Levine | Aus einer Stadt am Meer | Buch | 978-3-96311-268-3 | sack.de

Buch, Deutsch, 200 Seiten, Format (B × H): 140 mm x 215 mm

Levine

Aus einer Stadt am Meer

Roman
Deutsche Erstausgabe
ISBN: 978-3-96311-268-3
Verlag: Mitteldeutscher Verlag

Roman

Buch, Deutsch, 200 Seiten, Format (B × H): 140 mm x 215 mm

ISBN: 978-3-96311-268-3
Verlag: Mitteldeutscher Verlag


Die »fiktionale Autobiografie« eines unmittelbaren Erzählers

Norman Levine zählt zu den großen Erzählern der kanadischen Literatur, der mit Hemingway verglichen und vornehmlich durch sein Kurzgeschichtenwerk bekannt wurde, auch hierzulande. Sein zweiter und letzter Roman von 1970 musste lange auf seine deutsche Übersetzung warten.
Joseph Grand, ein kanadischer Reise­schriftsteller, lebt mit seiner Frau Emily und den drei kleinen Töchtern in einer englischen Küstenstadt in Cornwall. Das Leben ist hart, von Geldsorgen bestimmt, dem Warten auf den nächsten Scheck, um ausstehende Rechnungen und die Miete zu zahlen. Das Essen wird rationiert. Aufträge bleiben aus. Die soziale Isolation zerrt an den Banden der Familie. Grands Ausflüge nach London, so er sie sich leisten kann, bieten die einzige Abwechslung vom tristen Alltag. Hier besucht er Albert, einen reichen Einzelgänger, oder Charles, einen erfolgreichen Maler. Doch bringen diese Treffen nur kurzzeitige Ablenkung vom täglichen Kampf um die Existenz, seine Ehe und die ­Kinder.
Meisterhaft gelingt es Levine, das schwierige Dasein des Künstlers zu schildern. Dabei verzichtet er auf jeglichen Überschwang und setzt ganz auf die Nüchternheit und Intensität seines raren Schreibstils.

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Von Zeit zu Zeit kam es vor, dass Herausgeber mich um eine
kleine Kurzbiografie baten. Meistens schicke ich ihnen dann et-
was in der Art: „Joseph Grand. Geboren 1926 in Polen. Kam
nach Kanada, als die Eltern 1929 auswanderten. 1944 Eintritt in
die Royal Canadian Air Force. Flog Einsätze von Luftwaffenstütz-
punkten in England über Europa. Nach dem Krieg Rückkehr
nach England. Verheiratet mit einer Engländerin. Reiseschrift-
steller.“
Natürlich ändere ich die Details, je nachdem, wer die Bio-
grafie bekommt. Aber so vieles bleibt unerwähnt.
Erstens weiß ich nicht, wann ich geboren wurde. In der
Familie haben wir Geburtstage nie gefeiert. Ich glaube, meiner
war im September oder Oktober, genau kann ich es nicht sagen.
Das Problem ist, mit zwei Kalendern leben zu müssen. Als ich
zur Armee ging, beschloss ich, einen Tag festzulegen und ihn zu
behalten. Ich entschied mich für den 2. November. Und für eine
Weile hatte ich das Gefühl, jemand anderes zu sein, so wie die
Leute, die ihren Namen ändern. Aber ich mache mir nichts vor.
Wenn ich in einer Zeitschrift auf ein Horoskop stoße, dann lese
ich beide, Skorpion und Waage. Und dann dieser Ort in Polen,
der in meinem Pass steht. Rakow. Ich habe keinerlei Erinnerung
daran.
„Wir hatten ein sehr schönes Haus“, sagte Mutter. „Und
es gehörte uns. Ich weiß nicht, was daraus geworden ist, da wir
es nie verkauft haben. Es war wunderschön. Und wir hatten ein
Dienstmädchen. Als wir nach Kanada gingen, wollte sie, dass ich
sie mitnehme. Ich hätte sie hier schon gut brauchen können.“
Der Samowar* im Esszimmer auf dem Büfett … die großen
Silbermünzen mit den beiden Köpfen auf der einen Seite und
dem Doppeladler auf der anderen …
„Warum seid ihr fortgegangen?“
„Schlafenszeit für dich“, sagte sie.
Jahre später fragte ich erneut.
„Wegen der hohen Steuern“, sagte sie. „Sie haben auf die
Bauern im Feld geschossen.“
Das ist die einzige Antwort, die sie mir gab.
Wie gesagt, ich habe keinerlei Erinnerung an die ersten
drei Jahre. Aber 1953 lebten wir in London, ganz in der Nähe
der Gloucester Road. Da gab es einen kleinen polnischen

* Gestern Abend hörte ich im Fernsehen Garachi Bublitschki - nur die Melodie,
ohne Text. Sie spielten es langsam. Und sie zeigten einen Arzt in irgendeinem
russischen Provinzort, der darauf wartete, dass die Züge wieder in Betrieb
genommen wurden. Sie spielten es langsam und es klang traurig. In Ottawa
habe ich die Schallplatte immer mit größerer Geschwindigkeit abgespielt, so-
dass es schneller lief, Garachi Bublitschki … das klang sehr lustig.


Feinkostladen an der U-Bahn-Station Gloucester Road (heute ist
er nicht mehr dort). Emily hatte mich losgeschickt, um ein Rog-
genbrot zu holen. Aber kaum war ich drin, erblickte ich die Sü-
ßigkeiten. Sie waren in Papier in hellem Kuhbraun eingewickelt.
Ich fragte den Mann hinter der Theke.
„Sind diese Süßigkeiten aus Polen?“
„Ja“, sagte er.
Ich kaufte ein paar und ging hinaus. Das Brot hatte ich ver-
gessen. Kaum hatte ich die Tür hinter mir geschlossen, wickelte
ich eine Süßigkeit aus. Das rote Neonlicht von dem italienischen
Restaurant auf der anderen Straßenseite flackerte in einer Re-
genpfütze, während der zarte Karamellbonbon im Mund zer-
schmolz. Und der Geschmack rief die Erinnerungen wach an ein
weißes Haus mit grünen Türen. Ich schaue als Kind aus einem
oberen Fenster heraus. Es ist Herbst. Draußen steht eine
Gruppe von Männern. Einer von ihnen raucht eine Zigarre und
trägt andere Kleidung als die übrigen. Ich frage Mutter nach die-
sem Mann. „Er hat früher hier gewohnt“, sagte sie. „Jetzt lebt
er in Amerika. Er ist zu Besuch hier.“
Wir gingen nach Ottawa, weil Mutters Onkel Saul bereits
dort war. In Polen hatte Saul Dekors an die Decken der großen
Häuser gemalt. In Ottawa betrieb er einen Großhandel für Ba-
nanen. Das erfuhr ich, als ich zum letzten Mal in Ottawa war,
um einen Reisebericht zu schreiben, und Sauls einzigen Sohn
Carleton traf, der die Geschäfte führt. Carleton fuhr mich zum
Abendessen zu seinem Haus, in einem neuen schwarzen
Cadillac mit schwarzen Ledersitzen, und erzählte mir von der
Ankunft meines Vaters.
„Wir durften lange aufbleiben. Unser Cousin aus Europa
kam. Mein Vater erwartete jemanden, der recht jung war ?
schließlich war deine Mutter Anfang zwanzig. Und jemand, der
grobe Arbeit verrichten konnte. Stattdessen erschien am
Union-Bahnhof dieser Dandy mit einem silberbesetzten Stock.
Er war klein und kahlköpfig und in den Vierzigern. Wir haben
versucht, ihn für das Bananengeschäft zu begeistern. Aber er
konnte oder wollte die Sprache nicht lernen. Er ging zu einem
der Arbeiter, zeigte auf einen Haufen Bananen und sagte
Shnite.“
Ich fand es paradox. Vaters Probleme begannen, weil er
kein Englisch lernen konnte. Und ich sitze nun hier und versu-
che, meinen Lebensunterhalt damit zu verdienen.
„Das Beste, was ihm hätte passieren können“, sagte Car-
leton, „wäre gewesen, wieder zurück nach Polen zu gehen. Auf
dem nächsten Schiff.“
Ich dachte an Konzentrationslager, Gaskammern.


Levine, Norman
Norman Levine (1923–2005), Sohn polnischer orthodoxer Juden, wuchs in Ottawa auf, war im Krieg Bomberpilot bei der kanadischen Luftwaffe und studierte danach an der McGill-Universität in Ottawa. 1949 ging er nach England und ließ sich mit seiner Familie in St. Ives, Cornwall, nieder. 1978, nach dem Tod seiner Frau, lebte er eine Zeit lang in Toronto, ehe er schließlich nach Europa zurückkehrte. Levine schrieb Gedichte, Kurzgeschichten und zwei Romane. 1969 und 1971 erhielt er den Canada Council Arts Award; 2001 verlieh ihm der Writers’ Trust of Canada den Matt Cohen Award für sein Lebenswerk.



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