E-Book, Deutsch, 224 Seiten
Levithan Das mysteriöse Verschwinden des Aidan S. (so wie es sein Bruder erzählt)
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-95762-277-8
Verlag: Lago
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Fantastisches Jugendbuch vom Bestseller-Autor David Levithan
E-Book, Deutsch, 224 Seiten
ISBN: 978-3-95762-277-8
Verlag: Lago
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Als Cheflektor bei Scholastic Books hat David Levithan stets zur Vielfalt in der Kinderliteratur beigetragen. Zu seinen Werken gehören die New-York-Times-Bestseller »Letztendlich sind wir dem Universum egal«, »Two Boys Kissing - Jede Sekunde zählt« und »Will& Will« (in Zusammenarbeit mit John Green).
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1
Sie suchten überall.
Im Wäldchen hinter unserem Haus. In der Schule. Im Wald hinter der Schule. Im Keller. Auf dem Dachboden. Am Teich, obwohl der Teich ziemlich weit weg war. Sie riefen die Eltern aller Mitschüler von Aidan an, auch jene, die weggezogen waren.
Wir sahen in jedem Zimmer des Hauses nach und in allen Schränken. Wir durchsuchten jeden Zwischenraum, guckten unter jedes Bett. Wir zogen alle Duschvorhänge zurück und suchten alle Teppiche nach Fußabdrücken ab. Es war wie ein Versteckspiel, das nach fünf Minuten langweilig wurde, nach einer Stunde beunruhigend und danach zu dem Unheimlichsten, was uns je passiert ist.
Aidan war nicht aufzufinden.
Sie stellten mir immer wieder die gleichen Fragen.
Wann hast du ihn das letzte Mal gesehen?
Ich war dabei einzuschlafen. Er war dran, das Licht auszuschalten. Ich habe gesehen, wie er aus dem Bett gestiegen und zum Lichtschalter gegangen ist. Dann habe ich gehört, wie er zurück zum Bett gegangen ist, und ich glaube, wir haben uns eine gute Nacht gewünscht.
Um wie viel Uhr war das?
Gegen zehn?
Du bist dir nicht sicher.
Um diese Uhrzeit machen wir normalerweise das Licht aus. Ich habe nicht so genau darauf geachtet, ich wollte einfach nur schlafen.
Warst du eingeschlafen, als er das Zimmer verlassen hat?
Ich glaube, ja. Ich habe die Tür nicht gehört.
Wie lange brauchst du, um einzuschlafen?
Weiß nicht.
Steht dein Bruder öfter mitten in der Nacht auf?
Nein, ich glaube nicht.
Hast du ihn jemals beim Schlafwandeln erwischt?
Nein.
Hat er dir gegenüber mal erwähnt, dass er weglaufen will?
Nein.
Glaubst du, dass er weggelaufen ist?
Nur, weil er hier nirgends ist. Aber er hatte keinen Grund wegzulaufen. Er ist zwölf.
Und du bist elf, Lucas?
Ja.
Hat er etwas Ungewöhnliches gesagt?
Nein.
War er vielleicht sauer wegen irgendwas?
Nein. Und wenn er wirklich weggelaufen wäre …
Was dann?
Dann hätte er sein Handy mitgenommen. Er hätte es nicht zurückgelassen. Dafür mag er seine Spiele zu sehr.
Gibt es einen Ort, wo dein Bruder hingegangen sein könnte? Gibt es irgendwelche Freunde, die er hätte sehen wollen?
Spät in der Nacht? Nein.
Niemanden?
Glenn ist sein bester Freund. Aber er sieht Glenn die ganze Zeit. Ich meine, tagsüber. Ich glaube nicht, dass sie sich nachts heimlich treffen würden, wenn es das ist, was Sie meinen. Aber da müssen Sie Glenn fragen.
Gibt es einen Ort, wo dein Bruder hingeht, um sich zu verstecken? Zum Beispiel, wenn ihr spielt, wo versteckt er sich dann?
Auf dem Dachboden. Aidan versteckt sich immer auf dem Dachboden.
Sie überprüften jeden Zentimeter des Dachbodens. Sie verschoben jede Kiste, sahen im alten Geschirrschrank, in der Truhe und im Kleiderschrank nach. Es gab Spuren von Aidan dort oben – Fußspuren und Fingerabdrücke im Staub. Aber es gab überall Spuren von Aidan. Es war unser Haus. Wir wohnten darin.
Sie suchten nach einer Nachricht. Sie sahen sich den Browser-Verlauf von jedem elektronischen Gerät an, das Aidan benutzte. Sie suchten rund um unser Haus und versuchten eine Spur zu finden. Und sie suchten auch nach Anzeichen dafür, dass jemand eingebrochen sein und ihn gekidnappt haben könnte.
Sie suchten so viel. Und sie konnten nichts finden.
Hast du dich mit Aidan gestritten?
Nein.
Hatte Aidan Streit mit deinen Eltern?
Nein.
Hast du ihn angeschrien?
Nein.
Haben sie ihn angeschrien?
Nein.
Hatte er einen Grund abzuhauen?
Nein.
Bist du sicher?
Ja.
Nachbarn und Fremde taten sich zusammen, um ihn zu suchen. Sie durchschritten mit einer Armeslänge Abstand Felder und Wälder, suchten den Boden nach Hinweisen ab. Sie kamen immer wieder auf den Teich zurück, obwohl ich ihnen gesagt hatte, dass wir dort nie hingingen, weil er auf Mr Magruders Grundstück lag und Mr Magruder uns gesagt hatte, wir sollten uns fernhalten. Selbst Aidan, der viel mutiger war als ich, oder vielleicht viel leichtsinniger, ging nicht in die Nähe des Teichs.
Sie hörten mir zu, aber irgendwie nicht richtig.
Ein Alarmruf wurde rausgeschickt. Es kam in den Nachrichten. Die Reporter baten die Zuschauer, die eingeblendete Nummer anzurufen, wenn sie Hinweise hatten.
Viele Leute riefen an, aber niemand hatte Hinweise.
Standet ihr euch nahe?
Ja, das dachte ich. Jetzt bin ich mir nicht mehr so sicher.
Wir haben uns schon immer ein Zimmer geteilt. Solange ich denken kann, bedeutete schlafen, dass wir dieselbe Luft einatmeten, dass sich unsere Augen an dieselbe Dunkelheit anpassten. Ich hatte mich an so ziemlich jedes seiner Geräusche gewöhnt, obwohl ich manchmal davon wach wurde, dass er Selbstgespräche führte, und war überrascht davon, was er sagte. (Einmal hörte ich ihn »Gut gemacht!« sagen und nahm an, dass er mir ein Kompliment zu meinem Schlaf machte.) Sein Schnarchen konnte donnernd sein, aber er sagte dasselbe über meine Fürze.
Ich kannte ihn. Ich kannte sein Lieblingsessen. Ich wusste, welches Baseballteam er am wenigsten mochte. Ich wusste, welche Socken er zu welchem Shirt auswählen würde und welches Grunzen er von sich gab, wenn er das Gefühl hatte, das Spiel, das er spielte, hätte ihn um einen Sieg betrogen. Wir waren ein Jahr auseinander, und meistens dachten Außenstehende, ich sei der Ältere. Ich gab auf ihn acht, aber wohl nicht gut genug, um zu wissen, ob er es auch in meinem Fall tat.
Und, klar, als meine Aufmerksamkeit am meisten gebraucht wurde, versagte ich. Ich schlief.
Gut gemacht, bravo.
Unsere Stadt war nicht sehr groß, aber sie kam einem gleich viel größer vor, wenn man daran dachte, wo überall ein Zwölfjähriger verschwinden konnte. Es gab nicht nur den Teich, sondern auch die Bäume. Nicht nur die Bäume, sondern auch die Felder. Nicht nur die Felder, sondern auch die Kanalisation. Nicht nur die Kanalisation, sondern auch die Häuser. Nicht nur die Häuser, sondern auch die Läden. Und die Mülltonnen hinter den Läden. Die nicht abgeschlossenen Autos.
Ein riesengroßes Versteckspiel.
Keiner seiner Freunde hatte ihn gesehen oder mit ihm gesprochen, niemand wusste, wo er war. Glenn und seine Eltern kamen zu uns rüber, aber alles, was sie tun konnten, war, sich neben uns hilflos zu fühlen. Die Polizei fragte Glenn, ob sie mit ihm reden könnte, so wie sie auch mich gefragt hatte. Als ob wir eine Wahl gehabt hätten. Selbstverständlich haben wir mit ihnen geredet. Selbstverständlich waren wir bereit, ihnen alles zu sagen, was wir wussten. Ich nahm an, sie stellten Glenn die gleichen Fragen, die sie mir gestellt hatten, oder fast die gleichen. Nur nicht zur gleichen Zeit. Immer, wenn eine Nachricht auf Glenns Handy einging, fragten sie, ob es Aidan war. Aber es war jedes Mal ein anderer Freund, der fragte, was los war.
Ich hatte ein Handy, aber ich sollte es nur für Notfälle benutzen. Dies war ein Notfall, aber die einzige Person, die ich deswegen hätte anrufen wollen, hatte seins nicht dabei.
Wir hielten Wache. Einer von uns war immer wach. Für den Fall, dass Aidan anrufen würde. Für den Fall, dass er an die Tür klopfen würde.
Wir stellten immer sicher, dass die Eingangstüren abgeschlossen waren, weil wir uns vor Einbrechern fürchteten. Man musste klopfen oder klingeln, um hereingelassen zu werden.
Am Ende sollte das noch wichtig werden.
Bist du sicher, dass dir sonst nichts mehr einfällt?
Aus einem Tag wurden zwei.
Aus zwei Tagen wurden drei.
Ich ging nicht zur Schule. Mom und Dad gingen nicht zur Arbeit. Mom zerriss Servietten und Pappbecher. Wenn sie damit fertig war, schaute sie so verdutzt auf ihren Schoß, als wären die Fetzen vom Himmel gefallen. Dad suchte weiter, auch wenn es dieselben Stellen waren, die schon hundertmal zuvor von hundert verschiedenen Leuten abgesucht worden waren. »Wir übersehen etwas. Ein Puzzleteilchen fehlt«, sagte er immer wieder, und schließlich brachte Mom ihn zum Schweigen, indem sie in einem scharfen Ton sagte: »Ja, Jim, es ist Aidan, der fehlt!«
Immer wieder kamen Leute vorbei. Sie hingen überall Plakate auf.
Vermisst. Immer wieder dieses Wort.
Ich wusste nicht, ob es beschrieb, was mit Aidan war oder wie wir uns fühlten.
Er galt als vermisst, und es fühlte sich an, als wäre alles, was wir taten, jedes Wort, das wir sprachen, ein Akt des Vermissens.
Denk nach, Lucas. Denk scharf nach.
Glenn fragte mich, ob ich mit zu ihm gehen wollte, um was zu spielen. Ich glaube nicht, dass er da von allein draufgekommen ist. Ich hatte keine Lust rauszugehen, aber gerade, weil ich nicht raus wollte, meinten die anderen, ich sollte mal aus dem Haus gehen.
»Es wird dich ablenken«, sagte Dad.
Was er damit meinte, war, dass es sie mal eine Weile von mir ablenken würde. Also ging ich mit. Glenn wollte all die Spiele spielen, die Aidan spielen würde, die, in denen Aidan gut war. Ich war schlecht darin, weil er mich immer schlug und ich immer aufgab. Jetzt spielte ich Aidans Spiele mit Aidans bestem Freund in dem Haus, in dem Aidans bester Freund wohnte, und das lenkte mich überhaupt nicht ab.
»Du hast keine Ahnung, wo er ist?«, fragte Glenn, während er Nazis mit einem Flammenwerfer tötete.
»Nein«, sagte ich, ohne meinen Blick vom Bildschirm zu lösen. »Du?«
Glenn schüttelte nur den Kopf und killte weiter Nazis.
Als ich zu Glenns Mutter sagte, dass ich...




