Lustiger | Woran denkst du jetzt | E-Book | www.sack.de
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E-Book, Deutsch, 288 Seiten

Lustiger Woran denkst du jetzt


12001. Auflage 2012
ISBN: 978-3-8270-7527-7
Verlag: Berlin Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, 288 Seiten

ISBN: 978-3-8270-7527-7
Verlag: Berlin Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Die Geschichte beginnt mit ihrem Ende. Onkel Paul war lange krank gewesen, sein Tod war keine Überraschung, und doch ist da erst mal Stille, Wut und Ratlosigkeit. Belangloses, Erinnerungen und Alltägliches mischen sich in das Gespräch der Schwestern. Aufgewühlt von der Trauer, für die sie noch keine Worte haben, erzählen sich Lisa und Tanja von Onkel Paul. Er war an die Stelle des Vaters getreten, als sich die Eltern scheiden ließen.Er übernahm die Rolle der Mutter, als sie sich nach der Trennung nicht um die heranwachsenden Töchter kümmern konnte. Heute ist Tanja eine erfolgreiche Wirtschaftsexpertin, hat Familie, einen soliden Mann und eine niedliche Tochter. Lisas Schauspielerkarriere ist zwar gescheitert, doch sie hat sich ein Leben als Therapeutin aufgebaut. Paul, selbst ein Mann der Kunst, des guten Geschmacks, hatte sich mehr gewünscht, denn seine beiden Nichten sollten alles werden, nur nicht gewöhnlich. Die Trauer macht uns erst sprachlos, dann empfänglich für das, was wir nicht wahrhaben wollen, und gibt uns schließlich eine Sprache für die eigene Geschichte zurück. Diesen Moment nutzt Gila Lustiger in ihrem neuen Roman, entlarvt die Gewissheiten und falschen Wahrheiten, um dorthin zu gelangen, wo auch Trost wieder möglich ist. Mit leichter Hand gelingt es ihr, ein Kammerspiel über den Tod zu schreiben und dabei über das Leben zu reden. Gila Lustiger ist eine kraftvolle und kompromisslose Erzählerin, der wir gern in diese Nacht der Trauer folgen, behält sie sich doch vor, auch das Komische im Allzumenschlichen zu sehen.

Gila Lustiger wurde 1963 in Frankfurt am Main geboren. Sie studierte Germanistik und Komparatistik an der Hebräischen Universität in Jerusalem. Seit 1987 lebt sie als freie Autorin in Paris. Ihr erster Roman, »Die Bestandsaufnahme«, erschien 1995, dann 1997 »Aus einer schönen Welt«. Mit »So sind wir «(2005), einem Familienroman über die Geschichte der europäischen Juden, stand sie 2005 auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis. 2011 erschien ihr Roman »Woran denkst Du jetzt«, 2015 ihr hellsichtiger und vielgelobter Gesellschaftsroman »Die Schuld der anderen«, der wochenlang auf der Spiegel-Bestsellerliste stand, und Anfang 2016 ihr preisausgezeichneter Essay »Erschütterung«, in dem sie sich mit den Gründen und Folgen der Terrorattentate in Frankreich auseinandersetzt.
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LISA

ALLES WIE GEWOHNT. Der Gedanke rettete Lisa in dieser Nacht. Alles ging irgendwie weiter, ohne sich äußerlich verändert zu haben. Wenn jemand in die Küche kommen würde, so würde er sie so dasitzen sehen wie alle Abende zuvor. Er würde nicht wissen, dass sie diesmal nicht auf ihren Onkel aufpasste, sondern auf ihre Schwester Tanja wartete, die im ersten Stock versuchte, ihre Mutter zu trösten. Er würde sie nur wieder auf ihrem gewohnten Platz im Korbsessel thronen sehen, den sie an die Wand neben das Fenster geschoben hatte. Zur Rechten überblickte sie die Küche. Geradeaus lag dunkel und verschwommen der Flur, schräg hinter ihr erstreckte sich der Garten, in dem sich ein verfrühter Frühling schon zu regen begann. Es war die letzten Tage ungewöhnlich warm gewesen, und die zwei Hortensienbüsche an der Mauer, die auf eine kleine Einfahrt führte, fingen schon an, vorsichtig ihre Knospen zu öffnen und einen zarten, blauen Flaum zu entfalten. Er würde sie also so dasitzen sehen, mit dem Frühling und einem nun fast dunklen Himmel im Rücken, mit einer Tasse Tee auf den Knien. Und wie all die Tage zuvor lief der Fernseher, den sie vor ein paar Monaten vom Wohnzimmer in die Küche getragen hatten, ohne Ton. Lisa schaute zum Bildschirm hinüber, schaute gar nicht richtig hin, nippte an ihrem Tee und folgte geistesabwesend den Bildern. Es war ein Dokumentarfilm über Jazz, vielleicht auch ein Film über New York oder über die Sechziger, so sicher war sich Lisa nicht. Sie hatte ein Geschick dafür entwickelt, sich von dem Sinn nicht behelligen zu lassen, und dass sie nach einer guten halben Stunde immer noch nicht herausgefunden hatte, worum es eigentlich ging, bereitete ihr Vergnügen.

Seit ihr Onkel krank geworden war, hatte sie das Interesse am Weltgeschehen verloren. Sie, Lisa Bergmann, die fleißige Onlinepetition-Unterschreiberin, die ihre Stimme regelmäßig gegen Hunger und Armut, Neonazi-Kundgebung, zu hohe Studiengebühren oder genmanipuliertes Speiseöl erhob, die, soweit sie zurückdenken konnte, wütend durchs Leben ging, brachte nun weder die nötige Geduld, noch die erforderliche Anteilnahme auf, um sich von den vielen Schreckensbildern erschüttern zu lassen. Genau genommen sah sie gar nicht mehr richtig hin, wenn sie in der Küche sitzend den Fernseher anschaltete und sich wahllos Filme, Nachrichten oder irgendwelche schwachsinnigen Unterhaltungssendungen reinzog, um nicht einzuschlafen. Der Trubel da draußen interessierte sie nicht. Die Verstrickungen, Hintergrundinformationen, die nötig gewesen wären, um aus all den flimmernden Formen etwas Zusammenhängendes, Kohärentes zu machen, etwas, was auch sie anging und bewegte, all das erschöpfte sie schon im Voraus. Was da draußen geschah, hatte nichts mit der Situation im Haus zu tun. Nichts mit dieser kleinen, ganz und gar durchorganisierten Welt. Nichts mit der Stille, die sie besonders abends umgab und die eine feste, zähe Konsistenz hatte. Und natürlich hatte es nichts mit der Krankheit ihres Onkels zu tun und daher auch nichts mit ihrer Mutter, mit Tanja und mit ihr. Sie ließ sich von den Bildern einlullen, thronte auf ihrem Platz, nippte an ihrer Kräuterteemischung und dachte an Onkel Paul.

Er war gestorben, wie er es sich gewünscht hatte – in seinem Haus. Zwar nicht in seinem ehemaligen Zimmer im ersten Stock, aber doch in dem Haus, in dem er aufgewachsen war.

»Bring mich heim«, hatte er im Krankenhaus ihre Mutter gebeten und damit nicht die Wohnung gemeint, in der er seit vierunddreißig Jahren mit Anne, seiner Frau, zusammenlebte, sondern das Haus. Er hatte diesen Entschluss in einer schmerzfreien Stunde gefasst, hatte er ihnen später im Auto erklärt, als er aufstehen, sich waschen und zur Toilette hatte gehen können. Und in Ruhe darüber hatte nachdenken können, was er wirklich wollte. Nicht, was sie alle, die Ärzte, die Pfleger und die Familie, für sein Bestes hielten, sondern was er, Paul Bergmann, als Nächstes zu tun gedachte. Er hatte also entschieden, in sein Elternhaus zurückzukehren, und diese Resolution sogleich in die Tat umgesetzt, hatte sich rasiert und sein grünes Krankenhausnachthemd gegen den mittlerweile zu weit gewordenen dunklen Anzug getauscht, hatte gepackt, sich angezogen ins Bett gelegt und auf ihre Mutter gewartet. Und als sie dann ins Zimmer gekommen waren, hatte er nur kurz die Augen geöffnet und seine Schwester anvisiert.

»Bring mich heim«, hatte er gesagt, die Ruhe selbst, dann die Augen wieder geschlossen.

Sie hatte ungläubig auf ihren Onkel gestarrt, auf ihre Mutter, den roten Trolley, den er am Fußende des Bettes so platziert hatte, dass er leicht hinausgerollt werden konnte. Auf die durchsichtige Tragetasche mit seinem aufblasbaren blauen Nackenkissen, seinem Transistorradio, seinem Reisewecker, seinen Hausschuhen und den Büchern. Alles stand zur Abreise bereit. Ordentlich zusammengepackt. Widerrede zwecklos.

Natürlich hatte ihre Mutter dennoch versucht, es ihm auszureden. Sein Heim – ihr Haus? Seit wann, bitte schön? Und was mit seiner Frau sei? Seinen Freunden? Seinen Nachbarn? All den Menschen, die ihn ein Leben lang begleitet haben? Und was mit all dem sei, was er sich aufgebaut, erstanden und gesammelt habe? Seine französischen Weine im Keller? Seine Kunstdrucke an den Wänden? Seine maßgeschneiderten Hemden und Anzüge im Schrank? Sollte das alles plötzlich bedeutungslos geworden sein? Ihre Mutter hatte ihn beschworen. Er könne vierunddreißig Jahre Ehe nicht einfach so auslöschen, aus einer Laune heraus seine Frau verleugnen. Mehr als ein Vierteljahrhundert, mein Gott. Merke er nicht, was er Anne antue? Selbstredend hatte auch Lisa etwas zur Diskussion beigesteuert. Jeder wolle irgendwann einmal in die Kindheit zurück, hatte sie mit ihrer ruhigen Therapeutinnenstimme gesagt. Dies sei jedoch nichts anderes als ein regressiver Wunsch. Ja, gut, das würde sie ihm gerne zugestehen, ein verständlicher Wunsch, aber leider nicht zu erfüllen.

Er hatte gar nicht einmal versucht, sie beide zu unterbrechen, hatte sich alle ausgefeilten Argumente, die sie abwechselnd ins Feld geführt hatten, einfach nur angehört. Ohne ein Wort zu sagen. Ohne die Miene zu verziehen. Ohne vor allen Dingen etwas zu erklären. Aber er erklärte ja nie etwas. Natürlich wusste er, was er seiner Frau antat, und natürlich war es ihm egal. Einsilbig, ruhig hatte er ihre Mutter taxiert. Ein Blick, mehr war nicht nötig gewesen, um ihr klarzumachen, wer trotz der Krankheit immer noch das Sagen hatte. Er hatte also wieder einmal gesiegt und seinen Willen durchgesetzt, trotz all der triftigen Gründe, die sie beide gefunden hatten und die er beschlossen hatte einfach zu ignorieren.

»Vergiss die Tasche mit der Nackenrolle nicht, gut, Schatz?«, hatte er sie gebeten, als sie schon in der Tür standen.

Das war seine Antwort auf all das gewesen, was sie vorgebracht hatten. Sie hatten über Takt gefaselt, Anstand, seine Frau, seine Freunde, Zugehörigkeit, und er hatte mit seiner Nackenrolle gekontert, ohne die er schlecht schlafen könne.

Er war also in das Haus seiner Schwester gezogen, in das Haus, in dem er und seine Schwester aufgewachsen waren. Das er – nicht sie – nach dem Tod ihrer Eltern geerbt hatte. Das er seiner Schwester nach ihrer Scheidung überlassen hatte, als sie plötzlich mit zwei kleinen Töchtern auf der Straße stand. Ohne mit der Wimper zu zucken hatte er damals den Mietern gekündigt und sich um eine kleine, adrette Summe gebracht, hatte das Haus für sie renoviert und ihnen beim Umzug geholfen. Er war also in das Haus gezogen, das er seiner Schwester nach seinem eigenen Tod zu vermachen gedachte. Nicht zu seiner Frau Anne. Nicht in ein Hospiz, in das die Ärzte vorgeschlagen hatten ihn einzuweisen. In sein Haus. Dahin, wo er seines Erachtens hingehörte – Anstand hin, Anstand her –, um da zu sterben, wo er zur Welt gekommen war.

Es hatte nur einen einzigen Tag benötigt, um das Haus zu verwandeln. Es zu konfiszieren und ihre eigenen Erinnerungen daraus auszuradieren. Ihre Jugend, die ihrer Schwester Tanja, kaum hatte sich ihr Onkel niedergelassen, existierte das alles nicht mehr. Selbst die Zimmer wurden umgestaltet. Das Wohnzimmer wurde sein Krankenzimmer, die Küche der Aufenthaltsraum, der Flur mit all seinen Stöcken, Krücken, Gehhilfen eine Art Abstellkammer. Er und seine Krankheit hatten jeden Quadratmeter des Hauses beschlagnahmt. Davor war seine Krankheit etwas Abstraktes gewesen. Etwas, was man wegschieben konnte. Höchstens etwas, was von einem Bataillon weiß bekittelter Spezialisten für sie im Zaum gehalten wurde. Die Krankheit gehörte den Ärzten. Jedem seine Domäne. Sie hatten über die Krankheit diskutiert, das schon. Vor allen Dingen Anne und ihre Mutter hatten oft darüber gestritten, wie die Krankheit einzudämmen, zu beschränken sei, welche Therapie ihn, wenn auch nicht retten, so doch so lange wie nur möglich schmerzfrei am Leben halten könne. Aber was bedeutete schmerzfrei? Wer entschied, welche Schmerzen, und seien sie noch so klein, zu ertragen seien? Und warum sollte er Schmerzen nicht als Herausforderung nehmen? Sie waren unentwegt aneinandergeraten, während Tanja zwischen den beiden Frauen zu moderieren versucht und sie, Lisa, gegoogelt, grünen Tee getrunken und Informationen über die Bauchspeicheldrüse gesammelt hatte. Nächtelang hatte sie jenem kleinen, zuvor ignorierten, nun befallenen Organ, das hinter dem Magen eingebettet lag, ihre ganze Aufmerksamkeit geschenkt. Hatte Fachausdrücke mit gelbem Textmarker unterstrichen, um vor dem Chefarzt und seinem Schweif an Ober-, Stations- und Assistenzärzten nicht als Trottel dazustehen, um...


Lustiger, Gila
Gila Lustiger wurde 1963 in Frankfurt am Main geboren. Sie studierte Germanistik und Komparatistik an der Hebräischen Universität in Jerusalem. Seit 1987 lebt sie als freie Autorin in Paris. Ihr erster Roman, »Die Bestandsaufnahme«, erschien 1995, dann 1997 »Aus einer schönen Welt«. Mit »So sind wir «(2005), einem Familienroman über die Geschichte der europäischen Juden, stand sie 2005 auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis. 2011 erschien ihr Roman »Woran denkst Du jetzt«, 2015 ihr hellsichtiger und vielgelobter Gesellschaftsroman »Die Schuld der anderen«, der wochenlang auf der Spiegel-Bestsellerliste stand, und Anfang 2016 ihr preisausgezeichneter Essay »Erschütterung«, in dem sie sich mit den Gründen und Folgen der Terrorattentate in Frankreich auseinandersetzt.



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