Lustiger | So sind wir | E-Book | www.sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 272 Seiten

Lustiger So sind wir

Ein Familienroman
15001. Auflage 2015
ISBN: 978-3-8270-7859-9
Verlag: Berlin Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Ein Familienroman

E-Book, Deutsch, 272 Seiten

ISBN: 978-3-8270-7859-9
Verlag: Berlin Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Wie ist ein Leben nach dem Holocaust möglich? In »So sind wir« erzählt Gila Lustiger von Eltern, Großeltern und näheren Verwandten, dem eigenen Heranwachsen zwischen Deutschland und Israel und von ihrem Vater Arno Lustiger, dem Auschwitz-Überlebenden, der dennoch in Deutschland blieb. Mit unverkennbar ironischem Blick nähert sie sich über das Private und Intime der europäischen Geschichte, berichtet von den Gründungsmythen des Staates Israel und der Zeit der Unabhängigkeitserklärung. Virtuos gelingt ihr so aus dem Mikrokosmos ihrer Familie die Erzählung einer Geschichte der europäischen Juden.

Gila Lustiger wurde 1963 in Frankfurt am Main geboren. Sie studierte Germanistik und Komparatistik an der Hebräischen Universität in Jerusalem. Seit 1987 lebt sie als freie Autorin in Paris. Ihr erster Roman, »Die Bestandsaufnahme«, erschien 1995, dann 1997 »Aus einer schönen Welt«. Mit »So sind wir «(2005), einem Familienroman über die Geschichte der europäischen Juden, stand sie 2005 auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis. 2011 erschien ihr Roman »Woran denkst Du jetzt«, 2015 ihr hellsichtiger und vielgelobter Gesellschaftsroman »Die Schuld der anderen«, der wochenlang auf der Spiegel-Bestsellerliste stand, und Anfang 2016 ihr preisausgezeichneter Essay »Erschütterung«, in dem sie sich mit den Gründen und Folgen der Terrorattentate in Frankreich auseinandersetzt.
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2


Mein Vater konnte über seine Vergangenheit nicht reden, der zweite Knoten heißt daher Bücherregal. Er ist kein schmerzlicher, sondern ein wunderbarer, üppiger Knoten, und während ich ihn langsam und bedächtig löse, klopft mir das Herz bis zum Hals. Die Bibliotheken der Reichen und Gebildeten gehorchen den Gesetzen des Geschmacks. Die Bibliotheken der Armen sind nur mit Lebensnotwendigem gefüllt. So war es auch bei uns. Mein Vater hat die Schule nicht abschließen können. Er kam mit fünfzehn ins KZ. Was er sich nach dem Krieg an Büchern zusammengekauft hat, während er sich eine materielle Existenz aufbaute, war ihm Schule, Vater, Rat, Erziehung und Trost zugleich. Die Bibliothek meines Vaters, ja, man muss von Bibliothek reden, denn die Bücher nahmen in meiner frühen Kindheit eine Wand ein und später, als wir umzogen, wurde ihnen, zum Entsetzen unserer jugoslawischen Putzfrau, ein ganzes Zimmer überlassen, war nicht adrett und distinguiert, sondern ein unverschämter, in seiner Stillosigkeit geradezu stilvoller Haufen Wunderlichkeiten. Mein Vater hatte einen ganz persönlichen Sinn für das Passende. Vielleicht hat er sich auch nie darum geschert, was passte und was nicht, sondern immer nur gierig gelesen, was ihm unter die Finger kam und was er gerade benötigte. So stand neben dem »Lexikon des Kaufmanns« Kafkas »Schloss« und neben »Wir schneidern und nähen« von Emmi Schrupp und Christel Tusch Dostojewskis »Spieler«.

Ich habe mich immer gefragt, was Mademoiselle Blanches Mutter, diejenige, die sich von allen »Madame la Comtesse« nennen ließ, wohl gedacht hätte, wenn sie gewusst hätte, dass sie sich das Regal mit Fräulein Schrupp-Tusch teilte? Hätte sie verächtlich mit den Schultern gezuckt, sie, die selbst den genialen Alexej Iwanowitsch einen unbedeutenden Wicht von Hauslehrer nannte? Oder hätte sie keine Erregung gezeigt, weil es höchst aristokratisch ist, Gesindel nicht zu bemerken? Oder hätte sie, weil das umgekehrte Verhalten, nämlich Gesindel zu bemerken, manchmal nicht weniger aristokratisch ist, Emmi Schrupp und Christel Tusch gemustert, dies aber so getan, als nähme sie sie als eigentümliche Zerstreuung, gleichsam als Darbietung zum Gentlemansvergnügen? Sicherlich hätte Alexej Iwanowitsch, dem immer daran gelegen war, die beiden aufzuziehen, gesagt: »Es ist noch gar nicht heraus, was hässlicher ist: das russische wüste Wesen oder die deutsche Fähigkeit, mit ehrlicher Arbeit Geld anzuhäufen.«

Und sicherlich hätte der General ausgerufen: »Was für ein wüster Gedanke!«

Wild ging es bei uns zu. Wenn auch nur thematisch. Geputzt und aufgeräumt wurde täglich. Aus Ordnungsliebe wurden die Bücher nach Größe und Farbe hübsch arrangiert. Sehr zur Verzweiflung meines Vaters, der für solche Bagatellen wie geometrische oder farbliche Harmonien nicht zu erwärmen war. Oft hörte ich ihn meckern. Half aber nichts. Die Putzfrau tat verbissen und herzlos ihre Pflicht. So hat er sich wohl notgedrungen mit der Idee versöhnen müssen, dass er auch in Bezug auf die Bücher nicht immer fand, was er suchte. (Oder aber er fand, was er nicht suchte, und gab sich zufrieden.) Wie dem auch es sei, das steht fest: Die Bibliothek meines Vaters war eine Kreuzfahrt durch den guten und den schlechten Geschmack. Kein müßiges Umherschlendern, sondern Tumult. Und gerade weil plumper Schund sie umgaben, leuchteten die Schätze der abendländischen Kultur umso prächtiger. Nirgends wieder habe ich Bücher so funkeln sehen wie in seiner Bibliothek. Mein Vater hat nie mit gezierter Unterwürfigkeit dem guten Geschmack gehuldigt, denn er wusste: Nichts ist geschmackloser als der gute Geschmack, im wahrsten Sinne des Wortes geschmacklos, weil ohne die saftige Würze des Banalen.

Mein Vater hat nie bemerkt, dass in seiner Bibliothek ein Spitzel hauste, und zwar von zwei bis fünf Uhr nachmittags unter seinem Arbeitstisch. Montags, dienstags, donnerstags, freitags hockte der Spitzel unterm Tisch. Mittwochs ging er in die Tanzschule und lernte erste, zweite, dritte, vierte und fünfte Position und prägte sich solide, anständig, aber ohne einen Funken Anmut das und das ein. Ich hatte zwar ein rosa Tutu und einen schlanken Körper, aber von Grazie keine Spur. Für grazile Mädchensauereien hatte ich nichts übrig, es war mir zu schad um die Zeit. Dennoch fehlte ich aus Pflichtbewusstsein am Mittwoch nie und schüttelte über mich selbst den Kopf, wenn ich mich zufällig im Spiegel erblickte: Mit Leidensmiene trippelte und hüpfte ich. Manchmal im Takt, manchmal den anderen um einige Takte voraus. Wollen wir es an die große Glocke hängen: Meine Tanzbemühungen waren eine wüste Beschimpfung der Kunst. Die Mutter wusste es. Das Kind ebenfalls. Die Ballettlehrerin ganz bestimmt. Alle Versuche in dieser Richtung sollten zeitlebens erbarmungslos scheitern.

Die Bücher, die mich am meisten interessierten, waren die, an die ich nicht gelangen konnte. Sie standen im obersten Regal. Obwohl kein Verbotsschild vor ihnen angebracht war, spürte ich doch, dass mein Vater über dieses unerreichbare Regal den Bann verhängt hatte. Vielleicht war es ja nur kindliche Neugierde, die mich verstohlen und gespannt auf die obere Bücherreihe lugen ließ. Oder aber ich gehorchte dem Gebot, welches besagt, dass dort, wo unüberwindbare Schwierigkeiten anzutreffen sind, auch große Lust zu finden ist.

Die Bücher waren bergan, stromauf, himmelhoch, ein Aufwärtshaken: Wie es euch gefällt. Wir Kinder hätten uns nur mit Hilfe eines Stuhls und auf den Zehenspitzen stehend zu ihnen hinaufkämpfen können. Ich weiß auch nicht warum, obwohl ich sie lesen wollte, hab ich mich lange Zeit nicht getraut, einen jener hohen Mahagonistühle aus dem Esszimmer zu holen. Keiner hätte es bemerkt, dennoch wagte ich es nicht.

Oft schaute ich von meinem Platz unterm Schreibtisch zu diesen Büchern empor, dann durch die geöffneten Türflügel des Esszimmers auf einen der läppischen Stühle, die mein Sesam-öffne-dich zu einer, wie mir schien, wonnevollen, unerhörten Zukunft waren. Das ging einige Monate gut. Dann hielt ich es nicht mehr aus. An einem Samstag … Ich habe den Samstag noch gut im Kopf. Oder aber einen anderen Samstag, der ihm gleicht. Alle Samstage hatten müßige, dürre Träume und Uhrzeiger, die vor Langeweile nur langsam vorankrochen. Manchmal hatten Samstage auch den fettigen, zwiebligen Geruch von Frikadellen, für die meine Mutter, in einem plötzlichen Anflug von Hausfraulichkeit, beschlossen hatte, ihre roten Fingernägel zu opfern.

Ich schob den Bürosessel meines Vaters heran, das alte, kränkliche, schwere Ding aus Leder und Eichenholz. Einen Augenblick Zögern, dann sprang ich leichtfüßig hinauf. Mein Herz fing an zu hämmern. Die heiß ersehnten Lieblinge waren nur einige Zentimeter von mir entfernt. Ich spürte die Hitze ihres Inhalts. Sie drang durch die Umschläge aus Karton. Ich hörte die Bücher atmen. Sie atmeten unregelmäßig und schnell. Beharrlich krochen meine Finger auf sie zu. Ich berührte ein Buch, zog es aus dem Regal und … zu spät! »Gila.« Ich wurde gerufen, schreckte auf, stellte hastig alles an seinen Platz. »Gila«, hörte ich erneut, und ich trottete missmutig der Stimme entgegen, während Bücher, Stühle, Teppich, Schreibtisch, einfach alles mich verspottete.

Im Kinderzimmer wartete man schon auf mich. Ich wurde wie üblich als Publikum benötigt. Das Schauspiel hieß »Bestrafung der Schwester«. Meine Schwester stand an der Tür, doch es gab kein Entweichen. Staatsanwalt und Richter, verkörpert von einem Kindermädchen in Schottenrock, versperrten den Weg. Ich wechselte mit der Angeklagten heimlich Blicke. Einen Blick – mach dir nichts draus. Einen Blick – warum hilfst du mir nicht. Einen Blick – ist doch bald vorbei. Einen Blick – feiges Aas. Einen Blick – fang ja nicht wieder an zu heulen.

Das Kindermädchen machte eine Szene. Zwar nicht so groß wie die Szenen der Mutter, aber groß genug, um sie machtvoll erscheinen zu lassen. Sie wuchs mit jedem Wort. »Hier«, sagte sie »und hier und hier. Hier haben wir es wieder einmal. Und was hast du zu deiner Verteidigung zu sagen?«

Sie legte alle Beweisstücke, die ihr Besen unter dem Bett hervorgefegt hatte, auf den Tisch. Meine Schwester sagte nichts, blickte nur auf die Papierknäulchen in allen Schattierungen und Farben: Rosa, wie das Fleisch eines Lachses, sämiges Braun, Altweiberviolett und ein ganz zartes Kückengelb. Wie traurig sie dreinschaute – ein Häufchen Elend. Aber dann, als hätte sich das Rad ihrer Gefühle gedreht, huschte ein kleines, trotziges Lächeln über ihr Gesicht. Meine Schwester wandte den Kopf ab und lächelte, dann schaute sie wieder schuldbewusst auf den Boden.

»Wie oft hab ich dir schon gesagt, dass du zwischen den Mahlzeiten nicht naschen darfst?« Meine Schwester zuckte mit den Achseln. »Verstehst du denn nicht, dass wir nur dein Bestes wollen? Glaubst du, das macht uns Spaß?«

Ich sah schon eine Träne am Unterlid. Noch wagte sie sich nicht hervor. Aber gleich … nach einem weiteren Wort … einem jener harmlosen Wörter, die verletzen: zu dick, Pummel … würden sich die Tränen den Weg zu ihren vollen Backen ertrotzen, um sie zu erleichtern und zu besänftigen. Und sie würde behaglich in ihrer Trauer verweilen, es war ein angenehmes, ein gutes Gefühl, ein Gefühl, das sie für den eben gerade erhaltenen Nasenstüber und die Demütigung entschädigen würde, und sie würde zehn, fünfzehn, zwanzig Minuten da sitzen und weinen und sich von dem gewohnten Klang ihres unterdrückten Schluchzens einlullen lassen und eine geheime Genugtuung und Mattigkeit dabei...


Lustiger, Gila
Gila Lustiger wurde 1963 in Frankfurt am Main geboren. Sie studierte Germanistik und Komparatistik an der Hebräischen Universität in Jerusalem. Seit 1987 lebt sie als freie Autorin in Paris. Ihr erster Roman, »Die Bestandsaufnahme«, erschien 1995, dann 1997 »Aus einer schönen Welt«. Mit »So sind wir «(2005), einem Familienroman über die Geschichte der europäischen Juden, stand sie 2005 auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis. 2011 erschien ihr Roman »Woran denkst Du jetzt«, 2015 ihr hellsichtiger und vielgelobter Gesellschaftsroman »Die Schuld der anderen«, der wochenlang auf der Spiegel-Bestsellerliste stand, und Anfang 2016 ihr preisausgezeichneter Essay »Erschütterung«, in dem sie sich mit den Gründen und Folgen der Terrorattentate in Frankreich auseinandersetzt.



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