E-Book, Deutsch, 216 Seiten
Lavizzari Wenn ich wüsste wohin
1., Aufl
ISBN: 978-3-7296-2005-6
Verlag: Zytglogge
Format: EPUB
Kopierschutz: Adobe DRM (»Systemvoraussetzungen)
Roman
E-Book, Deutsch, 216 Seiten
ISBN: 978-3-7296-2005-6
Verlag: Zytglogge
Format: EPUB
Kopierschutz: Adobe DRM (»Systemvoraussetzungen)
Geb. 1953 in Basel, daselbst Studium der Ethnologie und Islamwissenschaft. Mutter von drei Kindern und als Diplomatengattin ständig ausser Land, von 1980-2008 u.a. in Kathmandu, Islamabad, Bangkok, Rom. Seit 2011 wohnhaft in England. www.facebook.com/alexandra.lavizzari@AlexaZari BEI ZYTGLOGGE ERSCHIENEN: 2015 ?Vesals Vermächtnis?, Roman; 2013 ?Somerset?, Roman; 2010 ?Flucht aus dem Irisgarten?, Erzählungen; 2007 ?Wenn ich wüsste wohin?, Roman; 2001 ?Gwen John - Rodins kleine Muse?, Roman; 1999 ?Ein Sommer?, Novelle
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Love is pleasing, love is teasing,
love’s not an evil thing.
Bob Dylan
Der 8. August: Ich habe wochenlang auf ihn gewartet, ihn herbeigesehnt und gefürchtet, und nun ist er da, ein harmloser Freitag mit blendend weissem Licht in den Strassen, hochsommerlich, wie es sich zu dieser Jahreszeit gehört, und gar nicht irgendwie besonders. Ich kaufe mir im Kaufhaus ‹Loeb› eine Sonnenbrille und drücke das Restgeld am Ausgang einem Bettler in die Hand, lächle ihn sogar an dabei, möchte ihn etwas aufmuntern, weil er so niedergeschlagen dreinschaut, genau wie sein Schäferhund. Dann überquere ich den Platz bis zum Bahnhof und setze mich mit einem exotischen Fruchtsaft an den hintersten Tisch des ‹Tibits›. Solche Säfte trinke ich sonst nie, aber von nun an werde ich ohnehin lauter ungewohnte Dinge tun.
Johannes hat gesagt, dass er um achtzehn Uhr im Bahnhof sein werde.
Ich bin zu früh. Wie immer. Meist schlendere ich durch die Strassen und schaue mir die Läden an oder gehe in eine Buchhandlung, wenn ich sehr früh dran bin, doch heute habe ich nicht die Ruhe, um die Zeit totzuschlagen. Ich rede mir ein, dass ich mich vor unserer Begegnung sammeln müsse, dass ich nachdenken müsse, also sitze ich still vor meinem Fruchtdrink und zwinge mich dazu. Viel will mir aber nicht einfallen an diesem Tag; die Leute, die ich hinter der Scheibe vorbeihasten sehe, lenken mich ab. Sie tragen Koffer und Taschen und haben einen gehetzten Ausdruck im Gesicht; manche werfen verdrossene Blicke um sich, und ich male mir aus, dass sie den Zug verpassen und damit die Chance ihres Lebens. Eine Karriere oder eine Liebe, die nicht zustande kommen wird. Ich starre die vornehme Menükarte auf dem Tisch an und bereue, kein Buch dabeizuhaben.
Die Minuten schleichen, und weil ich nichts mit mir anzufangen weiss, mache ich in meiner Handtasche Ordnung. Ich lege alte Busbillette, die Quittung der Sonnenbrille, eine Rosskastanie und den Prospekt eines neu eröffneten Fitnesscenters in den Aschenbecher und drücke ein Halsbonbon, an dem Fusseln kleben, oben drauf. Lindas Postkarte aus Barcelona behalte ich. Ich bewahre alle Briefe und Karten meiner Kinder in einer Schuhschachtel auf. Warum diese Karte noch in meiner Tasche ist, weiss ich nicht, denn Linda ist seit über einem Monat von der Maturreise zurück. Vielleicht ist es wegen der Herzchen. Sie hat welche hinter die Grüsse und anstelle des i-Pünktchens ihres Namens gemalt, wie früher, als sie noch ein Kind war. Ich drehe die Karte um, auf der Gaudís bunte Eidechse abgebildet ist. Der Parco Güell: Linda hat bei ihrer Rückkehr davon geschwärmt und uns gleich mit mehreren Nachahmungen des Reptils beglückt. Eine ziert unseren Fernseher, eine andere die Kommode im Windfang, und die in Lindas Zimmer möchte ich lieber nicht zählen.
Langsam wird das Kribbeln im Bauch unerträglich, ich schaue immer wieder auf die Uhr, und nach einer halben Stunde fange ich an, auf meinem Stuhl herumzurutschen, als müsste ich aufs Klo. Der Gedanke, dass Johannes es sich anders überlegt haben könnte, beginnt mich zu beunruhigen. Es könnte ja alles ein Missverständnis sein, ein lächerlicher Reinfall. Aber nein, denn plötzlich steht Johannes hinter mir und sagt ruhig:
«Da bin ich. Ich hoffe, du hast nicht zu lange warten müssen.»
«Nein, nein», lüge ich, «ich bin auch eben erst gekommen.»
Seine Krawatte sticht mir unangenehm ins Auge. Etwas wild, dunkle Striche auf rotem Hintergrund und verschiedenfarbene Kleckse, ähnlich wie die Bilder von Miró. Und er selbst, Johannes? Müde sieht er aus, oder nein, eher nervös. Ich bekomme rasendes Herzklopfen, während ich im Stehen mein Glas austrinke, und meine Knie fangen an zu zittern.
«Gehen wir?», fragt er und deutet mit einem Kopfnicken zum Ausgang. «Ich habe mein Auto in der Tiefgarage des Bahnhofs parkiert.»
Er besteht darauf, meinen Koffer zu tragen, ist erstaunt wegen des Gewichts. Was ich denn alles drin habe, will er wissen, mein Koffer sei so schwer, ob ich nach diesem Wochenende noch anderswohin fahre.
Ich lache nur und gehe neben ihm her, ohne ihn zu berühren. Ich getraue mich nicht, mich bei ihm einzuhaken oder seine freie Hand zu nehmen, sondern schaue ihn nur heimlich von der Seite an und versuche, die aufkeimende Frage zu verscheuchen, was zum Teufel mich zu diesem Mann hinziehen mag, dass ich bereit bin, so viel für ihn aufs Spiel zu setzen. Sein Beruf ist mir fremd, er ist Vizedirektor einer Berner Versicherung, und die Region, in der er verwurzelt ist, das Entlebuch, ebenfalls. Er trägt ein weisses Hemd zu seinem massgeschneiderten Anzug und hat erst noch einen Siegelring am kleinen Finger. Ich hasse Siegelringe, und für weisse Hemden kann ich mich auch nicht erwärmen. Eigentlich gefällt mir an ihm heute nur das After Shave, ein herber Meerduft, der Erinnerungen an Strandferien weckt. Bin ich verrückt? Oder hat mich bereits die Midlifecrisis ereilt, dass ich, Sarah T., neunundvierzig und gar nicht unglücklich verheiratet, mit einem andern Mann für ein Wochenende verreise?
Wir fahren mit dem Lift in die Garage hinunter und suchen Johannes’ Wagen in den verschiedenen Untergeschossen. Er erinnert sich nicht mehr an die Parknummer, verwechselt C mit E, dann links mit rechts, überhaupt wirt er zerstreut, und so irren wir zwischen den Autos herum, bis wir fast die Orientierung verlieren.
«Dort, ich wusste doch, dass ich im E parkiert habe.»
Er will mir die Wagentür öffnen, aber ich komme ihm zuvor. Es missfällt ihm. Wie versteinert bleibt er vor mir stehen und hebt die Hände, als wollte er sagen, bitte, wenn du meine Hilfe verschmähst, ich zwinge dich nicht.
«Ich bin nicht gewohnt, dass mir jemand die Wagentür öffnet», sage ich etwas später zu meiner Verteidigung, «mein Mann tut das nie.»
Und weil meine Stimme in diesem -2ugenblick zu versagen droht, gebe ich noch schnell ein paar feministische Sprüche zum Besten. Daraufhin schweigen wir ziemlich lange. Das Schweigen wird peinlich, ich habe bald das Gefühl, dass auch er beginnt, sich über unser Wochenende Fragen zu stellen. Vielleicht denkt er, dass es nicht gut gehen wird mit einer Frau, die Wagentüren lieber selber aufmacht.
Vor Basel nehme ich die Landkarte aus dem Schliessfach und breite sie umständlich auf meinem Schoss aus. Landkarten sind immer zu gross, und diese besonders. Ganz Deutschland und Teile der Schweiz und Dänemarks, jedes Kaff, jedes Flüsslein, jede Bahnlinie sind darauf verzeichnet.
«Wohin entführst du mich?», frage ic nach einer Weile. «Nach Berlin? Das wäre schön, dort war ich noch nie.»
«In zwei Tagen willst du da hoch und wieder zurückfahren?»
«Ich mache nur Spass. Am Telefon hast du vom Schwarzwald gesprochen. Ist mir auch recht.»
«Nein, eher von der Rheingegend. Ein kleines Dorf an der Weinstrasse, das wird dir bestimmt gefallen.»
Er legt zaghaft die Hand auf mein Knie und streichelt es, während er spricht, zieht sie aber gleich wieder zurück, weil er den Gang wechseln muss.
Woher will Johannes wissen, dass ich süddeutsche Dörfer mag? Und noch dringlicher plagt mich die Frage, ob er wohl mit andern Frauen ein Wochenende dort verbracht haben mag. Ob das gar eine Gewohnheit von ihm ist, mit Frauen nach Deutschland zu verschwinden und die eigene in einem bestimmten Zimmer des Hotels ‹Adler› oder ‹Goldener Löwe› zu betrügen? Es gibt doch solche Typen mit fixen Ideen. Und wenn ich es eben mit so einem zu tun habe? Wenn ich nur eine von vielen bin? Die Augustfrau zum Beispiel. Das habe ich mir vorher nicht überlegt. Ich kenne Johannes erst seit ein paar Wochen, und die paar Male, die wir uns gesehen haben, kann ich an einer Hand abzählen. Das erste Mal wars in der Apotheke, als wir in der Warteschlange ins Gespräch kamen, und die folgenden Male in einer Bar, immer in einer andern. Einmal nur haben wir zusammen einen Spaziergang durch die Altstadt gemacht, und da hat er mich hinter dem Münster auf die Haare geküsst und gesagt, dass es ihm leidtue, wenn er sich diese Freiheit nehme, aber er könne nicht anders, er – nein, von Liebe hat er nichts gesagt. Ich übrigens auch nicht. Ein einziges Mal nur hat er mich zum Abendessen eingeladen, ins feinste Lokal der Stadt, etwas Bescheideneres komme für mich nicht in Frage, meinte er, ausserdem sei es, wie er mir während der Vorspeise in konspirativem Ton verriet, sein Lieblingsrestaurant. Ich habe geschwiegen und ihm beim Auslöffeln seiner Hummersuppe zugeschaut. Die feierliche Langsamkeit seiner Gesten irritierte mich, ich habe unwillkürlich an Mischa denken müssen, der sein Essen jeweils achtlos hinunterschlingt und mir deshalb immer mindestens einen Gang voraus ist. Ein Kompromiss zwischen den beiden wäre ideal.
Das Wochenende ist meine Idee gewesen. Sie kam mir beim zweiten Glas Wein aus einer übermütigen Laune heraus, etwas voreilig, denke ich jetzt, denn ich weiss so wenig von diesem Mann, nicht einmal, wie alt er ist und waser gerne zum Frühstück...




