E-Book, Deutsch, 272 Seiten
Machfus Radubis
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-293-30586-1
Verlag: Unionsverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 272 Seiten
ISBN: 978-3-293-30586-1
Verlag: Unionsverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Nagib Machfus, geboren 1911 in Kairo, gehört zu den bedeutendsten Autoren der Gegenwart und gilt als der eigentliche »Vater des ägyptischen Romans«. Sein Lebenswerk umfasst mehr als vierzig Romane, Kurzgeschichten und Novellen. 1988 erhielt er als bisher einziger arabischer Autor den Nobelpreis für Literatur. Nagib Machfus starb 2006 im Alter von 94 Jahren in Kairo.
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Das Fest des Nils
Vor langer, langer Zeit, vor mehr als viertausend Jahren, kündete im Monat Baschans die zarte Morgenröte vom Anbruch eines neuen Tags. Der Hohe Priester im Tempel des Gottes Sothis schaute mit müden Augen gen Himmel – eine lange, schlaflose Nacht lag hinter ihm.
Dennoch wandte er den Blick nicht ab, und siehe da, plötzlich ward es ihm vergönnt, den glückverheißenden Sirius im Zenit zu entdecken. Vor übergroßer Freude begann sein Gesicht zu strahlen, und sein Herz klopfte. Von heißem Dank erfüllt, warf er sich nieder auf den geweihten Boden des Tempels und verkündete mit lauter Stimme, dass das Bild des Gottes Sothis am Himmel erschienen sei. Es war das Zeichen für die frohe Botschaft, dass der heilige Nil über die Ufer treten würde.
Die kräftige, volltönende Stimme des Hohen Priesters riss die Menschen aus dem Schlaf. Sie sprangen freudig auf, schauten gen Himmel, und als ihre Augen den heiligen Sirius entdeckten, liefen sie aus den Häusern und stimmten dankbaren Herzens in den hymnischen Gesang des Hohen Priesters ein. Ein jeder wollte dabei sein, wenn sich die Wellen des Nils, Boten des Glücks und des Segens, über das Ufer wagten. Durch die Stille Ägyptens hallte der Ruf des Hohen Priesters bis nach Süden wider: »Lasst uns das Fest des heiligen Nils feiern!« Da packten die Menschen ihre Bündel und zogen, ob arm oder reich, von Theben, Memphis, Harmunat, Suth und Chamunu in Richtung der Hauptstadt. Wagen preschten durchs Tal, und Boote durchpflügten die Fluten des Nils.
Zu jener Zeit war Abu die Hauptstadt Ägyptens. Ihre hoch aufragenden Bauten standen auf Platten aus Granit, und wo sich ehemals Sanddünen erstreckten, lag alles dank der Zauberkraft des Nilschlamms in fruchtbarem Grün da. Akazien, Maulbeerbäume, Zwerg- und Dattelpalmen spendeten Schatten, und auf den Feldern wuchsen Bohnen, Mohrrüben, Rettich, Rauke und Klee. Es gab Weingärten und Weideflächen, die von Kanälen bewässert wurden. Der Duft der Blumen erfüllte die reine Luft, und der Gesang der Nachtigallen stand in schönster Harmonie zum Jubilieren der Vogelscharen.
Nur noch wenige Tage, und die Stadt würde ebenso wie die beiden Inseln Biga und Bilak wegen der vielen Besucher überquellen. Die Häuser beherbergten so viele Gäste, wie es nur irgend ging, und auf den Plätzen drängten sich dicht an dicht die Zelte. In den Straßen gäbe es ein stetes Kommen und Gehen, und wo immer sich ein freies Plätzchen fände, führten Zauberer, Sänger und Tänzer ihre Kunst vor. Auf den Märkten ginge es hoch her, und die Häuser schmückten sich mit Fahnen und Ölzweigen. Die Menschen bestaunten die prächtigen Uniformen und langen Schwerter der königlichen Wache, die auf der Insel Bilak ihr Quartier hatte. Mengen von Gläubigen eilten mit Weih- und Opfergaben zum Tempel des Sothis und zum Nil, und in die hymnischen Gesänge mischte sich das Geschrei der Trunkenbolde. Überschäumende, ja zügellose Freude vertrieb den Ernst und die Würde, die der Hauptstadt Abu für gewöhnlich zu Eigen waren.
Endlich war der Tag des Fests gekommen. Für alle gab es nur ein Ziel: die lange Straße, die vom Palast des Pharaos zu dem Hügel führte, auf dem der Nil-Tempel stand. Die Luft heizte sich vom keuchenden Atem der Menschen auf, und der Boden hatte an der Last schwer zu tragen. Wer in dem Getümmel nicht vorankam, eilte ans Ufer, um sich mit einem Boot zum Hügel bringen zu lassen. Schon umkreisten die ersten Ankömmlinge den Hügel. Sie stimmten, begleitet von Flöten und Leiern, Gesänge zum Lob des Nils an oder tanzten im Rhythmus der Tamburine.
Soldaten mit funkelnden Lanzen säumten die Straße. In regelmäßigen Abständen waren lebensgroße Statuen von den Königen der sechsten Dynastie aufgestellt, die Vorväter des jetzigen Pharaos. Wer nah genug herankam, konnte sie alle sehen: Usarkara, Teti der Erste, Pepi der Erste, Muchtasawif der Erste und Pepi der Zweite.
Das brausende Stimmengewirr glich dem Tosen eines Meers, und so wie man beim Lärm des Meers den Aufschlag einer einzelnen Welle nicht ausmachen kann, war es auch hier schier unmöglich, einzelne Stimmen herauszuhören. Bisweilen aber vereinten sie sich, sodass sie das Getöse mit dem Ruf übertönten: »Lob und Preis sei Gott Sothis, der uns Gutes verkündet!« Oder sie riefen: »Gepriesen sei der heilige Nil, der unserem Boden Fruchtbarkeit und Leben beschert!« Aber gelegentlich ertönten auch Rufe, die, um der Ausgelassenheit und des Vergessens willen, nach Marjut-Wein und Abu-Met verlangten.
In all dem Wirrwarr fiel eine Gruppe von Menschen auf, die in ein ernsthaftes Gespräch vertieft war. Den Gesichtern war anzusehen, dass sie von nobler Gesinnung waren und in Wohlstand lebten. Einer von ihnen zog nachdenklich und ein wenig verwundert die Augenbrauen in die Höhe und sagte: »Wie viele Pharaonen haben nicht schon an diesem großen Tag auf die Masse des Volks geschaut. Doch sie sind alle dahingegangen, gerade so, als hätten sie nie die Blicke der Menschen auf sich gezogen und ihre Herzen mit Liebe erfüllt.«
»Ja, sie sind gegangen, wie auch wir alle gehen müssen, doch nun herrschen sie über eine Welt, die erhabener ist als diese. Nehmt nur einmal als Beispiel mein Amt, wie viele Menschen aus künftigen Generationen werden es noch besetzen? Und sie alle werden damit die gleichen Hoffnungen verknüpfen, die auch uns erfüllen. Wir wissen, dass es diese Menschen geben wird, wir reden über sie, aber wird auch nur einer von ihnen unsere Namen erwähnen?«
»Wir haben mehr verdient, als lediglich erwähnt zu werden … wenn es bloß den Tod nicht gäbe.«
»Wie stellst du dir das vor? Meinst du, das Niltal hätte Platz genug für alle, die gegangen sind und noch gehen werden? Nein, der Tod gehört zum Leben. Wozu nach Ewigkeit trachten? So wie wir essen, wenn wir hungrig sind, folgt auf die Jugend das Alter und auf Freuden Trübsal.«
»Aber wie mag das Leben im Reich von Osiris aussehen?«
»Warts ab, du wirst es früh genug erfahren.«
Einer der Männer sagte stolz: »Das ist das erste Mal, dass Gott mir die Gnade gewährt, den Pharao sehen zu dürfen.«
»Ich habe ihn schon einmal gesehen«, meinte ein anderer Mann. »Vor ein paar Monaten, genau hier, als die feierliche Zeremonie der Krönung stattfand.«
»Schaut euch nur einmal die Statuen seiner ruhmreichen Vorfahren an!«
»Er ähnelt seinem Großvater, Muchtasawif dem Ersten.«
»Was für ein schöner Mann!«
»O ja, er sieht prächtig aus, so rank und schlank, wie er gewachsen ist.«
»Was wird er uns wohl als Erbe hinterlassen? Tempel und Obelisken oder Eroberungen im Norden und im Süden?«
»Wenn mich meine Vermutung nicht täuscht, wird es wohl Letzteres sein.«
»Wieso?«
»Weil er Mut zeigt und tapfer ist.«
Einer der Männer wiegte zweifelnd den Kopf. »Er war schon früher recht eigensinnig, und auch jetzt als König lässt er sich von seinen Vorlieben treiben. Er ist verliebt in die Liebe und neigt zu Verschwendung und einem luxuriösen Leben. Wenn es um seine Interessen geht, fegt er wie ein wütender Sturm alles, was ihn stört, aus dem Weg.«
Ein Mann kicherte und sagte leise: »Was ist daran so verwunderlich? Die meisten Ägypter sind versessen auf die Liebe, und wenn sie nur könnten, würden sie gern einem verschwenderischen Leben frönen. Warum sollte der Pharao anders sein?«
»Pst, still! Du hast ja keine Ahnung, wovon du redest. Weißt du nicht, dass er seit dem ersten Tag seiner Herrschaft mit der Priesterschaft im Streit liegt? Er will vom Ertrag der Tempelliegenschaften Paläste bauen und Gärten anlegen, aber die Priester verlangen den vollen Anteil, der den Göttern und Tempeln zusteht. Seine Vorfahren haben der Priesterschaft zu Ansehen und Reichtum verholfen, und nun kommt so ein junger Bursche und neidet ihnen das.«
»Nun ja, dass der König seine Herrschaft mit einem Streit beginnt, ist wirklich sehr bedauerlich.«
»Genau, und vergiss nicht, dass der Ministerpräsident und Hohe Priester Chnumhotep ein unnachgiebiger Mann mit einem eisernen Willen ist. Und dann ist da noch der Hohe Priester von Memphis, der glorreichen Stadt, deren Stern unter der jetzt herrschenden Familie zu sinken beginnt.«
Angesichts dieser beunruhigenden Nachrichten, die er zum ersten Mal vernahm, schaute der Mann erschrocken seine Gefährten an. »Wenn es so ist, lasst uns die Götter bitten, den Mächtigen Geduld und Weisheit zu schenken und sie zu befähigen, die richtigen Entscheidungen zu treffen.«
»So geschehe es«, seufzten alle aus tiefstem Herzen.
Ein Mann in der Menge, der angestrengt in Richtung des Nils schaute, stieß plötzlich seinen Nachbarn mit dem Ellbogen an und sagte: »Siehst du das Boot, das von der Insel Biga kommt? Es strahlt und funkelt wie die Sonne, wenn sie im Osten aufgeht.«
Sein Freund reckte den Hals. Es war wirklich ein prächtiges Boot, nicht besonders groß, aber auch nicht gerade klein. Es war mit einem grünen Anstrich versehen, sodass es fast schien, als treibe eine grüne Insel auf das Ufer zu. Die offene Kajüte war ungewöhnlich hoch, aber das Boot war noch zu weit entfernt, um erkennen zu können, wer sich darin befand. Am Mast blähte der Wind ein riesiges Segel, und die Ruder, gehalten von unzähligen Händen, tauchten mit ruhiger Gleichmäßigkeit ins...




