E-Book, Deutsch, 352 Seiten
Laymon Die Familie
1. Auflage 2013
ISBN: 978-3-641-08749-4
Verlag: Heyne
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 352 Seiten
ISBN: 978-3-641-08749-4
Verlag: Heyne
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Über einem Höhlenlabyrinth liegt das Mordock Cave Hotel, bei Touristen sehr beliebt. Ein Familienbetrieb, geführt von Vater und Sohn Mordock. Beide legen Wert auf ihre Traditionen: Zimmer 115 ist stets für die attraktiveren Gäste reserviert. Nach einem Stromausfall wird die Mordock-Höhle für eine Touristengruppe zur Falle. Es ist dunkel. Es gibt keinen Ausweg. Und bald merken die Eingesperrten, dass in der Finsternis jemand lauert. Die Mordocks – und noch etwas anderes. Etwas, das Blut riecht. Etwas, das Fleisch will ...
Richard Laymon wurde 1947 in Chicago geboren und studierte in Kalifornien englische Literatur. Er arbeitete als Lehrer, Bibliothekar und Zeitschriftenredakteur, bevor er sich ganz dem Schreiben widmete und zu einem der bestverkauften Spannungsautoren aller Zeiten wurde. 2001 gestorben, gilt Laymon heute in den USA und Großbritannien als Horror-Kultautor, der von Schriftstellerkollegen wie Stephen King und Dean Koontz hoch geschätzt wird.
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1
Darcy Raines, die mit dem Rücken zur Gruppe am Bug stand, packte eine aus der Höhlenwand herausragende Felszacke und hielt das Boot an. Ohne loszulassen, drehte sie sich zur Seite.
Kyle Mordock starrte zu ihr hinauf. Die erste Sitzbank des Boots war frei. Er saß auf der zweiten, neben einem jungen Paar, das sich an den Händen hielt. Sein Platz.
Jeden Tag, seit sie vor zwei Wochen begonnen hatte, als Führerin in der Höhle zu arbeiten, war der Junge zu mindestens einer Tour aufgetaucht. Es gab noch andere Führer, doch er ging nie bei ihnen mit, nur bei Darcy. Er blieb stets in ihrer Nähe und schaffte es zumeist, denselben Sitz zu ergattern, den gleich hinter ihr, den mit dem besten Ausblick – nicht auf die Höhle, sondern auf Darcy. Er redete kaum. Er beobachtete sie einfach mit seinen winzigen wilden Augen.
Jetzt glotzte er ihren Hintern an. So wie Darcy dastand, zur Seite gedreht und einen Fuß auf den Bug gestützt, spannte sich ihre Hose eng über den Pobacken. Sie konnte Kyles Blick spüren.
Ein fünfzehnjähriger Lustmolch.
Auch wenn er der Sohn des Chefs ist, dachte sie, ich muss etwas gegen diesen Blödsinn unternehmen, sonst treibt er mich noch in den Wahnsinn.
Tom hielt das zweite Boot hinter Darcys an und nickte ihr zu, damit sie begann.
»Endstation, Leute«, sagte sie. »Alle aussteigen.«
Es erklang Gemurmel und leises Lachen in den Booten. Einige Leute sahen sich um, als wollten sie ihre Anweisung befolgen, doch dann verstanden auch sie den Scherz und lachten noch lauter als die anderen.
»Nach Ihnen«, rief ein Mann aus dem zweiten Boot.
»Das Wasser steht im Lake of Charon zu dieser Jahreszeit nur ungefähr hüfthoch, aber im Frühling steigt es durch das Versickern von Schmelzwasser und Regen deutlich an. Trotzdem kann ich ein Bad nicht empfehlen. Das Wasser ist ungefähr zehn Grad kalt.«
Darcy warf Kyle einen Blick zu. Er sah ihr ins Gesicht. Sie wandte sich ab und nickte zur Steinmauer vor dem Boot.
»Diese Trennwand«, sagte sie, »markiert das Ende des öffentlich zugänglichen Teils der Höhle. Die Mauer wurde 1923 von Ely Mordock gebaut. Ursprünglich konnte man die Höhle auf ihrer ganzen Länge erkunden – mehr als eine Meile. Etliche Jahre führte Ely Gruppen durch den natürlichen Zugang im steilen Berghang nahe der östlichen Grenze seines Grundstücks in die Höhle. Es war eine schwierige ganztägige Wanderung und nichts für schwache Nerven. Damals gab es weder den Weg noch die Beleuchtung. Ely stellte Wathosen, Lunchpakete und Fackeln zur Verfügung.
Doch er träumte davon, die Wunder der Höhle der Allgemeinheit zugänglich zu machen, nicht nur ein paar Hartgesottenen, deshalb begann er 1921 mit dem Bau der Aufzüge. Die Schächte wurden fünfundvierzig Meter tief in den Boden getrieben, um an dem ehemals hinteren Ende der Höhle einen Zugang zu schaffen. Als die Aufzüge fertig waren, wurde damit begonnen, einen Gehweg zu bauen und Beleuchtung zu installieren.
Dann kam es zu der Tragödie. Am 12. Juni 1923 wanderten Ely und seine Frau Elizabeth durch einen Abschnitt irgendwo zwischen hier und dem natürlichen Zugang, als sie ausrutschte und in eine tiefe Spalte fiel.«
»Großer Gott«, stöhnte eine ältere Frau.
»Ely ließ sich mit einem Seil hinab, doch die Spalte, in die seine Frau gefallen war, schien bodenlos zu sein, und er musste alle Hoffnung aufgeben, sie zu retten … oder ihren Leichnam zu bergen.
Er war gramgebeugt und fest entschlossen, zu verhindern, dass die Spalte weitere Todesopfer forderte. Also verschloss er den natürlichen Zugang und baute mit der Steinmauer eine dauerhafte Absperrung, damit niemand mehr die gefährliche Osthälfte der Höhle betreten konnte. Faktisch wurde damit dieser ganze Teil zur Gruft von Elizabeth Mordock.«
»Das ist schon über sechzig Jahre her«, rief ein Mann aus dem zweiten Boot. »Gibt es keine Pläne, diesen Bereich wieder zu öffnen?«
Darcy schüttelte den Kopf. »In Elys Testament ist festgelegt, dass die Mauer niemals eingerissen werden darf. Seine Nachkommen haben beschlossen, diesen Wunsch zu respektieren.«
»Kommt einem wie eine Vergeudung vor«, sagte der Mann.
Ein kräftiger Jugendlicher in Darcys Boot hob die Hand, als wäre er in der Schule. Sie rief ihn auf. »Wie wirkt sich die Mauer auf den Fluss aus?«
»Gute Frage. Die Mauer bremst den natürlichen Lauf des Flusses Styx. Ehe sie gebaut wurde, gab es keinen Lake of Charon.«
»Es ist also eine Art Damm«, sagte der Junge.
»Genau. Der Fluss war vorher in diesem Teil der Höhle nur ein paar Zentimeter tief, und die Leute konnten hier herumlaufen, statt mit dem Boot zu fahren. Unter Wasser sind sogar noch Teile des ursprünglichen Gehwegs erhalten.«
»Wie kommt es, dass nicht die ganze Höhle überflutet wird?«
»Ely war so schlau, den Durchgang nicht komplett zu verschließen. Er hat am Fuß der Mauer eine Öffnung gelassen, durch die das Wasser abfließen kann. Noch Fragen, bevor wir umdrehen?«
»Ich habe eine«, sagte eine junge Frau zwei Reihen hinter dem Jungen. »Wenn die Höhle so abgeschlossen ist, wo kommt dann die Luft her?«
»Ursprünglich gab es drei Aufzüge zur Oberfläche. Nachdem Ely den Weg zum natürlichen Zugang abgeschnitten hatte, wurde einer davon zu einem Lüftungsschacht umgebaut. Von oben wird frische Luft hereingeblasen, und das hat den zusätzlichen Vorteil, dass im Sommer die Temperatur in der Höhle steigt. Einige von Ihnen empfinden es vielleicht trotzdem als ziemlich kühl, aber wenn es die warme Luft aus dem Schacht nicht gäbe, herrschten hier nur zehn Grad, der Kälte des Wassers entsprechend. Durch die Belüftung steigt die Temperatur auf ungefähr fünfzehn Grad.
Wenn es keine Fragen mehr gibt, kehren wir jetzt um. Ehe Sie sich versehen, sind Sie wieder oben und schmoren in der Hitze.«
Ihre Bemerkung löste das übliche Kichern und Stöhnen aus.
»Hat keine Eile«, sagte jemand. Doch es gab keine weiteren Fragen.
»Sie haben vielleicht bemerkt«, fuhr Darcy fort, »dass in beiden Booten die erste Sitzreihe frei gelassen wurde. Das war kein Versehen. Wir haben das Ganze geplant. Es ist viel einfacher, Sie umzudrehen als die Boote. Deshalb möchte ich nun die Leute in der ersten besetzten Reihe bitten, vorsichtig aufzustehen, kehrtzumachen und sich auf die Sitze zu pflanzen, die wir praktischerweise frei gelassen haben.«
Die drei Ausflügler auf den vorderen Bänken beider Boote folgten ihren Anweisungen.
Dazu gehörte auch Kyle Mordock. Darcy war froh, seinem permanenten Starren zu entkommen. Bald würde sie sich auf der entgegengesetzten Seite des Boots befinden.
Auf ihr Kommando drehte sich eine Reihe nach der anderen um und setzte sich eine Bank weiter nach vorn. Insgesamt gab es sieben Sitzbänke. Es dauerte nicht lange.
»Okay, jetzt kommt für Tom und mich der lustige Teil. Wenn die Leute auf der linken Seite ein Stück zur Mitte rutschen, führen wir unser waghalsiges Kunststück vor.«
»Trommelwirbel, bitte«, sagte Tom.
In der Mitte von Darcys Boot hatte ein ungefähr siebenjähriges Mädchen den Ellbogen auf dem Dollbord liegen. Darcy lächelte sie an und winkte sie zur Seite. Die Mutter zog das Mädchen aus dem Weg.
Darcy ließ den Felszacken los. »Wenn Tom und ich großes Glück haben«, sagte sie, »erreichen wir das andere Ende des Boots, ohne nass zu werden.«
Der einzige Führer, der kürzlich bei diesem Manöver ins Wasser gefallen war, war Dick Hayden. Er hatte es letzte Woche absichtlich getan, zum Vergnügen der Touristen, und geschworen, diese Nummer nie wieder zu bringen. Als Darcy ihn fünfundvierzig Minuten danach aus dem Aufzug kommen sah, waren seine Kleider durchnässt, er zitterte, und sein Gesicht war blau. Er bekam eine Erkältung und fehlte drei Tage bei der Arbeit.
Darcy wusste von niemandem, der jemals versehentlich in das kalte Wasser gefallen wäre. Der Gang zum anderen Ende des Boots mochte schwierig erscheinen, doch sie betrachtete es als Kinderspiel.
Mit ausgestreckten Armen stieg sie auf das Dollbord. Obwohl es breiter als ihre Füße war, balancierte sie darüber, als wäre es ein Hochseil im Zirkus. Sie sah Tom auf dem Rand des anderen Boots einen ähnlichen Auftritt absolvieren.
Er verschwand.
Darcy hatte das Gefühl, ihre Sehkraft wäre auf einen Schlag erloschen.
Alles war schwarz.
Perfekter Zeitpunkt für einen Ausfall der Beleuchtung.
Leute keuchten erschrocken auf.
Sie wackelte und versuchte, das Gleichgewicht zu halten.
»SCHEISSE!« Das war Tom.
Dann ein dumpfer Aufprall, ein heftiges Platschen.
Besorgte Stimmen. »Ist er runtergefallen? … Er ist...




