E-Book, Deutsch, 554 Seiten
Lerner Ernst Kantorowicz
1. Auflage 2019
ISBN: 978-3-608-19190-5
Verlag: Klett-Cotta
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Eine Biographie
E-Book, Deutsch, 554 Seiten
ISBN: 978-3-608-19190-5
Verlag: Klett-Cotta
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ernst Kantorowicz (1895-1963), einer der meist diskutierten deutsch-amerikanischen Intellektuellen des 20. Jahrhunderts, führte ein schillernd-dramatisches Leben, das viele große Ereignisse und Denker seiner Zeit berührte. Als Mittelalterhistoriker, dessen Ideen weit über sein eigenes Fachgebiet hinausreichen, erlangte er durch zwei Bücher Weltruhm: die Biographie Kaiser Friedrichs II. (1927) und die zum Klassiker gewordene Studie 'The King's Two Bodies' (1957).
'Mit Sicherheit auf Jahre die maßgebliche Biographie […]. Lerners Biographie angemessen zu würdigen, heißt von seiner Rechercheleistung und Quellenarbeit zu sprechen.'
Ulrich Raulff, Zeitschrift für Ideengeschichte
Als Sohn eines der größten deutschen Likörfabrikanten in Posen aufgewachsen, wurde Kantorowicz im Ersten Weltkrieg mehrfach ausgezeichnet, aber nach einer Affäre mit der Geliebten des Oberbefehlshabers zurückbeordert. Nach dem Krieg nahm er in seiner Heimatstadt an Kämpfen gegen die Polen, in Berlin gegen die Spartakisten und in München gegen die bayerische Räterepublik teil. In der Weimarer Republik war er leidenschaftlicher Nationalist und bevorzugter Jünger des Dichters Stefan George.
1933 erhob er als Professor in Frankfurt mutig seine Stimme gegen das Regime und knüpfte nach seiner Zwangsemeritierung in Oxford und Berlin neue Kontakte, u. a. zu Maurice Bowra, Isaiah Berlin, Marion Gräfin Dönhoff und Albrecht Graf von Bernstorff. Während der Novemberpogrome entging Kantorowicz als Jude nur knapp der Verhaftung und floh nach Berkeley. Dort entließ man ihn, als er sich 1950 weigerte, einen antikommunistischen 'Treueeid' zu unterzeichnen. Kantorowicz wurde an das 'Institute for Advanced Study' in Princeton berufen, wo er bis zu seinem Tod neue Freundschaften, u. a. mit Erwin Panofsky und Robert Oppenheimer, schloss. Robert E. Lerner erzählt die Geschichte eines großen Intellektuellen, dessen Leben und Epoche ebenso faszinierend waren wie seine Arbeit.
'Dieses Buch ist ein Glücksfall. [Eine] unfassbar bewegte Lebensgeschichte, die selbst im Zeitalter der Extreme ihresgleichen sucht.'
Karl Ubl, Historisches Institut, Universität zu Köln (HSozKult)
Fachgebiete
- Geisteswissenschaften Geschichtswissenschaft Weltgeschichte & Geschichte einzelner Länder und Gebietsräume Deutsche Geschichte
- Geisteswissenschaften Geschichtswissenschaft Geschichtliche Themen Kultur- und Ideengeschichte
- Geisteswissenschaften Geschichtswissenschaft Weltgeschichte & Geschichte einzelner Länder und Gebietsräume Geschichte einzelner Länder Amerikanische Geschichte
Weitere Infos & Material
Einleitung
Im Roman Die Rolltreppe aus dem Jahr 1960 tritt ein Mittelalterhistoriker auf. Er ist Autor eines Buches über den Stauferkaiser Friedrich II. und vormaliges Mitglied des elitären Kreises um den Dichter Stefan George. Während des Ersten Weltkriegs diente er im Stab des Generals Liman von Sanders. Eine Szene des Romans spielt im Jahr 1928 in einem eleganten römischen Restaurant namens Ranieri. Der Direktor des Preußischen Historischen Instituts gibt ein Abendessen für eine kleine Gruppe, bestehend aus einem Museumsdirektor, einem prominenten Industriellen und dem renommierten Historiker. Sie lassen es sich bei »Scampi gebacken«, »Tacquino [sic] à la Ranieri« (Truthahnbrust mit Artischocken), rotem Endiviensalat (»zu dieser Jahreszeit besonders gut«), Käseauflauf (»Spezialität des Hauses, etwas ganz Köstliches«), Obst und Kaffee gut gehen. Ein Barolo, ein Frascati und ein Asti Spumante begleiten die Gänge.[1] Hinter dem Historiker, der im Roman »Witkowski« heißt[2], steht erkennbar Ernst Kantorowicz (sprich: »Kantorówitsch« – entgegen einer weitverbreiteten Annahme betonte Kantorowicz seinen Namen zeit seines Lebens ausschließlich auf der dritten Silbe). Kantorowicz lebte tatsächlich 1928 in Rom, frequentierte das besagte Restaurant und genoss den Frascati bianco.[3] Im Roman erscheint »Witkowski« später »in weißem Tropenanzug und leichtem weißen Hemd mit rotseidenem Binder«[4]. Tatsächlich zeigt ein Photo aus derselben Zeit Kantorowicz in ähnlicher Aufmachung, allerdings ergänzt um einen weißen Fischerhut und weiße Handschuhe (siehe Abb. 1). Wie nur bei wenigen Historikern des 20. Jahrhunderts verlangen bei Ernst Kantorowicz (1895–1963) Leben und Werk gleichermaßen nach einer umfassenden Biographie. Auch mehr als fünfzig Jahre nach seinem Tod hält Kantorowicz seine Position als einer der einflussreichsten Mittelalterhistoriker – wenn nicht der einflussreichste schlechthin. Gewiss lässt sich das Lebenswerk anderer Mediävisten ähnlich hoch veranschlagen: Henri Pirenne, Marc Bloch, Richard W. Southern, Charles Homer Haskins und Joseph R. Strayer mögen einem dabei einfallen. Aber wenn ihre wissenschaftlichen Leistungen auch neue Wege erschlossen haben und einige ihrer Bücher weiterhin ihre Leser finden, bleiben ihre Verkaufszahlen doch weit hinter den Zwei Körpern des Königs zurück. 1957 erschien Kantorowicz’ Buch als The King’s Two Bodies auf Englisch. Es wurde seitdem von Princeton University Press kontinuierlich nachgedruckt und mittlerweile ins Deutsche, Französische, Italienische, Spanische, Portugiesische, Slowenische und Japanische übersetzt. Die stabilen Verkaufszahlen und diversen Übersetzungen spiegeln die außerordentliche Ausstrahlungswirkung dieses Buches wider: über die Geschichtswissenschaft hinaus in Kunstgeschichte, Literaturwissenschaft, Politologie und Rechtsphilosophie. Fünfzig Jahre nach seinem Erscheinen schrieb Stephen Greenblatt, es bleibe ein »bemerkenswert lebendiges, großzügiges und fruchtbares Werk«. Giorgio Agamben nannte es »zweifellos ein Meisterwerk« und einen der »großen kritischen Texte unserer Zeit zu den Techniken der Macht«.[5] Wenngleich Kantorowicz seine internationale Reputation vor allem den Zwei Körpern des Königs verdankt, sind seine anderen Werke keinesfalls zu vernachlässigen. Sein erstes Buch, Kaiser Friedrich der Zweite, erschien 1927 und wurde zu einem der meistdiskutierten Geschichtswerke der Weimarer Republik. Die etablierte Geschichtswissenschaft griff es wegen seiner angeblichen »Mythenschau« des Stauferkaisers an. Andere jedoch begrüßten es als Befreiung der Geschichte aus den Fängen des Positivismus. Das Friedrichbuch erschien ohne Fußnoten und ließ in vielen die Vermutung keimen, der Autor habe manches angebliche Faktum frei erfunden. Doch 1931 brachte Kantorowicz seine Kritiker mit einem »Ergänzungsband« in Verlegenheit, der den Großteil seiner Aussagen belegte. Obschon inzwischen durch andere Biographien Friedrichs II. ersetzt, bleibt das Friedrichbuch ein Monument der Geschichtswissenschaft und der Ergänzungsband grundlegend für jeden, der sich der italienischen Geschichte des 13. Jahrhunderts zuwendet. Hinzu kommen die Laudes Regiae, die nach circa zehnjähriger Bearbeitungszeit 1946 veröffentlicht wurden. Alle drei Werke haben sich ihre besondere methodische Stellung durch den Zugriff auf Quellen abseits des historischen Mainstreams erarbeitet: literarische beim Friedrichbuch (Dichtung, Herrscherlob, Prophezeiungen), juristische bei den Zwei Körpern des Königs, liturgische bei den Laudes Regiae. Im Vorwort der Laudes gab Kantorowicz der Hoffnung Ausdruck, es werde bald keinem Wissenschaftler mehr möglich sein, »sich fröhlich der Geschichte mittelalterlichen Denkens und mittelalterlicher Kultur zuzuwenden, ohne je ein Messbuch aufzuschlagen«. Standen die Laudes Regiae auch immer im Schatten der anderen beiden Bücher, bleiben sie doch bedeutsam für die Geschichte des Königtums und – dank der in ihnen entwickelten Methodik – für das Studium mittelalterlicher »politischer Theologie«. Nicht zu vergessen sind schließlich Kantorowicz’ Aufsätze, von denen viele wissenschaftliche Kleinode (»Kabinettstücke«) darstellen. Sein brillanter Kollegen Lynn White brachte dies zum Ausdruck, als er sich für einen Aufsatz Kantorowicz’ mit den Worten bedankte: »Sicherlich eine der außerordentlichsten Forschungsleistungen der Gegenwart. Ich bin stolz darauf, Sie zu kennen.«[6] Eines von Kantorowicz’ Hauptmerkmalen war unbestreitbar seine Vielseitigkeit. Man lege seine gesammelten Artikel anonym einer Gruppe von Studienanfängern vor und frage sie nach dem Spezialfach des Autors. Einige werden sagen, es handle sich um einen Kunsthistoriker. Andere werden einen Theologen mit Schwerpunkt Kirchenrecht vermuten und wieder andere das Interesse an Etymologie bei einem Philologen verorten. Vielleicht schlössen sie aus der umfassenden Kenntnis von Patristik und Byzantinistik, von mittelalterlicher Philosophie und Literatur sogar korrekt auf einen extrem vielseitigen Mediävisten – um dann erstaunt zu erfahren, dass dieser spezifische Mediävist nie eine Lehrveranstaltung in mittelalterlicher Geschichte besucht hat. Dennoch liefert das Leben eines Wissenschaftlers meist nicht genug Material für eine spannende Lektüre. Permanente Schreibtischnähe, so scheint es, bleibt die beste Voraussetzung für einen Lehrstuhl. Nicht so bei Ernst Kantorowicz, dem Sohn wohlhabender jüdischer Spirituosenfabrikanten aus Posen, dem heutigen Poznan. Er begann als glühender Deutschnationaler, kämpfte für Kaiser und Vaterland im Ersten Weltkrieg, erhielt ein Eisernes Kreuz 2. Klasse für Verdienste an der Westfront (nach seiner Verwundung in der »Hölle von Verdun«) und einen Eisernen Halbmond vom Osmanischen Reich für seinen Kriegsdienst in Anatolien. Nach Kriegsende griff er erneut dreimal innerhalb weniger Monate zur Waffe: gegen die Polen in seiner Heimatstadt, gegen die Spartakisten in Berlin und gegen die »Roten« der kurzlebigen Räterepublik in München. 1922 schrieb er, deutsche Politik müsse auf die Vernichtung Frankreichs abzielen. Eng verbunden mit seinen politischen Ansichten war seine Mitgliedschaft im elitären Kreis um den Dichter-Propheten Stefan George. Von vielen damals als größter lebender Dichter Deutschlands verehrt, war George eine fesselnde Kultfigur, die für Antirationalismus, Antimodernismus, Heldenverehrung und den Glauben an Deutschlands Kräfte aus dem Untergrund (das »Geheime Deutschland«) eintrat. George widmete sich der »Erziehung« einer geschlossenen Gesellschaft schöner und geistreicher junger Männer, die ihn in der dritten Person Singular ansprechen, an seinen Lippen hängen und seine Ideen in Wort und Tat verbreiten sollten. Ziel war es, Deutschland gleichsam in ein Land der Wahrheit und Reinheit zu verwandeln. Kantorowicz war einer der prominentesten »Jungen« im George-Kreis (ein anderer war der spätere Hitler-Attentäter Claus von Stauffenberg) und schrieb seine Biographie des Stauferkaisers Friedrichs II. mit voller Unterstützung des »Meisters«. Nach der Machtübernahme der Nazis jedoch hielt Kantorowicz im übervollen Hörsaal und gleichsam von der Lehrkanzel...