca aber hatte bei der Kunde sogleich ihr Trauerkleid aus der Truhe geholt. Nur zu gut kannte sie die Abscheu des Sohnes vor dem übel riechenden Wasser Venedigs, und noch vertrauter war ihr seine Angst, eine weibische fast, vor körperlichem Schmerz. Er musste gewusst haben, ihr Giò, dass der nächtliche Gang ins Verließ und die folgenden, über Tage sich hinschleppenden Befragungen bloß der Auftakt zur Tortur bedeutet hätten. Für einen, der nie schwimmen gelernt hatte, war der Sprung ins Wasser ein Akt der Verzweiflung gewesen und nicht des Mutes. Hatten ihr die Monate, die auf jene unselige Nacht gefolgt waren, nicht Recht gegeben? Wie bei einer Wunde war das Wasser des Kanals über dem Flüchtigen vernarbt, und das Strahlen in den Gesichtern der Nachbarn, als sie anfangs noch von seiner Heldentat sprachen, entsprechend schnell erloschen. Doch nun war sie es, die Mutter, die strahlte: Das Wasser hatte den Sohn nicht behalten.
In ihr Mietszimmer an der Calle del Paradiso zurückgekehrt, riss sich Bianca Felicin als erstes das schwarze Tuch vom Leib und schlüpfte in ein helleres Kattunkleid mit engem Mieder und einer Taille, deren Höhe vor noch nicht so langer Zeit Mode gewesen war. Sie war fülliger geworden in den letzten zwei Jahren, die Brüste quollen über, an den Oberarmen spannten die Ärmel, aber es störte sie nicht. Seit der letzte Galan sie wegen einer jungen Römerin sitzengelassen hatte, wollte sie niemandem mehr gefallen, nicht einmal sich selbst.
Das Tragen von Schwarzem hatte ihr behagt, weil sie ihren Körper darunter zum Verschwinden bringen konnte, all die Schrunden, Wulste und Runzeln und an den Beinen das Geäder, das ihre Haut umflocht wie die Kanäle Venedigs. Jetzt aber fürchtete sie, dass die Trauer um einen Lebenden Unglück bringen würde. Womöglich hatte ihr Sohn nur das Kleid gemieden und nicht sie; hatte in ihm den Tod erkannt, dem er, einmal entronnen, kein zweites Schnippchen würde schlagen können. Hätte ich Grau oder Braun getragen, wäre es vielleicht anders gekommen, überlegte sie, während sie das Mieder schnürte; aber noch ist nicht alles verloren. Venedig ist klein, jeder begegnet hier jedem, es ist nur eine Frage der Zeit – und dieser könnte, wer weiß, mit ein paar Münzen sogar nachgeholfen werden.
Die Hoffnung stimmte Bianca Felicin heiter. Summend schüttete sie die Kräuter, die sie in der Früh in den Lagunenfeldern gesammelt hatte, auf dem Tisch aus, säuberte sie und hing sie in Büscheln an einer Schnur zum Trocknen aus. Bei der Sache war sie nicht. Sie vergaß, die Luke zu schließen, während sie ihre Infusionen kochte, ließ die verdächtigen Aromen, den süßlichen der Valeriana und den herben des Johanniskrauts, in die calle hinausströmen, ohne zu bedenken, dass ihr diese Düfte eine Denunziation für Hexerei einbringen konnten, sollten sie in die falsche Nase geraten.
Und als vom Markusturm die Nona schlug und Fra Baldino anklopfte, begrüßte sie ihn auf dem Flur so laut und herzlich, dass der Geistliche sie unwirsch ins Zimmer zurückstieß und, die Larve noch über den Augen, hinter verriegelter Tür des Leichtsinns schalt.
«Bianca, cretina, wo bleibt dein Verstand? Wenn man mich hier findet, sind wir beide des Todes! Und um Himmels Willen schließe diese Luke! Weder sehen noch hören darf man mich hier.»
«Ach, ja, ich vergaß. Aber Fra Baldino, seid mir bitte nicht böse. Ich bin heute ganz durcheinander, denn etwas Wunderbares ist geschehen. Mein Sohn, mein Giò, ich habe … er …»
«Nun, was ist mit ihm?»
«Er lebt! Und zwar hier in Venedig, ich habe ihn heute Morgen mit eigenen Augen gesehen.»
Der Franziskaner griff achselzuckend zum nächsten Stuhl, nahm endlich die Larve ab und setzte sich gegenüber der Kräutermischerin an den Tisch.
«Ihr glaubt mir nicht. Aber ich schwöre es, ich habe Giò gesehen.»
«Schon gut, schon gut. Schwören brauchst du deswegen nicht. Doch verlieren wir keine Zeit. Deine Geschichte kannst du mir ein anderes Mal erzählen. Erledigen wir das Geschäft. – Da, nimm.» Mit diesen Worten zog Fra Baldino einen Stofffetzen unter der Kutte hervor, wickelte ihn behutsam auf und schob Bianca den Inhalt zu.
«Zwölf Hostien, wie ausgemacht. Sind sie auch gesegnet?»
«Klar, wie immer: Hoc est enim corpus meum. Soll ich die Formel vor dir nochmals wiederholen, damit du mir vertraust?»
Bianca wackelte sanft mit dem Kopf. «Nein, das ist nicht nötig, ich vertraue Euch. Wir kennen uns schließlich seit Jahren.»
Fra Baldino grinste: «Deine Vertrauensseligkeit ist rührend. Wird dir nie bange beim Gedanken, dass dein Ruf von meinen Segenssprüchen abhängt?»
«Nein, solange der Eure von meinem Schweigen abhängt, brauche ich nichts zu fürchten. Wir sitzen im selben Boot.»
«Aber mit dem Segen ist es anders. Ich kann immer behaupten, deine Kräuter seien zur falschen Zeit gepflückt worden oder deren Wirkstoffe durch zu lange Mazeration vernichtet worden. Wie könntest du nachweisen, dass ich dich betrüge?»
«Ihr betrügt mich nicht, denn meine Zaubertrunke haben noch nie versagt, oder fast nie.»
«Trotzdem solltest du dich vorsehen. Deinesgleichen lebt gefährlich. Die Inquisitoren sind wieder wie besessen hinter euch her.»
«Ich weiß. Der Papst ist mild, dafür nehmen die Dominikaner ihre Rolle umso ernster. Am Ende der calle haben sie letzte Woche die Deutsche geschnappt, und Isabella Zeno, die doch nur bei schwierigen Geburten half, soll unterwegs nach Ferrara sein, verbannt. Doch ich bin schlau. Ich werde weder im Gefängnis landen noch in die Verbannung geschickt werden. Und schon gar nicht unter den schadenfreudigen Blicken des popolino zu Tode lodern.»
«Sei dir deiner Sache nicht zu sicher. Wenn du die Luke, wie eben, offen lässt, wird bald jeder in der calle wissen, was du treibst.»
«Das Kochen von Kräutern ist an sich nicht gesetzwidrig. Ich kann mich herausreden, es wäre nicht das erste Mal. Ich brauche nur im Bett zu liegen und ein bisschen zu zittern, als schüttelte mich das Fieber, dann machen die feinen Gesetzeshüter sogleich kehrt. Wer will sich schon von einer armen herbera anstecken lassen?»
«Wie du meinst. Aber wenn es dir an den Kragen geht, komme ich als Nächster dran.»
«Man würde hier vergeblich nach Beweisen suchen. Ihr wisst doch: Sobald Ihr zur Tür hinaus seid, zermörsere ich die Hostien und mische sie unter die Kräuter. Das schwöre ich Euch auf dem Haupt meines wiedergefundenen Sohns!»
«Schon wieder schwörst du. Lass das und zahle mir lieber meinen Lohn.»
Fra Baldino verweilte nicht gern in Biancas Zimmer. Es roch nach Weiberschweiß und hin und wieder, wie heute, nach dem Weiberblut von den Lappen, die die Felicin über Nacht in einem Zuber voll...




