E-Book, Deutsch, 152 Seiten
Machfus Der Dieb und die Hunde
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-293-30572-4
Verlag: Unionsverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 152 Seiten
ISBN: 978-3-293-30572-4
Verlag: Unionsverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Nagib Machfus, geboren 1911 in Kairo, gehört zu den bedeutendsten Autoren der Gegenwart und gilt als der eigentliche »Vater des ägyptischen Romans«. Sein Lebenswerk umfasst mehr als vierzig Romane, Kurzgeschichten und Novellen. 1988 erhielt er als bisher einziger arabischer Autor den Nobelpreis für Literatur. Nagib Machfus starb 2006 im Alter von 94 Jahren in Kairo.
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1
Wieder und wieder zog er tief den Geruch von Freiheit ein, wenn auch die Luft voller Staub und unerträglicher Hitze war.
Außer seinem blauen Anzug und den Tennisschuhen wartete nichts auf ihn. Das schwere Gefängnistor verschloss alle beklagenswerten Geheimnisse, die Welt begann von Neuem.
Sonnenträge Gassen, rasende Autos, hastende und wartende Menschen, Häuser, Geschäfte. Nirgendwo auch nur der Hauch von einem Lächeln. Nur er allein hatte alles verloren, vom kostbaren Leben waren vier Jahre dahin, weil er verraten worden war. Aber schon bald würde er als Ankläger vor ihnen stehen.
Denn nun war die Zeit der Abrechnung gekommen. Wie eine lodernde Flamme würde er sie vernichten. Todesangst sollte sie in Verzweiflung stürzen und sie den Treuebruch verfluchen lassen.
Nabawija Alisch. Wieso werden die zwei Namen zu einem? Ihr hattet eure Rechnung gemacht und nicht daran gedacht, dass sich das Gefängnistor jemals wieder öffnen würde. Aber so vorsichtig ihr auch seid, ich werde euch nicht in die Falle gehen, sondern wie das allmächtige Schicksal über euch hereinbrechen.
Und Sina? Was wäre, wenn man ihr reines Gemüt mit Gift und Hass verseucht hatte? Sehnsucht nach ihr stieg in ihm auf wie die nach einem erfrischenden Regenguss. Was wird die Kleine noch von ihrem Vater wissen? Nichts, alles läuft davon, wie die Straße, die hastenden Menschen.
Vier Jahre lang hatte er immer wieder an sie gedacht, aber je älter sie wurde, desto undeutlicher wurde ihr Bild. Würden sie beide ein Heim haben, in dem sie voller Liebe zusammenleben konnten, wo er die Freude des Siegers auskosten würde und die Erinnerung an den Verrat dahinschwände?
Mit aller List musst du vorgehen, damit die Strafe so hart wird, wie deine Geduld lang war, als du hinter den Mauern gesessen hast. Ich werde euch heimsuchen, untertauchend wie der Fisch im Wasser, herabstürzend wie der Habicht, mauererklimmend wie die Ratte und Türen durchdringend wie die Geschosskugel!
Was meinst du wohl, auf welche Weise es dich treffen wird? Wie werden wir uns begegnen? Hast du, Alisch, vergessen, dass du in den Kneipen herumgeschlichen bist wie ein Hund? Habe ich dir nicht erst beigebracht, wie man auf zwei Beinen steht? Wer hat denn aus dem ehemaligen Kippensammler einen Mann gemacht? Nicht nur du, Alisch, hast alles vergessen. Sie auch. Diese Frau, heimisch geworden im stinkenden Morast, dessen Name Verrat ist. Außer deinem Gesicht, meine Sina, gibt es in all diesem Dreck nichts Schönes. Schon bald werde ich dich sehen und die Freude voll auskosten.
Da war die Straße mit den dunklen Bogen, die Gasse der nichtssagenden Zerstreuungen, Glanz vorspiegelnd, ohne wirklich zu glänzen. Wie ich das alles hasse!
Die Bars waren schon geschlossen, es gab nichts mehr außer ränkeschmiedenden Huren. Wie in Schnappfallen blieben die Füße in den tiefen Löchern des Gehwegs hängen. Das Rattern der Straßenbahnräder klang wie Spott, Rufe stiegen auf, es war, als kämen sie aus den verrotteten Gemüseresten, die überall verstreut waren.
Wie ich das hasse! Die Häuser scheinen verlockend leer zu sein, finstere, riesige Wände. War dies nicht die seltsame Gasse der Geldwechsler? Dumpfe Erinnerung daran, dass hier der Dieb bestohlen worden war.
Im Nu überkam ihn alles wieder – schändlicher Verrat! Genau in dieser Gasse war es doch, wo sie begonnen hatten, ihn zu erdrücken wie Schlangen das unachtsame Opfer. Und genau ein Jahr zuvor war sie aus ebendieser Gasse gekommen, in der einen Hand das Mehl für den Festkuchen, in der anderen Sina. Sie hatte sie getragen wie ein Bündel. Was waren das doch für wunderbare Tage gewesen, voller Aufrichtigkeit und Offenheit. Das neue Gefühl der Vaterschaft, das Fest, die Liebe – unvergessliche Eindrücke …
Da waren die hoch aufragenden Moscheen, die Spitze der Qal’a hob sich vom klaren Himmel ab, die Straße mündete auf den Platz. Das Grün der Gärten leuchtete unter den sengenden Strahlen, und trotz der Sommerhitze stieg ein frischer Duft auf. Da war der Qal’a-Platz mit all seinen schmerzlich brennenden Erinnerungen. Ausgebreitet in der Sonne, sah er aus, als ob er sich wohl fühlte, als wäre er mit kaltem Wasser bedeckt. Alles war so friedfertig und vertraut wie eh und je.
Er überquerte den Platz in Richtung Imam-Straße und näherte sich dem dreistöckigen Haus am Ende der Straße, die sich hier in zwei Gassen teilte. Bei diesem harmlosen Besuch würde er seinen Feind treffen, auf diese Begegnung hatte er sich gründlich vorbereitet. Hier sollte es sein, wo er alles bestens kannte, hier bei den kleinen Läden, aus denen wie ängstliche Mäuse Gesichter hervorlugten.
Da hörte er hinter sich rufen: »Said Muhran, tausendfach gesegneter Tag!«
Er blieb stehen und wartete auf den Mann. Sie schüttelten sich die Hände, die freudige Erregung mit einem schwachen Lächeln verdeckend. Es blieb abzuwarten, was hinter dieser freundlichen Begrüßung steckte, vielleicht hatte der Schurke Helfer gefunden, und er, Alisch, schaute ihnen nun durch die Fensterläden zu, furchtsam und neugierig wie ein Weib.
»Ich danke dir, Meister Bajaza.«
Aus den Läden traten viele Leute und umringten ihn. Eine Woge von Glückwünschen und Grußworten wallte auf, im Nu war er von allen Seiten eingeschlossen. Ganz sicher waren sie alle Freunde seines Widersachers.
Die Stimmen wetteiferten: »Allah sei Lob und Dank, dass du gesund bist!«
»Welcher Segen für die Freunde und Lieben!«
»Aus ganzem Herzen hatten wir uns gewünscht, dass du am Tag der Revolution entlassen wirst!«
Mit seinen honigbraunen, mandelförmigen Augen musterte Said sie eindringlich und sagte schließlich: »Ich danke Allah und euch allen.«
Bajaza legte ihm die Hand auf die Schulter und bat ihn: »Komm herein, lass uns etwas trinken.«
Ruhig antwortete er: »Nachher, wenn ich zurückkomme.«
»Wenn du zurückkommst?«
Einer der Männer schrie zum zweiten Stock des Hauses hinauf: »Meister Alisch, he! Meister Alisch, komm runter und begrüße Said Muhran!«
Nicht nötig, ihn zu warnen, ihr Mistkäfer. Ich komme doch am hellen Tag und weiß, dass ihr schon auf der Lauer gelegen habt.
Bajaza fragte ihn nochmals: »Wann willst du zurückkommen?«
»Wenn ich die Rechnung beglichen habe.«
Verstört fragte er: »Mit wem?«
»Habt ihr denn wirklich vergessen, dass ich Vater bin, dass meine Tochter bei Alisch ist?«
»Na ja doch, aber jeder Streit lässt sich durch das Gesetz regeln.«
Ein anderer fügte hinzu: »Wenn man sich untereinander einigt, ist es besser.«
Und ein Dritter sagte versöhnlich: »Said, du kommst aus dem Gefängnis. Der Klügere ist der, der einen Rat annimmt.«
»Wer hat denn gesagt, dass ich mich nicht aussöhnen will?« Im zweiten Stock wurde das Fenster geöffnet, und Alisch zeigte sich. Erwartungsvoll schauten alle hinauf. Aber bevor noch ein einziges Wort fiel, trat aus dem Haus ein großer, breitschultriger Mann in einem gestreiften Gewand und mit den Schuhen eines Beamten. Said erkannte den Spitzel Hasballah. Verwirrt sagte er: »Kein Grund zur Beunruhigung, ich bin gekommen, um mich auszusöhnen.«
Der Spitzel trat rasch an ihn heran und tastete argwöhnisch seine Brust- und Hüfttaschen ab. All das ging ihm flink und geschickt von der Hand und verriet seine Erfahrung in solchen Dingen.
»Halt den Mund, du Sohn eines Fuchses. Was willst du hier?«
»Ich will mich über die Zukunft meiner Tochter verständigen.«
»Du und verständigen?«
»Ja, mir geht es nur um meine Tochter.«
»Dann geh doch zum Gericht!«
»Dahin werde ich mich nur in allerhöchster Not wenden.«
Alisch rief von oben: »Lass ihn doch herauf! Kommt alle mit!«
Sammle nur alle um dich, du Feigling, denn ich bin gekommen, die Festung, in der du dich verschanzt, auszukundschaften. Wenn deine Zeit gekommen ist, werden dich weder Spitzel noch Mauern schützen …
Sie traten alle in das Empfangszimmer und verteilten sich auf Sofa und Sessel. Die Fenster wurden geöffnet, Licht und Fliegen kamen herein. Die Zimmerdecke war schwarzbefleckt, als trüge sie die Spuren eines Brandes. Aus einem großen Bild, mit beiden Händen auf einen dicken Stock gestützt, blickte Alisch von der Wand herab.
Der Spitzel saß neben Said und spielte mit den Perlen eines Gebetskranzes. In einem silbernen Gewand, das über dem fassartigen Leib offen stand, trat Alisch ein. Er hob das runde Gesicht, man sah das fette Fleisch unter dem viereckigen Kinn und die dicke, verknorpelte Nase. Gelassenheit demonstrierend, schüttelte er Said die Hände: »Allah sei Dank für dein Wohlergehen.«
Die eintretende Stille verschärfte spürbar die Spannung, alle sahen sich beunruhigt um. Als wollte er einen neuen Anfang wagen, sagte Alisch: »Was vorbei ist, ist vorbei. Jeden Tag geschieht so etwas, schreckliche Dinge, an denen Freundschaften zerbrechen. Aber nichts entehrt den Mann außer wirklicher Schande.«
Said beobachtete genau. Mit seinen glänzenden Augen und dem schlanken, kräftigen Körper sah er wie ein Tiger aus, der einem Elefanten...




