Lustiger | Die Schuld der anderen | E-Book | www.sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 384 Seiten

Lustiger Die Schuld der anderen

Roman
15001. Auflage 2015
ISBN: 978-3-8270-7766-0
Verlag: Berlin Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 384 Seiten

ISBN: 978-3-8270-7766-0
Verlag: Berlin Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Schwüler Hochsommer beherrscht ganz Frankreich und lässt das Pariser Leben unter einer Hitzeglocke fast erstarren, als dem Redakteur Marc Rappaport ein besonderer Fahndungserfolg auffällt: Ein 27 Jahre zurückliegender Prostituiertenmord soll mit Hilfe modernster Technik endlich gelöst sein. Schnell steht für den investigativen Journalisten fest, dass es so einfach nicht sein kann. Er rollt den Fall neu auf. Seine Recherchen führen ihn bis tief in die französische Provinz und zu einem global agierenden Konzern, dessen Arbeiter seit dreißig Jahren an einer grausamen Krankheit sterben. Ein Abgrund an Korruption und Vertuschung tut sich auf, der schließlich auch Marc hinabzuziehen droht, denn alte Seilschaften sind in Funktion und wirken nicht nur in höchste politische Kreise, sondern auch bis in seine nächste Nähe. - Gila Lustiger gelingt mit »Die Schuld der anderen« ein atmosphärisch dichter und klug gebauter Roman über französische Verhältnisse als Spiegel unserer Gegenwart.

Gila Lustiger wurde 1963 in Frankfurt am Main geboren. Sie studierte Germanistik und Komparatistik an der Hebräischen Universität in Jerusalem. Seit 1987 lebt sie als freie Autorin in Paris. Ihr erster Roman, »Die Bestandsaufnahme«, erschien 1995, dann 1997 »Aus einer schönen Welt«. Mit »So sind wir «(2005), einem Familienroman über die Geschichte der europäischen Juden, stand sie 2005 auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis. 2011 erschien ihr Roman »Woran denkst Du jetzt«, 2015 ihr hellsichtiger und vielgelobter Gesellschaftsroman »Die Schuld der anderen«, der wochenlang auf der Spiegel-Bestsellerliste stand, und Anfang 2016 ihr preisausgezeichneter Essay »Erschütterung«, in dem sie sich mit den Gründen und Folgen der Terrorattentate in Frankreich auseinandersetzt.
Lustiger Die Schuld der anderen jetzt bestellen!

Autoren/Hrsg.


Weitere Infos & Material


1.

Es hatte ununterbrochen geregnet, doch schon in den frühen Morgenstunden war sämtliche Feuchtigkeit wieder verdunstet. Paris, für Sonne geradezu erschaffen, strahlte unter einem makellos blauen Himmel. Das Licht tanzte auf dem Fluss, während ein Boot voller träger, selbstvergessener Touristen vorbeizog und unter einer Brücke hindurchglitt. Die Ufermauern waren wie weiß gewaschen. Überhaupt schien dieses Vormittagslicht alle Farben zu schlucken. Nur noch hell, dunkel, Weiß, Ocker, Blau. Und dort, bei den akkurat gepflanzten Bäumen neben der Mauer des Seineufers, ein paar Flecken Grün.

Marc ließ den Blick zum Quai weiterschweifen. Autos, Lieferwagen, Busse, Motorradfahrer: Ungeduld, wie immer. Noch war der Verkehr fast flüssig und dennoch war das Geräusch, das die Reifen auf dem Pflaster der Uferstraße machten, so ohrenbetäubend, dass Pierre, der neben ihm schritt, sein Telefongespräch mit Simone mehrmals unterbrechen musste, um auf das Rot für die Autofahrer zu warten. Er hörte, wie Pierre seine Sekretärin damit beauftragte, einen jungen Journalisten namens Stan zum Palais Bourbon, dem Sitz der Assemblée nationale, zu schicken, weil dort Landwirte demonstrierten. Natürlich hätte Pierre den zuständigen Redakteur auch direkt anrufen können, aber alles lief beharrlich über Simone, die, obwohl erst Ende zwanzig, eine Art Mutterrolle für ihn übernommen hatte.

Ein roter Touristenbus füllte aus ihrer Perspektive die ganze Spannweite der Arkade des Louvre aus und rollte, als die Ampel auf Grün umsprang, gemächlich an ihnen vorbei. Ein paar helle Gesichter mit überdimensionierten Sonnenbrillen wandten sich ihnen vom offenen Oberdeck aus zu, musterten sie, als seien sie beide eine weitere Attraktion dieser an Attraktionen so grenzenlosen Stadt. Ein Kind winkte, und er winkte zurück, während Pierre seiner Sekretärin auseinandersetzte, warum er den Landwirten, die nun schon zum vierten Mal in diesem Jahr demonstrierten und gerade Obst und Kuhmist vor dem Parlament auszuschütten gedachten, höchstens zehn Zeilen zukommen lassen wollte.

»In den Acht-Uhr-Nachrichten kriegen die so kurz vor den Sommerferien höchstens dreißig Sekunden«, sagte Pierre, und er, Marc, wusste, dass er sich nicht vor Simone, sondern wegen seines schlechten Gewissens zu rechtfertigen versuchte und dass die geduldige, die freundliche Simone, schon das Nötige erwidern würde, damit Pierre, sein Chefredakteur, wohlgelaunt den Nachmittag in Angriff nehmen konnte. Der Bus rumpelte über die Brücke und bog rechts ab zum Musée d’Orsay. Ein Inder oder Pakistani, der im Schatten der Arkaden sein Geschäft aufgebaut hatte, bestehend aus einem mit Eiswürfeln und Getränken gefüllten Kübel, streckte ihm eine Wasserflasche zu horrenden fünf Euro entgegen. Marc kannte ihn. Er war ihm schon mehrmals begegnet. Im Herbst verkaufte er vor dem Louvre Regenschirme Made in China, und abends streifte er durch die umliegenden Terrassen und versuchte, verliebt dreinblickenden Paaren Rosen aus Holland anzudrehen. Marc winkte ab, und der Mann mit den großen Zähnen und dem pechschwarzen Haar legte seine Wasserflasche wieder in den Kübel und hielt nach Touristen Ausschau.

Es war kurz vor halb eins. Ein jeder eilte seinem Ziel zu, nur er, Marc Rappaport, schlenderte über eine Brücke und nahm sich Zeit zu schauen. Es war kurz vor halb eins, und ihm gehörten die Brücke, die Bäume, das Ufer und dieses Trottoir, auf dem die Sonne jeden Schatten verdrängte und wo alles im gleißenden Mittagslicht miteinander verschmolz.

Eigentlich hatten sie wie jeden Dienstag bei Lipp essen wollen, aber die CRS hatten in Erwartung der Kuhmist-Demo den gesamten Boulevard St. Germain abgesperrt. Marc hatte vierzehn Einsatzfahrzeuge gezählt. Aus den Augenwinkeln hatte er verfolgt, wie die Polizisten vom Viertel Besitz nahmen, aus den Bussen stiegen, sich mit Helm, Polycarbonat-Schildern und Schlagstöcken bewehrt aufbauten, so die Straße verriegelten und auf den Einsatzbefehl warteten, alle mit dieser unverkennbaren Spannung im Gesicht. Beide hassten sie die Männer in Dunkelblau und hatten kurzweg beschlossen, in einen anderen Stadtteil auszuweichen. Sie hassten die Art, wie sie sich aufstellten, sich Kommandos zuriefen, miteinander redeten, dieses ganze militärische, durchtrainierte Gehabe. Sie sahen sie, wie nur ehemalige Sympathisanten der autonomen Szene sie sehen konnten, die sich in ihrer Jugend selbst kleine Scharmützel mit der Staatsgewalt geliefert hatten und die nun den Umstand, dass man sie einfach so passieren ließ, ohne auch nur nach ihren Ausweisen zu fragen, als besonders schmerzliche Beleidigung empfanden. Älter werden, das ließ sich nicht vermeiden, aber nun waren sie, gerade einmal knapp über vierzig, an einem Punkt angelangt, an dem sie in ihren dunkelgrauen Designerklamotten mindestens so harmlos wirkten wie ihre Väter früher in ihren Anzügen.

»Schick auch jemanden hin, der ein paar Fotos macht, zur Sicherheit, falls das doch irgendwie ausartet«, sagte Pierre zu Simone und warf ihm einen kurzen Blick zu. »Wohin gehen wir eigentlich?«

»In die Rue Sainte-Anne«, sagte Marc.

Noch vor ein paar Jahren hätte das bedeutet, einen der zahllosen Massagesalons aufsuchen zu wollen, die dort reihenweise ihre Dienste angeboten hatten. Aber eine Stadt verändert sich, wie schon Baudelaire bemerkt hatte, schneller als ein Menschenherz. Die Schwulenclubs hatten geschlossen, und aus irgendeinem unerklärbaren Grund hatten vor allem japanische Restaurants das Quartier übernommen.

2.

Die Prostituierte hieß Emilie Thevenin, das zu erfahren hatte ihn eine gute halbe Stunde Telefonrecherche gekostet. Es war eine von diesen Informationen, die er nicht unbedingt zu verwenden gedachte. Denn wen interessierte der wirkliche Name einer Hure, die vor dreißig Jahren erdrosselt worden war? Und dennoch gehörten für ihn zu jeder seiner Geschichten auch Namen. Andere hätten sich damit begnügt, Emilie »das Opfer« zu nennen, aber die anderen waren auch nicht so gut wie er.

Sie war nicht älter als neunzehn geworden. Und obwohl er eigentlich nur von ihr wusste, dass sie mit achtzehn aus einer Kleinstadt nach Paris gekommen war, um Geschichte an der Sorbonne zu studieren, hätte er nun bis ins Detail genau beschreiben können, wie das alles abgelaufen war. Wie sie sich neben dem Studium als Verkäuferin oder Kellnerin ihren Lebensunterhalt zu verdienen versucht. Wie sie an irgendeinem Wochenende in irgendeiner Disco irgendeine alte Freundin wiedertrifft. Wie sie sich beschwatzen lässt, es wenigstens ein Mal zu probieren. Sie solle doch keine große Sache daraus machen und das Thema einmal nüchtern angehen. Ob sie sich denn wirklich von Montag bis Samstag herumkommandieren lassen wolle? Das sei doch völlig unlogisch, sich für ein kümmerliches Gehalt derart abzuschinden. Was denn schon dabei sei, ein paar gutsituierten Geschäftsmännern zum Orgasmus zu verhelfen und mit ihnen, sozusagen als Escort-Bonus, außerdem noch guten Wein und gute Küche zu genießen? Ob sie sich etwa für den Einzigen aufsparen wolle? Na also. Wie sie sich am Ende selbst davon überzeugt, sogar stolz darauf zu sein. Nein, sie ist nicht eine von diesen unglücklich hineingeschlitterten Frauen, die zur Prostitution gezwungen werden. Sie nicht. Sie vögelt freiwillig, gegen eine finanzielle Zuwendung, die sich stattlich nennen kann. Denn sie ist jung, gebildet (zweites Semester Geschichte), Französin, hübsch. Und wer da etwas zu beanstanden hat, ist sowieso nur ein kleiner Spießer. Ein makelloser Frauenkörper, die unbestreitbare jugendliche Frische und Naivität, die ihr ein leicht verdientes Geld verschaffen, dazu die völlig selbstbestimmte Zeiteinteilung, ja, daran kann sie sich schnell gewöhnen. Und es hätte noch ein, zwei Jahre so weitergehen können, vielleicht sogar länger, hätte sie nicht an einem späten Nachmittag im Mai der Banklehrling Gilles Neuhart erdrosselt. Geschlagen, gefesselt, missbraucht, stranguliert.

Getötet.

3.

Sie hatten die Misosuppe ausgeschlürft und machten sich gerade an den mit einer schlappen Gurkenscheibe verzierten Krautsalat. Bis zum Sushi würde er Pierre, seinen Freund aus Jugendzeiten und heutigen Chefredakteur, überzeugt haben müssen, dass es sich lohnte, aus einer wenige Zeilen langen Meldung einen größeren Artikel zu machen. Die Meldung war unter einer furchtbar banalen Headline erschienen. Irgendwo auf Seite 4. Keine Autorenzeile.

Täter nach 27 Jahren gefasst


Nach Angaben der Kriminalpolizei ist es anhand einer DNA-Probe gelungen, einen 27 Jahre zurückliegenden Mordfall aufzuklären. 1984 war eine 19-jährige Prostituierte in einer sogenannten Modellwohnung auf dem Boulevard Edgar Quinet vergewaltigt und danach ermordet worden. Dank neuer kriminaltechnischer Untersuchungsmethoden führt die Spur nun zu einem 49-jährigen Bankangestellten. Der damals 21-Jährige soll die Prostituierte niedergeschlagen, vergewaltigt und mit einem Nylonstrumpf erdrosselt haben. »Nach umfangreichen DNA-Analysen gehen wir davon aus, dass es sich bei dem Beschuldigten um den Täter handelt«, bestätigte Kriminalkommissar Stefanaggi und fügte hinzu, dass die Polizei Hautschuppen auf dem Strumpf entdeckt habe, die dem mutmaßlichen Täter eindeutig zugeordnet werden können.

Natürlich wusste Marc, dass es zwecklos war, dennoch erzählte er Pierre, während dieser die geübten Handbewegungen des Kochs verfolgte und dabei zusah, wie auf einer Matte schwarz schimmernder Seetang ausgebreitet wurde, vom mutmaßlichen Mörder Gilles Neuhart.

Bis vor zwei Tagen hatte der Mann mit seiner Ehefrau und seiner neunzehnjährigen Tochter in einer...


Lustiger, Gila
Gila Lustiger wurde 1963 in Frankfurt am Main geboren. Sie studierte Germanistik und Komparatistik an der Hebräischen Universität in Jerusalem. Seit 1987 lebt sie als freie Autorin in Paris. Ihr erster Roman, »Die Bestandsaufnahme«, erschien 1995, dann 1997 »Aus einer schönen Welt«. Mit »So sind wir «(2005), einem Familienroman über die Geschichte der europäischen Juden, stand sie 2005 auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis. 2011 erschien ihr Roman »Woran denkst Du jetzt«, 2015 ihr hellsichtiger und vielgelobter Gesellschaftsroman »Die Schuld der anderen«, der wochenlang auf der Spiegel-Bestsellerliste stand, und Anfang 2016 ihr preisausgezeichneter Essay »Erschütterung«, in dem sie sich mit den Gründen und Folgen der Terrorattentate in Frankreich auseinandersetzt.

Gila Lustiger wurde 1963 in Frankfurt am Main geboren. Sie studierte Germanistik und Komparatistik an der Hebräischen Universität in Jerusalem. Seit 1987 lebt sie als freie Autorin in Paris. Ihr erster Roman »Die Bestandsaufnahme« erschien 1995, dann 1997 »Aus einer schönen Welt«. Mit »So sind wir «(2005), einem Familienroman über die Geschichte der europäischen Juden, stand sie 2005 auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis, zuletzt erschien ihr Roman »Woran denkst Du jetzt« (2011).



Ihre Fragen, Wünsche oder Anmerkungen
Vorname*
Nachname*
Ihre E-Mail-Adresse*
Kundennr.
Ihre Nachricht*
Lediglich mit * gekennzeichnete Felder sind Pflichtfelder.
Wenn Sie die im Kontaktformular eingegebenen Daten durch Klick auf den nachfolgenden Button übersenden, erklären Sie sich damit einverstanden, dass wir Ihr Angaben für die Beantwortung Ihrer Anfrage verwenden. Selbstverständlich werden Ihre Daten vertraulich behandelt und nicht an Dritte weitergegeben. Sie können der Verwendung Ihrer Daten jederzeit widersprechen. Das Datenhandling bei Sack Fachmedien erklären wir Ihnen in unserer Datenschutzerklärung.