E-Book, Deutsch, Band 68, 215 Seiten
Reihe: Naturkunden
Lee / Schalansky Zwei Bäume machen einen Wald
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-7518-0202-4
Verlag: Matthes & Seitz Berlin
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Über Gedächtnis und Migration in Taiwan
E-Book, Deutsch, Band 68, 215 Seiten
Reihe: Naturkunden
ISBN: 978-3-7518-0202-4
Verlag: Matthes & Seitz Berlin
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Jessica J. Lee, geboren 1986 in Ontario (Kanada), hat Landschaftsgeschichte und -ästhetik studiert. Sie wurde mit dem RBC Taylor Prize Emerging Author Award ausgezeichnet und gehört zur Gründungsredaktion von The Willowherb Review. Zuletzt erschien ihr Buch Mein Jahr im Wasser. Tagebuch einer Schwimmerin (Piper, 2017). Die kanadisch-britisch-taiwanesische Autorin lebt in Berlin. Susanne Hornfeck, geboren 1956, promovierte u. a. in Sinologie und Neuerer Deutscher Literatur. Fünf Jahre lebte und lehrte sie in Taipei. Heute arbeitet sie als Autorin und Übersetzerin in Süddeutschland. Für ihre Übersetzungen aus dem Chinesischen und Englischen wurde sie mehrfach ausgezeichnet, etwa mit dem C.H. Beck Übersetzerpreis. Judith Schalansky, 1980 in Greifswald geboren, studierte Kunstgeschichte und Kommunikationsdesign und lebt als freie Schriftstellerin und Buchgestalterin in Berlin. Sowohl ihr Atlas der abgelegenen Inseln als auch ihr Bildungsroman Der Hals der Giraffe wurden von der Stiftung Buchkunst zum 'Schönsten deutschen Buch' gekürt. Für ihr Verzeichnis einiger Verluste erhielt sie 2018 den Wilhelm-Raabe-Preis. Seit dem Frühjahr 2013 gibt sie die Reihe Naturkunden heraus.
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Ich habe viele Wörter für »Insel« gelernt: Eiland, Atoll, Schäre, Holm. Sie existieren in der Gemeinschaft von Archipelen oder für sich allein, und ich habe sie immer in Verbindung mit dem Wasser gesehen. Das englische Wort kommt schließlich vom deutschen »Aue«, das wiederum vom lateinischen (Wasser) stammt. Eine Insel ist ein schwimmendes Wort, ein Archipel, ein pelagischer Ort.
Das chinesische Wort für Insel weiß nichts vom Wasser. Für eine Zivilisation, die sich im Landesinneren entwickelt hat, ist die Unermesslichkeit der Berge die bessere Metapher: ? (, »Insel«, in Taiwan ausgesprochen) setzt die Beziehung zwischen Erde und Himmel ins Bild. In dem Schriftzeichen steckt die Idee von einem Vogel – ? () –, der sich auf einem einsamen Berg – ? () –niederlässt.
Taiwan ist gerade mal 140 Kilometer breit, erklimmt auf dieser Distanz aber eine Höhe von fast viertausend Metern. Der Sprung von Meereshöhe bis hinauf zu den jäh aufragenden Gipfeln ermöglicht eine Fülle unterschiedlicher Habitate, sodass die Vielfalt der Wälder auf der Insel wesentlich größer ist, als ihr vergleichsweise kleiner Fußabdruck erwarten ließe. Die Küsten sind in salz- und sonnengegerbte Mangrovenwälder verpackt, weiter im Süden wächst dichter tropischer Dschungel. Die feuchte Hitze des tropischen Regenwalds geht über in gemäßigten Baumbewuchs; seine Laubhölzer klettern, bis sie weiter oben von Nadelbäumen abgelöst werden. Auf mittlerer Höhe überwiegt borealer Nadelwald mit kathedralengleichen Baumriesen, der sich über der Baumgrenze im Grasland verliert. Dort dehnen sich Schilfgrassteppen bis in den Hochgebirgshimmel hinein. Die Bäume sind gestaffelt wie die Höhenlinien einer Landkarte.
Taiwan, auf der Schnittstelle zweier Vulkanbögen gelegen, wurde in den Konflikt hineingeboren, eine instabile Landmasse, die sich in ständiger Konfrontation befindet. Die Insel liegt auf dem Pazifischen Feuerring – jener von Erdbeben und Vulkanausbrüchen heimgesuchten Zone südöstlich von China, westlich von Japan und nördlich der Philippinen – und markiert die Bruchkanten zweier tektonischer Platten, unter Geologen auch als »destruktive Plattengrenze« bekannt. Der Zusammenstoß der Eurasischen und der Philippinischen Platte presste vor sechs bis neun Millionen Jahren, während des Miozäns, die Insel hervor. Solche Kollisionen sind gewaltig; eine der Platten schiebt sich dabei unter die andere und drückt Landmasse aus dem Meer nach oben. Aber auch die Bruchkanten selbst können zerstörerisch sein.
Das zentrale Gebirgsmassiv, das sich mit 280 Kilometern über vier Fünftel der Länge Taiwans erstreckt, und das im Norden quer über die Insel verlaufende Hsuehshan-Gebirge sind beiderseits von Bruchkanten flankiert. Auch die Vorberge und das Flachland im Westen sind von Brüchen durchzogen; wie die willkürlichen Nähte einer Quiltdecke definieren und unterteilen sie die Landschaft. Das Küstengebirge im Osten liegt eingezwängt zwischen Bruchlinien und Meer.
Die Insel verfügt über gut zweihundert Gipfel, die mehr als dreitausend Meter hoch sind; Monumente eines tektonischen Wandels, festgeschrieben in Gneis, Marmor sowie feinem und grobem Schiefer. Diese Berge gehören zu den jüngsten der Erdgeschichte und sind noch immer in Bewegung. Jedes Jahr werden sie von der Philippinischen Platte etwa 80 Millimeter weiter nach Westen geschoben. Die Kräfte der Orogenese, die große Gebirgsketten hervorbringen, lassen Taiwans Gipfel jeden Tag ein wenig wachsen.
Inseln faszinieren uns; ihre Mythen entspringen gleichermaßen ihrer Isolation und unserer Vorstellungskraft. Das lange gesuchte Ithaka oder der rettende Hafen im Sturm. Die Inseln, die ich aus Erzählungen kenne, sind sowohl real als auch imaginiert, Gebilde aus Fels und Erde und dennoch aufgeladen mit der ideologischen Bedeutung eines Eden oder Arkadien, mit Vorstellungen vom Paradies.
Vor der chinesischen Küste liegen unzählige Inseln, viele davon bekannt und in erreichbarer Nähe. Doch die weiter entfernt, jenseits der Taiwanstraße oder im Ostchinesischen Meer gelegenen entzogen sich einfacher Erschließbarkeit. Kein Wunder, dass sie idealisiert oder auch wegen ihrer Entfernung zur chinesischen Leitkultur verachtet wurden. Penglai, das sowohl als Berg wie auch als Insel beschrieben wurde, galt in den chinesischen Mythen als Heimat der Unsterblichen, ein gesegneter Ort, an dem die Becher nie trocken, die Reisschüsseln nie leer wurden. Im 3. Jahrhundert v. Chr. schickte der erste Kaiser eines geeinten Chinas seine Schiffe auf der Suche nach diesem mythischen Eiland gen Osten. Es heißt, seine Emissäre hätten stattdessen Japan entdeckt. Die Inseln der frühen Legenden versprachen sagenhafte, aber unerreichbare Schätze.
Doch Penglai ?? ist auch einer der traditionellen Namen für Taiwan. Wegen seines Rufs als Schatzkammer waren die Eroberer der Qing-Zeit zunächst vor allem auf Natur- und Bodenschätze aus. 1697 kam der kaiserliche Beamte und koloniale Chronist Yu Yonghe auf der Suche nach Schwefel dorthin. Auf seiner Reise entlang der Küste, begleitet von indigenen Führern und Dienern, berichtete er in seinem Tagebuch von Reiskörnern groß wie Bohnen und von Nutzpflanzen, die hier doppelt so reiche Ernten erzielten wie auf dem Festland. Die Kokosnüsse ließen sich spalten und als Weinbecher verwenden. Er schrieb, dass die Früchte Taiwans – vielfältig, aber auf dem Festland weitgehend unbekannt – auf der Rückreise nach China leider verderben würden; die Insel sei fruchtbar und mit Überfluss gesegnet, aber völlig abgelegen. Den Bewohnern des Kontinents galten die Inseln des östlichen Archipels als lebensprall; Berge im stürmischen Meer. Aber im Gegensatz zu den mythischen Inseln der Unsterblichen gehörte Taiwan ganz und gar ins Reich des Materiellen, eine lebendige Welt in einer von Brüchen durchzogenen Gegend.
Dies ist die Geschichte der Insel. Und zugleich die Geschichte meiner Familie.
Sprachen werden zur Heimat. Mein Geist funktioniert auf Englisch und mein derzeitiges Leben in Berlin auf Deutsch. Die frühesten Kindheitswörter aber kommen aus dem Mandarin, der Sprache meiner Mutter. Ich weiß sie bis heute: ? (Hund), ?? (Tiger), ? (Liebe, lieben). Und am wichtigsten:
?
Po
Großmutter
?
Gong
Großvater
Po und Gong kamen aus China – von Anwesen, die über Jahrhunderte niemand verlassen hatte – nach Taiwan, wo sie fast vierzig Jahre lang lebten, denn aufs Festland konnten sie nicht zurück. In den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg kamen sie zusammen mit mehr als einer Million Festlandchinesen auf der Insel an, nachdem Chiang Kai-sheks Nationalisten (die Kuomintang oder KMT) am Ende des Bürgerkriegs dorthin geflohen waren.
Taiwan war immer schon Spielball von Macht und Willkür und hat mehrfach die Besatzer gewechselt: Die Ureinwohner haben seit Jahrtausenden dort gelebt, dann begann mit der Eroberung durch die Spanier und später durch die Niederländische Ostindien-Kompanie ein ständiges Gerangel um die Insel. Holländer und Spanier errichteten Handelsniederlassungen an der Westküste, gefolgt von chinesischen Kolonisatoren, die Taiwan für mehr als zweihundert Jahre beherrschten. Nach dem ersten sino-japanischen Krieg von 1895 hatten die Japaner das Sagen, bis die Insel 1945 an China zurückfiel. Aber als meine Großeltern dort ankamen, galt es nach Jahrzehnten der kulturellen Trennung noch ganz andere Grenzen zu überwinden.
Leute wie meine Großeltern und ihre Nachkommen wurden in Taiwan genannt (??? wörtlich »Menschen von außerhalb der Provinz«, also Festländler), ein so schwammiger Begriff, dass es mir selbst heute noch schwerfällt, unsere Herkunft zu erklären. Das Terrain unserer Geschichten blieb vage, es gab keine klaren Grenzziehungen. Zusammen mit meiner Mutter emigrierten meine Großeltern schließlich nach Kanada, wo ich auf die Welt kam. Mein Großvater ist kurz vor seinem Tod wieder nach Taiwan zurückgekehrt. Als ich erwachsen war, ging auch ich weg – zuerst nach Großbritannien, wo mein Vater herstammt, dann nach Deutschland, wo ich meine Karriere als Schriftstellerin und Wissenschaftlerin beginnen sollte. Meine Mutter, meine Schwester und ich wussten nicht, ob wir uns als Chinesen bezeichnen sollten – schließlich stammen wir aus einem China, das es so nicht mehr gibt – oder als Taiwaner. Ein einzelnes Wort kann die Bewegungen nicht erfassen, die unsere Geschichten über Meere und Kontinente trugen.
Namen sind selten verlässliche Zuschreibungen. Häufig...




